3. Mein Selbstgenuß

Wir stehen an der Grenzscheide einer Periode. Die bisherige Welt sann auf nichts als auf Gewinn des Lebens, sorgte fürs – Leben. Denn ob alle Tätigkeit für das diesseitige oder für das jenseitige, für das zeitliche oder für das ewige Leben in Spannung gesetzt wird, ob man nach dem »täglichen Brote« lechzt (»Gib Uns unser täglich Brot«) oder nach dem »heiligen Brote« (»das rechte Brot vom Himmel«; »das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und der Welt das Leben gibt;«»das Brot des Lebens.« Joh. 6.), ob man ums »liebe Leben« sorgt oder um das »Leben in Ewigkeit«: das ändert den Zweck der Spannung und Sorge nicht, der im einen wie im andern Falle sich als das Leben ausweist. Kündigen sich die modernen Tendenzen anders an? Man will, daß Niemand mehr um die nötigsten Lebensbedürfnisse in Verlegenheit komme, sondern sich darin gesichert finde, und anderseits lehrt man, daß der Mensch sich ums Diesseits zu bekümmern und in die wirkliche Welt einzuleben habe, ohn eitle Sorge um ein Jenseits.

Fassen Wir dieselbe Sache von einer andern Seite auf. Wer nur besorgt ist, daß er lebe, vergißt über diese Ängstlichkeit leicht den Genuß des Lebens. Ist's ihm nur ums Leben zu tun und denkt er, wenn Ich nur das liebe Leben habe, so verwendet er nicht seine volle Kraft darauf, das Leben zu nutzen, d. h. zu genießen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem man's verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man's verbrennt. Man nutzt das Leben und mithin sich, den Lebendigen, indem man es und sich verzehrt. Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens.

Nun – den Genuß des Lebens suchen Wir auf! Und was tat die religiöse Welt? Sie suchte das Leben auf. »Worin besteht das wahre Leben, das selige Leben usw.? Wie ist es zu erreichen? Was muß der Mensch tun und werden, um ein wahrhaft Lebendiger zu sein? Wie erfüllt er diesen Beruf?« Diese und ähnliche Fragen deuten darauf hin, daß die Fragenden erst sich suchten, sich nämlich im wahren Sinne, im Sinne der wahrhaftigen Lebendigkeit. »Was Ich bin, ist Schaum und Schatten; was Ich sein werde, ist mein wahres Ich.« Diesem Ich nachzujagen, es herzustellen, es zu realisieren, macht die schwere Aufgabe der Sterblichen aus, die nur sterben, um aufzuerstehen, nur leben, um zu sterben, nur leben, um das wahre Leben zu finden.

Erst dann, wenn Ich Meiner gewiß bin und Mich nicht mehr suche, bin Ich wahrhaft mein Eigentum: Ich habe Mich, darum brauche und genieße Ich Mich. Dagegen kann Ich Meiner nimmermehr froh werden, solange Ich denke, mein wahres Ich hätte Ich erst noch zu finden, und es müsse dahin kommen, daß nicht Ich, sondern Christus in Mir lebe oder irgend ein anderes geistiges, d. h. gespenstisches Ich, z. B. der wahre Mensch, das Wesen des Menschen u. dgl.

Ein ungeheurer Abstand trennt beide Anschauungen: in der alten gehe Ich auf Mich zu, in der neuen gehe Ich von Mir aus, in jener sehne Ich Mich nach Mir, in dieser habe Ich Mich und mache es mit Mir, wie man's mit jedem andern Eigentum macht, – Ich genieße Mich nach meinem Wohlgefallen. Ich bange nicht mehr um's Leben, sondern »vertue« es.

Von jetzt an lautet die Frage, nicht wie man das Leben erwerben, sondern wie man's vertun, genießen könne, oder nicht wie man das wahre Ich in sich herzustellen, sondern wie man sich aufzulösen, sich auszuleben habe.

Was wäre das Ideal wohl anders, als das gesuchte, stets ferne Ich? Sich sucht man, folglich hat man sich noch nicht, man trachtet nach dem, was man sein soll, folglich ist man's nicht. Man lebt in Sehnsucht und hat Jahrtausende in ihr, hat in Hoffnung gelebt. Ganz anders lebt es sich im – Genuß!

Trifft dies etwa nur die sogenannten Frommen? Nein, es trifft Alle, die der scheidenden Geschichtsperiode angehören, selbst ihre Lebemänner. Auch ihnen folgte auf die Werkeltage ein Sonntag und auf das Welttreiben der Traum von einer besseren Welt, von einem allgemeinen Menschenglück, kurz ein Ideal. Aber namentlich die Philosophen werden den Frommen gegenübergestellt. Nun, haben die an etwas anderes gedacht, als an das Ideal, auf etwas anderes gesonnen, als auf das absolute Ich? Sehnsucht und Hoffnung überall, und nichts als diese. Nennt es meinetwegen Romantik.

Soll der Lebensgenuß über die Lebenssehnsucht oder Lebenshoffnung triumphieren, so muß er sie in ihrer doppelten Bedeutung, die Schiller im »Ideal und das Leben« vorführt, bezwingen, die geistliche und weltliche Armut ekrasieren, das Ideal vertilgen und – die Not ums tägliche Brot. Wer sein Leben aufwenden muß, um das Leben zu fristen, der kann es nicht genießen, und wer sein Leben erst sucht, der hat es nicht und kann es ebensowenig genießen: beide sind arm, »selig aber sind die Armen.«

Die da hungern nach dem wahren Leben, haben keine Macht über ihr gegenwärtiges, sondern müssen es zu dem Zwecke verwenden, jenes wahre Leben damit zu gewinnen, und müssen es ganz diesem Trachten und dieser Aufgabe opfern. Wenn an jenen Religiösen, die auf ein jenseitiges Leben hoffen und das diesseitige bloß für eine Vorbereitung zu demselben ansehen, die Dienstbarkeit ihres irdischen Daseins, das sie lediglich in den Dienst des gehofften himmlischen geben, ziemlich scharf einleuchtet, so würde man doch weit fehlgreifen, wollte man die Aufgeklärtesten und Erleuchtetsten für minder aufopfernd halten. Läßt doch im »wahren Leben« eine viel umfassendere Bedeutung sich finden, als das »himmlische« auszudrücken vermag. Ist etwa, um sogleich den liberalen Begriff desselben vorzuführen, das »menschliche« und »wahrhaft menschliche« nicht das wahre Leben? Und führt etwa Jeder schon von Haus aus dies wahrhaft menschliche Leben, oder muß er mit saurer Mühe sich erst dazu erheben? Hat er es schon als sein gegenwärtiges, oder muß er's als sein zukünftiges Leben erringen, das ihm erst dann zu Teil wird, wenn er »von keinem Egoismus mehr befleckt ist«? Das Leben ist bei dieser Ansicht nur dazu da, um Leben zu gewinnen, und man lebt nur, um das Wesen des Menschen in sich lebendig zu machen, man lebt um dieses Wesens willen. Man hat sein Leben nur, um sich mittelst desselben das »wahre«, von allem Egoismus gereinigte Leben zu verschaffen. Daher fürchtet man sich, von seinem Leben einen beliebigen Gebrauch zu machen: es soll nur zum »rechten Gebrauche« dienen.

Kurz man hat einen Lebensberuf, eine Lebensaufgabe, hat durch sein Leben Etwas zu verwirklichen und herzustellen, ein Etwas, für welches unser Leben nur Mittel und Werkzeug ist, ein Etwas, das mehr wert ist, als dieses Leben, ein Etwas, dem man das Leben schuldig ist. Man hat einen Gott, der ein lebendiges Opfer verlangt. Nur die Roheit des Menschenopfers hat sich mit der Zeit verloren; das Menschenopfer selbst ist unverkürzt geblieben, und stündlich fallen Verbrecher der Gerechtigkeit zum Opfer, und Wir »armen Sünder« schlachten Uns selbst zum Opfer für »das menschliche Wesen«, die »Idee der Menschheit«, die »Menschlichkeit« und wie die Götzen oder Götter sonst noch heißen.

Weil Wir aber unser Leben jenem Etwas schulden, darum haben Wir – dies das Nächste – kein Recht es uns zu nehmen.

Die konservative Tendenz des Christentums erlaubt nicht anders an den Tod zu denken, als mit der Absicht, ihm reinen Stachel zu nehmen und – hübsch fortzuleben und sich zu erhalten. Alles läßt der Christ geschehen und über sich ergehen, wenn er – der Erzjude – sich nur in den Himmel hineinschachern und –schmuggeln kann; sich selbst töten darf er nicht, er darf sich nur – erhalten, und an der »Bereitung einer zukünftigen Stätte« arbeiten. Konservatismus oder »Überwindung des Todes« liegt ihm am Herzen: »Der letzte Feind, der aufgehoben wird, ist der Tod.« »Christus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.« »Unvergänglichkeit«, Stabilität.

Der Sittliche will das Gute, das Rechte, und wenn er die Mittel ergreift, welche zu diesem Ziele führen, wirklich führen, so sind diese Mittel nicht seine Mittel, sondern die des Guten, Rechten usw. selbst. Unsittlich sind diese Mittel niemals, weil der gute Zweck selbst sich durch sie vermittelt: der Zweck heiligt die Mittel. Diesen Grundsatz nennt man jesuitisch, er ist aber durchaus »sittlich«. Der Sittliche handelt im Dienste eines Zweckes oder einer Idee: er macht sich zum Werkzeuge der Idee des Guten, wie der Fromme ein Werk- oder Rüstzeug Gottes zu sein sich zum Ruhme anrechnet. Den Tod abzuwarten, heischt das sittliche Gebot als das Gute; ihn sich selbst zu geben, ist unsittlich und böse: der Selbstmord findet keine Entschuldigung vor dem Richterstuhle der Sittlichkeit. Verbietet der Religiöse ihn, weil »du dir das Leben nicht gegeben hast, sondern Gott, der es dir auch allein wieder nehmen kann« (als ob, auch in dieser Vorstellung gesprochen, Mir's Gott nicht ebensowohl nähme, wenn ich Mich töte, als wenn Mich ein Dachziegel oder eine feindliche Kugel umwirft: er hätte ja den Todesentschluß auch in mir geweckt!): so verbietet der Sittliche ihn, weil Ich mein Leben dem Vaterlande usw. schulde, »weil ich nicht wisse, ob ich durch mein Leben nicht noch Gutes wirken könne.« Natürlich, es verliert ja das Gute an mir ein Werkzeug, wie Gott ein Rüstzeug. Bin ich unsittlich, so ist dem Guten mit meiner Besserung gedient, bin Ich »gottlos«, so hat Gott Freude an meiner Bußfertigkeit. Selbstmord ist also sowohl gottlos als ruchlos. Wenn einer, dessen Standpunkt die Religiosität ist, sich das Leben nimmt, so handelt er gottvergessen; ist aber der Standpunkt des Selbstmörders die Sittlichkeit, so handelt er pflichtvergessen, unsittlich. Man quälte sich viel mit der Frage, ob Emilia Galottis Tod vor der Sittlichkeit sich rechtfertigen lasse (man nimmt ihn, als wäre er Selbstmord, was er der Sache nach auch ist). Daß sie in die Keuschheit, dies sittliche Gut, so vernarrt ist, um selbst ihr Leben dafür zu lassen, ist jedenfalls sittlich; daß sie aber sich die Gewalt über ihr Blut nicht zutraut, ist wieder unsittlich. Solche Widersprüche bilden in dem sittlichen Trauerspiele den tragischen Konflikt überhaupt, und man muß sittlich denken und fühlen, um daran ein Interesse nehmen zu können.

Was von der Frömmigkeit und Sittlichkeit gilt, wird notwendig auch die Menschlichkeit treffen, weil man dem Menschen, der Menschheit oder Gattung gleichfalls sein Leben schuldig ist. Nur wenn ich keinem Wesen verpflichtet bin, ist die Erhaltung des Lebens – meine Sache. »Ein Sprung von dieser Brücke macht Mich frei!«

Sind Wir aber jenem Wesen, das Wir in Uns lebendig machen sollen, die Erhaltung unseres Lebens schuldig, so ist es nicht weniger unsere Pflicht, dieses Leben nicht nach unserer Lust zu führen, sondern es jenem Wesen gemäß zu gestalten. All mein Fühlen, Denken und Wollen, all mein Tun und Trachten gehört – ihm.

Was jenem Wesen gemäß sei, ergibt sich aus dem Begriffe desselben, und wie verschieden ist dieser Begriff begriffen oder wie verschieden ist jenes Wesen vorgestellt worden! Welche Forderungen macht das höchste Wesen an den Mohammedaner, und welch andere glaubt wieder der Christ von ihm zu vernehmen; wie abweichend muß daher beider Lebensgestaltung ausfallen! Nur dies halten Alle fest, daß das höchste Wesen unser Leben zu richten habe.

Doch an den Frommen, die in Gott ihren Richter und in seinem Wort einen Leitfaden für ihr Leben haben, gehe Ich überall nur erinnerungsweise vorüber, weil sie einer verlebten Entwicklungsperiode angehören und als Versteinerungen immerhin auf ihrem fixen Platze bleiben mögen; in unserer Zeit haben nicht mehr die Frommen, sondern die Liberalen das große Wort, und die Frömmigkeit selbst kann sich dessen nicht erwehren, mit liberalem Teint ihr blasses Gesicht zu röten. Die Liberalen aber verehren nicht in Gott ihren Richter und wickeln ihr Leben nicht am Leitfaden des göttlichen Wortes ab, sondern richten sich nach dem Menschen: nicht »göttlich«, sondern »menschlich« wollen sie sein und leben.

Der Mensch ist des Liberalen höchstes Wesen, der Mensch seines Lebens Richter, die Menschlichkeit sein Leitfaden oder Katechismus. Gott ist Geist, aber der Mensch ist der »vollkommenste Geist«, das endliche Resultat der langen Geistesjagd oder der »Forschung in den Tiefen der Gottheit«, d. h. in den Tiefen des Geistes.

Jeder deiner Züge soll menschlich sein; Du selbst sollst es vom Wirbel bis zur Zehe, im Innern wie im Äußern sein: denn die Menschlichkeit ist dein Beruf.

Beruf – Bestimmung – Aufgabe! –

Was Einer werden kann, das wird er auch. Ein geborener Dichter mag wohl durch die Ungunst der Umstände gehindert werden, auf der Höhe der Zeit zu stehen und nach den dazu unerläßlichen großen Studien ausgebildete Kunstwerke zu schaffen; aber dichten wird er, er sei Ackerknecht oder so glücklich, am Weimarschen Hofe zu leben. Ein geborener Musiker wird Musik treiben, gleichviel ob auf allen Instrumenten oder nur auf einem Haferrohr. Ein geborener philosophischer Kopf kann sich als Universitätsphilosoph oder als Dorfphilosoph bewähren. Endlich ein geborener Dummerjan, der, was sich sehr wohl damit verträgt, zugleich ein Pfiffikus sein kann, wird, wie wahrscheinlich Jeder, der Schulen besucht hat, an manchen Beispielen von Mitschülern sich zu vergegenwärtigen imstande ist, immer ein vernagelter Kopf bleiben, er möge nun zu einem Bürochef einexerziert und dressiert worden sein, oder demselben Chef als Stiefelputzer dienen. Ja die geborenen beschränkten Köpfe bilden unstreitig die zahlreichste Menschenklasse. Warum sollten auch in der Menschengattung nicht dieselben Unterschiede hervortreten, welche in jeder Tiergattung unverkennbar sind? Überall finden sich Begabtere und minder Begabte.

So blödsinnig sind indes nur Wenige, daß man ihnen nicht Ideen beibringen könnte. Daher hält man gewöhnlich alle Menschen für fähig, Religion zu haben. In einem gewissen Grade sind sie auch zu andern Ideen noch abzurichten, z. B. zu einem musikalischen Verständnis, selbst etwas Philosophie usw. Hier knüpft denn das Pfaffentum der Religion, der Sittlichkeit, der Bildung, der Wissenschaft usw. an, und die Kommunisten z. B. wollen durch ihre »Volksschule« Allen alles zugänglich machen. Eine gewöhnliche Behauptung wird gehört, daß diese »große Masse« ohne Religion nicht auskommen könne; die Kommunisten erweitern sie zu dem Satze, daß nicht nur die »große Masse«, sondern schlechthin Alle zu Allem berufen seien.

Nicht genug, daß man die große Masse zur Religion abgerichtet hat, nun soll sie gar mit »allem Menschlichen« sich noch befassen müssen. Die Dressur wird immer allgemeiner und umfassender.

Ihr armen Wesen, die Ihr so glücklich leben könntet, wenn Ihr nach eurem Sinne Sprünge machen dürftet, Ihr sollt nach der Pfeife der Schulmeister und Bärenführer tanzen, um Kunststücke zu machen, zu denen Ihr selbst Euch nimmermehr gebrauchen würdet. Und Ihr schlagt nicht endlich einmal dagegen aus, daß man Euch immer anders nimmt, als Ihr Euch geben wollt. Nein, Ihr sprecht Euch die vorgesprochene Frage mechanisch selber vor: »Wozu bin Ich berufen? Was soll Ich?« So braucht Ihr nur zu fragen, um Euch sagen und befehlen zu lassen, was Ihr sollt, euren Beruf Euch vorzeichnen zu lassen, oder auch es Euch selbst nach der Vorschrift des Geistes zu befehlen und aufzuerlegen. Da heißt es denn in Bezug auf den Willen: Ich will, was Ich soll.

Ein Mensch ist zu nichts »berufen« und hat keine »Aufgabe«, keine »Bestimmung«, so wenig als eine Pflanze oder ein Tier einen »Beruf« hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu genießen und zu verzehren, d. h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Äthers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewaltiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Tier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äußern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Äußerung besteht und so wenig untätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde »stille stände«, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte man dem Menschen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in diesen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es sei des Menschen Aufgabe, seine Kraft zu gebrauchen. So ist es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder seine Kraft, ohne dies erst für seinen Beruf anzusehen: es gebraucht Jeder in jedem Augenblicke so viel Kraft als er besitzt. Man sagt wohl von einem Besiegten, er hätte seine Kraft mehr anspannen sollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblicke des Erliegens die Kraft gehabt hätte, seine Kräfte (z. B. Leibeskräfte) anzuspannen, er es nicht unterlassen haben würde: war es auch nur die Mutlosigkeit einer Minute, so war dies doch eine minutenlange – Kraftlosigkeit. Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feindlichen Widerstand oder befreundeten Beistand; aber wo man ihre Anwendung vermißt, da kann man auch ihrer Abwesenheit gewiß sein. Man kann aus einem Steine Feuer schlagen, aber ohne den Schlag kommt keines heraus; in gleicher Art bedarf auch ein Mensch des »Anstoßes«.

Darum nun, weil Kräfte sich stets von selbst werktätig erweisen, wäre das Gebot, sie zu gebrauchen, überflüssig und sinnlos. Seine Kräfte zu gebrauchen ist nicht der Beruf und die Aufgabe des Menschen, sondern es ist seine allezeit wirkliche, vorhandene Tat. Kraft ist nur ein einfacheres Wort für Kraftäußerung.

Wie nun diese Rose von vornherein wahre Rose, diese Nachtigall stets wahre Nachtigall ist, so bin Ich nicht erst wahrer Mensch, wenn Ich meinen Beruf erfülle, meiner Bestimmung nachlebe, sondern Ich bin von Haus »wahrer Mensch«. Mein erstes Lallen ist das Lebenszeichen eines »wahren Menschen«, meine Lebenskämpfe seine Kraftergüsse, mein letzter Atemzug das letzte Kraftaushauchen »des Menschen«.

Nicht in der Zukunft, ein Gegenstand der Sehnsucht, liegt der wahre Mensch, sondern daseiend und wirklich liegt er in der Gegenwart. Wie und wer Ich auch sei, freudvoll und leidvoll, ein Kind oder ein Greis, in Zuversicht oder Zweifel, im Schlaf oder im Wachen, Ich bin es, Ich bin der wahre Mensch.

Bin Ich aber der Mensch und habe Ich ihn, den die religiöse Menschheit als fernes Ziel bezeichnete, wirklich in Mir gefunden, so ist auch alles »wahrhaft Menschliche« mein eigen. Was man der Idee der Menschheit zuschrieb, das gehört Mir. Jene Handelsfreiheit z. B., welche die Menschheit erst erreichen soll, und die man wie einen bezaubernden Traum in ihre goldene Zukunft versetzt, Ich nehme sie Mir als mein Eigentum vorweg und treibe sie einstweilen in der Form des Schmuggels. Freilich möchten nur wenige Schmuggler sich diese Rechenschaft über ihr Tun zu geben wissen, aber der Instinkt des Egoismus ersetzt ihr Bewußtsein. Von der Preßfreiheit habe Ich dasselbe oben gezeigt.

Alles ist mein eigen, darum hole Ich Mir wieder, was sich Mir entziehen will, vor allem aber hole Ich Mich stets wieder, wenn Ich zu irgend einer Dienstbarkeit Mir entschlüpfet bin. Aber auch dies ist nicht mein Beruf, sondern meine natürliche Tat.

Genug, es ist ein mächtiger Unterschied, ob Ich Mich zum Ausgangs- oder zum Zielpunkt mache. Als letzeren habe Ich Mich nicht, bin Mir mithin noch fremd, bin mein Wesen, mein »wahres Wesen«, und dieses Mir fremde »wahre Wesen« wird als ein Spuk von tausenderlei Namen sein Gespött mit Mir treiben. Weil Ich noch nicht Ich bin, so ist ein Anderer (wie Gott, der wahre Mensch, der wahrhaft Fromme, der Vernünftige, der Freie usw.) Ich, mein Ich.

Von Mir noch fern trenne Ich Mich in zwei Hälften, deren eine, die unerreichte und zu erfüllende, die wahre ist. Die eine, die unwahre, muß zum Opfer gebracht werden, nämlich die ungeistige; die andere, die wahre, soll der ganze Mensch sein, nämlich der Geist. Dann heißt es: »Der Geist ist das eigentliche Wesen des Menschen« oder »der Mensch existiert als Mensch nur geistig«. Nun geht es mit Gier darauf los, den Geist zu fahen, als hätte man sich dann erwischt, und so im Jagen nach sich verliert man sich, der man ist, aus den Augen.

Und wie man stürmisch sich selbst, dem nie erreichten, nachsetzt, so verachtet man auch die Regel der Klugen, die Menschen zu nehmen wie sie sind, und nimmt sie lieber wie sie sein sollen, hetzt deshalb Jeden hinter seinem seinsollenden Ich her und »strebt Alle zu gleich berechtigten, gleich achtbaren, gleich sittlichen oder vernünftigen Menschen zu machen«.

Ja, »wenn die Menschen wären, wie sie sein sollten, sein könnten, wenn alle Menschen vernünftig wären, alle einander als Brüder liebten«, dann wär's ein paradiesisches Leben. – Wohlan, die Menschen sind, wie sie sein sollen, sein können. Was sollen sie sein? Doch wohl nicht mehr als sie sein können! Und was können sie sein? Auch eben nicht mehr als sie – können, d. h. als sie das Vermögen, die Kraft zu sein haben. Das aber sind sie wirklich, weil, was sie nicht sind, sie zu sein nicht imstande sind: denn imstande sein heißt – wirklich sein. Man ist nichts imstande, was man nicht wirklich ist, man ist nichts imstande zu tun, was man nicht wirklich tut. Könnte ein am Star Erblindeter sehen? O ja, wenn er sich den Star glücklich stechen ließe. Allein jetzt kann er nicht sehen, weil er nicht sieht. Möglichkeit und Wirklichkeit fallen immer zusammen. Man kann nichts, was man nicht tut, wie man nichts tut, was man nicht kann.

Die Sonderbarkeit dieser Behauptung verschwindet, wenn man erwägt, daß die Worte »es ist möglich, daß usw.« fast nie einen andern Sinn in sich bergen, als diesen: »Ich kann Mir denken, daß usw.« z. B. Es ist möglich, daß alle Menschen vernünftig leben, d. h. Ich kann Mir denken, daß alle usw. Da nun mein Denken nicht bewirken kann, mithin auch nicht bewirkt, daß alle Menschen vernünftig leben, sondern dies den Menschen selbst überlassen bleiben muß, so ist die allgemeine Vernunft für Mich nur denkbar, eine Denkbarkeit, als solche aber in der Tat eine Wirklichkeit, die nur in Bezug auf das, was Ich nicht machen kann, nämlich die Vernünftigkeit der Andern, eine Möglichkeit genannt wird. So weit es von Dir abhängt, könnten alle Menschen vernünftig sein, denn Du hast nichts dagegen, ja so weit dein Denken reicht, kannst Du vielleicht auch kein Hindernis entdecken, und mithin steht auch in deinem Denken der Sache nichts entgegen: sie ist Dir denkbar.

Aber da die Menschen nun doch nicht alle vernünftig sind, so werden sie es auch wohl – nicht sein können.

Ist oder geschieht etwas nicht, wovon man sich vorstellt, es wäre doch leicht möglich, so kann man versichert sein, es stehe der Sache etwas im Wege und sie sei – unmöglich. Unsere Zeit hat ihre Kunst, Wissenschaft usw.: die Kunst mag herzlich schlecht sein; darf man aber sagen, Wir verdienten eine bessere zu haben und »könnten« sie haben; wenn Wir nur wollten? Wir haben gerade so viel Kunst, als Wir haben können. Unsere heutige Kunst ist die dermalen einzig mögliche und darum wirkliche.

Selbst in dem Verstande, worauf man das Wort »möglich«, zuletzt noch reduzieren könnte, daß es »zukünftig« bedeute, behält es die volle Kraft des »Wirklichen«. Sagt man z. B. Es ist möglich, daß morgen die Sonne aufgeht, – so heißt dies nur: für das Heute ist das Morgen die wirkliche Zukunft; denn es bedarf wohl kaum der Andeutung, daß eine Zukunft nur dann wirkliche »Zukunft« ist, wenn sie noch nicht erschienen ist.

Jedoch wozu diese Würdigung eines Wortes? Hielte sich nicht der folgenreichste Mißverstand von Jahrtausenden dahinter versteckt, spukte nicht aller Spuk der besessenen Menschen in diesem einzigen Begriffe des Wörtleins »möglich«, so sollte Uns seine Betrachtung hier wenig kümmern.

Der Gedanke, wurde eben gezeigt, beherrscht die besessene Welt. Nun denn, die Möglichkeit ist nichts anders, als die Denkbarkeit, und der gräßlichen Denkbarkeit sind seither unzählige Opfer gefallen. Es war denkbar, daß die Menschen vernünftig werden könnten, denkbar, daß sie Christum erkennen, denkbar, daß sie für das Gute sich begeistern und sittlich werden, denkbar, daß sie alle in den Schoß der Kirche sich flüchten, denkbar, daß sie nichts Staatsgefährliches sinnen, sprechen und tun, denkbar, daß sie gehorsame Untertanen sein könnten: darum aber, weil es denkbar war, war es – so lautete der Schluß – möglich, und weiter, weil es den Menschen möglich war (hier eben liegt das Trügerische: weil es Mir denkbar ist, ist es den Menschen möglich), so sollten sie es sein, so war es ihr Beruf; und endlich – nur nach diesem Berufe, nur als Berufene, hat man die Menschen zu nehmen, nicht »wie sie sind, sondern wie sie sein sollen«.

Und der weitere Schluß? Nicht der Einzelne ist der Mensch, sondern ein Gedanke, ein Ideal ist der Mensch, zu dem der Einzelne sich nicht einmal so verhält, wie das Kind zum Manne, sondern wie ein Kreidepunkt zu dem gedachten Punkte, oder wie ein – endliches Geschöpf zum ewigen Schöpfer, oder nach neuerer Ansicht, wie das Exemplar zur Gattung. Hier kommt denn die Verherrlichung der »Menschheit« zum Vorschein, der »ewigen, unsterblichen«, zu deren Ehre (in maiorem humanitatis gloriam) der Einzelne sich hingeben und seinen »unsterblichen Ruhm« darin finden muß, für den »Menschheitsgeist« etwas getan zu haben.

So herrschen die Denkenden in der Welt, so lange die Pfaffen- oder Schulmeister-Zeit dauert, und was sie sich denken, das ist möglich, was aber möglich ist, das muß verwirklicht werden. Sie denken sich ein Menschen-Ideal, das einstweilen nur in ihren Gedanken wirklich ist; aber sie denken sich auch die Möglichkeit seiner Ausführung, und es ist nicht zu streiten, die Ausführung ist wirklich – denkbar, sie ist eine – Idee.

Aber Ich und Du, Wir mögen zwar Leute sein, von denen sich ein Krummacher denken kann, daß Wir noch gute Christen werden könnten; wenn er Uns indes »bearbeiten« wollte, so würden Wir ihm bald fühlbar machen, daß unsere Christlichkeit nur denkbar, sonst aber unmöglich ist: er würde, grinste er Uns fort und fort mit seinen zudringlichen Gedanken, seinem »guten Glauben«, an, erfahren müssen, daß Wir gar nicht zu werden brauchen, was Wir nicht werden mögen.

Und so geht es fort, weit über die Frömmsten und Frommen hinaus. »Wenn alle Menschen vernünftig wären, wenn Alle das Rechte täten, wenn Alle von Menschenliebe geleitet würden usw.«! Vernunft, Recht, Menschenliebe usw. wird als der Menschen Beruf, als Ziel ihres Trachtens ihnen vor Augen gestellt. Und was heißt vernünftig sein? Sich selbst vernehmen? Nein, die Vernunft ist ein Buch voll Gesetze, die alle gegen den Egoismus gegeben sind.

Die bisherige Geschichte ist die Geschichte des geistigen Menschen. Nach der Periode der Sinnlichkeit beginnt die eigentliche Geschichte, d. h. die Periode der Geistigkeit, Geistlichkeit, Unsinnlichkeit, Übersinnlichkeit, Unsinnigkeit. Der Mensch fängt nun an, etwas sein und werden zu wollen. Was? Gut, schön, wahr; näher sittlich, fromm, wohlgefällig usw. Er will einen »rechten Menschen«, »etwas Rechtes« aus sich machen. Der Mensch ist sein Ziel, sein Sollen, seine Bestimmung, Beruf, Aufgabe, sein – Ideal: er ist sich ein Zukünftiger, Jenseitiger. Und was macht aus ihm einen »rechten Kerl«? Das Wahrsein, Gutsein, Sittlichkeit u. dgl. Nun sieht er jeden scheel an, der nicht dasselbe »Was« anerkennt, dieselbe Sittlichkeit sucht, denselben Glauben hat: er verjagt die »Separatisten, Ketzer, Sekten« usw.

Kein Schaf, kein Hund bemüht sich, ein »rechtes Schaf, ein rechter Hund« zu werden; keinem Tier erscheint sein Wesen als eine Aufgabe, d. h. als ein Begriff, den es zu realisieren habe. Es realisiert sich, indem es sich auslebt, d. h. auflöst, vergeht. Es verlangt nicht, etwas Anderes zu sein oder zu werden, als es ist.

Will Ich Euch raten, den Tieren zu gleichen? Daß Ihr Tiere werden sollt, dazu kann Ich wahrlich nicht ermuntern, da dies wieder eine Aufgabe, ein Ideal wäre (»Im Fleiß kann Dich die Biene meistern«). Auch wäre es dasselbe, als wünschte man den Tieren, daß sie Menschen werden. Eure Natur ist nun einmal eine menschliche, Ihr seid menschliche Naturen, d. h. Menschen. Aber eben weil Ihr das bereits seid, braucht Ihr's nicht erst zu werden. Auch Tiere werden »dressiert«, und ein dressiertes Tier leistet mancherlei Unnatürliches. Nur ist ein dressierter Hund für sich nichts besseres, als ein natürlicher, und hat keinen Gewinn davon, wenn er auch für Uns umgänglicher ist.

Von jeher waren die Bemühungen im Schwange, alle Menschen zu sittlichen, vernünftigen, frommen, menschlichen u. dgl. »Wesen zu bilden«, d. h. die Dressur. Sie scheitern an der unbezwinglichen Ichheit, an der eigenen Natur, am Egoismus. Die Abgerichteten erreichen niemals ihr Ideal und bekennen sich nur mit dem Munde zu den erhabenen Grundsätzen, oder legen ein Bekenntnis, ein Glaubensbekenntnis, ab. Diesem Bekenntnisse gegenüber müssen sie im Leben sich »allzumal für Sünder erkennen« und bleiben hinter ihrem Ideal zurück, sind »schwache Menschen« und tragen sich mit dem Bewußtsein der »menschlichen Schwachheit«.

Anders, wenn Du nicht einem Ideal, als deiner »Bestimmung«, nachjagst, sondern Dich auflösest, wie die Zeit alles auflöst. Die Auflösung ist nicht deine »Bestimmung«, weil sie Gegenwart ist.

Doch hat die Bildung, die Religiosität der Menschen diese allerdings frei gemacht, frei aber nur von einem Herrn, um sie einem andern zuzuführen. Meine Begierde habe Ich durch die Religion bezähmen gelernt, den Widerstand der Welt breche Ich durch die List, welche Mir von der Wissenschaft an die Hand gegeben wird; selbst keinem Menschen diene Ich: »Ich bin keines Menschen Knecht«. Aber dann kommt's: Du mußt Gott mehr gehorchen als dem Menschen. Ebenso bin Ich zwar frei von der unvernünftigen Bestimmung durch meine Triebe, aber gehorsam der Herrin: Vernunft. Ich habe die »geistige Freiheit«, »Freiheit des Geistes« gewonnen. Damit bin Ich denn gerade dem Geiste untertan geworden. Der Geist befiehlt Mir, die Vernunft leitet Mich, sie sind meine Führer und Gebieter. Es herrschen die »Vernünftigen«, die »Diener des Geistes«. Wenn Ich aber nicht Fleisch bin, so bin Ich wahrlich auch nicht Geist. Freiheit des Geistes ist Knechtshaft Meiner, weil Ich mehr bin als Geist oder Fleisch.

Ohne Zweifel hat die Bildung Mich zum Gewaltigen gemacht. Sie hat Mir Gewalt über alle Antriebe gegeben, sowohl über die Triebe meiner Natur als über die Zumutungen und Gewalttätigkeiten der Welt. Ich weiß und habe durch die Bildung die Kraft dazu gewonnen, daß Ich Mich durch keine meiner Begierden, Lüste, Aufwallungen usw. zwingen zu lassen brauche: Ich bin ihr – Herr; gleicherweise werde Ich durch die Wissenschaften und Künste der Herr der widerspenstigen Welt, dem Meer und Erde gehorchen und selbst die Sterne Rede stehen müssen. Der Geist hat Mich zum Herrn gemacht. – Aber über den Geist selbst habe Ich keine Gewalt. Aus der Religion (Bildung) lerne Ich wohl die Mittel zur »Besiegung der Welt«, aber nicht, wie Ich auch Gott bezwinge und seiner Herr werde; denn Gott »ist der Geist«. Und zwar kann der Geist, dessen Ich nicht Herr zu werden vermag, die mannigfaltigsten Gestalten haben: er kann Gott heißen oder Volksgeist, Staat, Familie, Vernunft, auch – Freiheit, Menschlichkeit, Mensch.

Ich nehme mit Dank auf, was die Jahrhunderte der Bildung Mir erworben haben; nichts davon will Ich wegwerfen und aufgeben: Ich habe nicht umsonst gelebt. Die Erfahrung, daß Ich Gewalt über meine Natur habe und nicht der Sklave meiner Begierden zu sein brauche, soll Mir nicht verloren gehen; die Erfahrung, daß Ich durch Bildungsmittel die Welt bezwingen kann, ist zu teuer erkauft, als daß Ich sie vergessen könnte. Aber Ich will noch mehr.

Man fragt, was kann der Mensch werden, was kann er leisten, welche Güter sich verschaffen, und stellt das Höchste von Allem als Beruf hin. Als wäre Mir alles möglich!

Wenn man Jemand in einer Sucht, einer Leidenschaft usw. verkommen sieht (z. B. im Schachergeist, Eifersucht), so regt sich das Verlangen ihn aus dieser Besessenheit zu erlösen und ihm zur »Selbstüberwindung« zu verhelfen. »Wir wollen einen Menschen aus ihm machen!« Das wäre recht schön, wenn nicht eine andere Besessenheit gleich an die Stelle der früheren gebracht würde. Von der Geldgier befreit man aber den Knecht derselben nur, um der Frömmigkeit, der Humanität oder welchem sonstigen Prinzip ihn zu überliefern und ihn von neuem auf einen festen Standpunkt zu versetzen.

Diese Versetzung von einem beschränkten Standpunkt auf einen erhabenen spricht sich in den Worten aus: der Sinn dürfe nicht auf das Vergängliche, sondern allein auf das Unvergängliche gerichtet sein, nicht aufs Zeitliche, sondern Ewige, Absolute, Göttliche, Reinmenschliche usw. – aufs Geistige.

Man sah sehr bald ein, daß es nicht gleichgültig sei, woran man sein Herz hänge, oder womit man sich beschäftige; man erkannte die Wichtigkeit des Gegenstandes. Ein über die Einzelheit der Dinge erhabener Gegenstand ist das Wesen der Dinge; ja das Wesen ist allein das Denkbare an ihnen, ist für den denkenden Menschen. Darum richte nicht länger Deinen Sinn auf die Dinge, sondern Deine Gedanken auf das Wesen. »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben«, d. h. selig sind die Denkenden, denn die haben's mit dem Unsichtbaren zu tun und glauben daran. Doch auch ein Gegenstand des Denkens, welcher Jahrhunderte lang einen wesentlichen Streitpunkt ausmachte, kommt zuletzt dahin, daß er »nicht mehr der Rede wert ist«. Das sah man ein, aber gleichwohl behielt man immer wieder eine für sich gültige Wichtigkeit des Gegenstandes, einen absoluten Wert desselben vor Augen, als wenn nicht die Puppe dem Kinde, der Koran dem Türken das Wichtigste wäre. Solange Ich Mir nicht das einzig Wichtige bin, ist's gleichgültig, von welchem Gegenstande Ich »viel Wesens« mache, und nur mein größeres oder kleineres Verbrechen gegen ihn ist von Wert. Der Grad meiner Anhänglichkeit und Ergebenheit bezeichnet den Standpunkt meiner Dienstbarkeit, der Grad meiner Versündigung zeigt das Maß meiner Eigenheit.

Endlich aber muß man überhaupt sich Alles »aus dem Sinn zu schlagen« wissen, schon um – einschlafen zu können. Es darf Uns nichts beschäftigen, womit Wir Uns nicht beschäftigen: der Ehrsüchtige kann seinen ehrgeizigen Plänen nicht entrinnen, der Gottesfürchtige nicht dem Gedanken an Gott; Vernarrtheit und Besessenheit fallen in Eins zusammen.

Sein Wesen realisieren oder seinem Begriffe gemäß leben zu wollen, was bei den Gottgläubigen so viel als »fromm« sein bedeutet, bei den Menschheitsgläubigen »menschlich« leben heißt, kann nur der sinnliche und sündige Mensch sich vorsetzen, der Mensch, solange er zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden die bange Wahl hat, der Mensch, solange er ein »armer Sünder« ist. Der Christ ist nichts anderes, als ein sinnlicher Mensch, der, indem er vom Heiligen weiß und sich bewußt ist, daß er dasselbe verletzt, in sich einen armen Sünder sieht: Sinnlichkeit, als »Sündlichkeit« gewußt, das ist christliches Bewußtsein, das ist der Christ selber. Und wenn nun »Sünde« und »Sündlichkeit« von Neueren nicht mehr in den Mund genommen wird, statt dessen aber »Egoismus«, »Selbstsucht«, »Eigennützigkeit« u. dergl. ihnen zu schaffen macht, wenn der Teufel in den »Unmenschen« oder »egoistischen Menschen« übersetzt wurde, ist dann der Christ weniger vorhanden als vorher? Ist nicht der alte Zwiespalt zwischen Gut und Böse, ist nicht ein Richter über Uns, der Mensch, ist nicht ein Beruf, der Beruf, sich zum Menschen zu machen, geblieben? Nennt man's nicht mehr Beruf, sondern »Aufgabe« oder auch wohl »Pflicht«, so ist die Namensänderung ganz richtig, weil »der Mensch« nicht gleich Gott ein persönliches Wesen ist, das »rufen« kann; aber außer dem Namen bleibt die Sache beim Alten.

Es hat Jeder ein Verhältnis zu den Objekten, und zwar verhält sich Jeder anders zu denselben. Wählen Wir als Beispiel jenes Buch, zu welchem Millionen Menschen zweier Jahrtausende ein Verhältnis hatten, die Bibel. Was ist, was war sie einem Jeden? Durchaus nur das, was er aus ihr machte! Wer sich gar nichts aus ihr macht, für den ist sie gar nichts; wer sie als Amulett gebraucht, für den hat sie lediglich den Wert, die Bedeutung eines Zaubermittels; wer, wie Kinder, damit spielt, für den ist sie nichts als ein Spielzeug usw.

Nun verlangt das Christentum, daß sie für Alle dasselbe sein soll, etwa das heilige Buch oder die »heilige Schrift«. Dies heißt so viel als daß die Ansicht des Christen auch die der andern Menschen sein soll, und daß Niemand sich anders zu jenem Objekt verhalten dürfe. Damit wird denn die Eigenheit des Verhaltens zerstört, und Ein Sinn, Eine Gesinnung, als der »wahre«, der »allein wahre« festgesetzt. Mit der Freiheit, aus der Bibel zu machen, was Ich daraus machen will, wird die Freiheit des Machens überhaupt gehindert, und an deren Stelle der Zwang einer Ansicht oder eines Urteils gesetzt. Wer das Urteil fällte, es sei die Bibel ein langer Irrtum der Menschheit, der urteilte – verbrecherisch.

In der Tat urteilt das Kind, welches sie zerfetzt oder damit spielt, der Inka Atahualpa, der sein Ohr daran legt und sie verächtlich wegwirft, als sie stumm bleibt, eben so richtig über die Bibel, als der Pfaffe, welcher in ihr das »Wort Gottes« anpreist, oder der Kritiker, der sie ein Machwerk von Menschenhänden nennt. Denn wie Wir mit den Dingen umspringen, das ist die Sache unseres Beliebens, unserer Willkür: Wir gebrauchen sie nach Herzenslust, oder deutlicher, Wir gebrauchen sie, wie Wir eben können. Worüber schreien denn die Pfaffen, wenn sie sehen, wie Hegel und die spekulativen Theologen aus dem Inhalte der Bibel spekulative Gedanken machen? Gerade darüber, daß jene nach Herzenslust damit gebaren oder »willkürlich damit verfahren«.

Weil Wir aber Alle im Behandeln der Objekte Uns willkürlich zeigen, d. h. so mit ihnen umgehen, wie es Uns am besten gefällt, nach unserem Gefallen (dem Philosophen gefällt nichts so sehr, als wenn er in Allem eine »Idee« aufspüren kann, wie es dem Gottesfürchtigen gefällt, durch Alles, also z. B. durch Heilighaltung der Bibel, sich Gott zum Freunde zu machen): so begegnen Wir nirgends so peinlicher Willkür, so fürchterlicher Gewalttätigkeit, so dummem Zwange, als eben in diesem Gebiete unserer – eigenen Willkür. Verfahren Wir willkürlich, indem Wir die heiligen Gegenstände so oder so nehmen, wie wollen Wir's da den Pfaffengeistern verargen, wenn sie Uns ebenso willkürlich nach ihrer Art nehmen, und Uns des Ketzerfeuers oder einer andern Strafe, etwa der – Zensur, würdig erachten?

Was ein Mensch ist, das macht er aus den Dingen; »wie Du die Welt anschaust, so schaut sie Dich wieder an«. Da läßt sich denn gleich der weise Rat vernehmen: Du mußt sie nur »recht, unbefangen« usw. anschauen. Als ob das Kind die Bibel nicht »recht und unbefangen« anschaute, wenn es dieselbe zum Spielzeug macht. Jene kluge Weisung gibt Uns z. B. Feuerbach. Die Dinge schaut man eben recht an, wenn man aus ihnen macht, was man will (unter Dingen sind hier Objekte, Gegenstände überhaupt verstanden, wie Gott, unsere Mitmenschen, ein Liebchen, ein Buch, ein Tier usw.). Und darum sind die Dinge und ihre Anschauung nicht das Erste, sondern Ich bin's, mein Wille ist's. Man will Gedanken aus den Dingen herausbringen, will Vernunft in der Welt entdecken, will Heiligkeit in ihr haben: daher wird man sie finden. »Suchet, so werdet Ihr finden.« Was Ich suchen will, das bestimme Ich: Ich will Mir z. B. aus der Bibel Erbauung holen: sie ist zu finden; Ich will die Bibel gründlich lesen und prüfen: es wird Mir eine gründliche Belehrung und Kritik entstehen – nach meinen Kräften. Ich erkiese Mir das, wonach mein Sinn steht, und erkiesend beweise Ich Mich – willkürlich.

Hieran knüpft sich die Einsicht, daß jedes Urteil, welches Ich über ein Objekt fälle, das Geschöpf meines Willens ist, und wiederum leitet Mich jene Einsicht dahin, daß Ich Mich nicht an das Geschöpf, das Urteil, verliere, sondern der Schöpfer bleibe, der Urteilende, der stets von neuem schafft. Alle Prädikate von den Gegenständen sind meine Aussagen, meine Urteile, meine – Geschöpfe. Wollen sie sich losreißen von Mir, und etwas für sich sein, oder gar Mir imponieren, so habe Ich nichts Eiligeres zu tun, als sie in ihr Nichts, d. h. in Mich, den Schöpfer, zurückzunehmen. Gott, Christus, Dreieinigkeit, Sittlichkeit, das Gute usw. sind solche Geschöpfe, von denen Ich Mir nicht bloß erlauben muß, zu sagen, sie seien Wahrheiten, sondern auch, sie seien Täuschungen. Wie Ich einmal ihr Dasein gewollt und dekretiert habe, so will Ich auch ihr Nichtsein wollen dürfen; Ich darf sie Mir nicht über den Kopf wachsen, darf nicht die Schwachheit haben, etwas »Absolutes« aus ihnen werden zu lassen, wodurch sie verewigt und meiner Macht und Bestimmung entzogen würden. Damit würde Ich dem Stabilitätsprinzip verfallen, dem eigentlichen Lebensprinzip der Religion, die sich's angelegen sein läßt, »unantastbare Heiligtümer«, »ewige Wahrheiten«, kurz ein »Heiliges« zu kreieren und Dir das Deinige zu entziehen.

Das Objekt macht Uns in seiner heiligen Gestalt ebenso zu Besessenen, wie in seiner unheiligen, als übersinnliches Objekt ebenso, wie als sinnliches. Auf beide bezieht sich die Begierde oder Sucht, und auf gleicher Stufe stehen Geldgier und Sehnsucht nach dem Himmel. Als die Aufklärer die Leute für die sinnliche Welt gewinnen wollten, predigte Lavater die Sehnsucht nach dem Unsichtbaren. Rührung wollen die Einen hervorrufen, Rührigkeit die Andern.

Die Auffassung der Gegenstände ist eine durchaus verschiedene, wie denn Gott, Christus, Welt usw. auf die mannigfaltigste Weise aufgefaßt wurden und werden. Jeder ist darin ein »Andersdenkender«, und nach blutigen Kämpfen hat man endlich so viel erreicht, daß die entgegengesetzten Ansichten über ein und denselben Gegenstand nicht mehr als todeswürdige Ketzereien verurteilt werden. Die »Andersdenkenden« vertragen sich. Allein warum sollte Ich nur anders über eine Sache denken, warum nicht das Andersdenken bis zu seiner letzten Spitze treiben, nämlich zu der, gar nichts mehr von der Sache zu halten, also ihr Nichts zu denken, sie zu ekrasieren? Dann hat die Auffassung selbst ein Ende, weil nichts mehr aufzufassen ist. Warum soll Ich wohl sagen: Gott ist nicht Allah, nicht Brahma, nicht Jehovah, sondern – Gott; warum aber nicht: Gott ist nichts, als eine Täuschung? Warum brandmarkt man Mich, wenn Ich ein »Gottesleugner« bin? Weil man das Geschöpf über den Schöpfer setzt (»Sie ehren und dienen dem Geschöpf mehr, denn dem Schöpfer«) und ein herrschendes Objekt braucht, damit das Subjekt hübsch unterwürfig diene. Ich soll unter das Absolute Mich beugen, Ich soll es.

Durch das »Reich der Gedanken« hat das Christentum sich vollendet, der Gedanke ist jene Innerlichkeit, in welcher alle Lichter der Welt erlöschen, alle Existenz existenzlos wird, der innerliche Mensch (das Herz, der Kopf) Alles in Allem ist. Dies Reich der Gedanken harret seiner Erlösung, harret gleich der Sphinx des ödipischen Rätselwortes, damit es endlich eingehe in seinen Tod. Ich bin der Vernichter seines Bestandes, denn im Reiche des Schöpfers bildet es kein eigenes Reich mehr, keinen Staat im Staate, sondern ein Geschöpf meiner schaffenden – Gedankenlosigkeit. Nur zugleich und zusammen mit der erstarrten, denkenden Welt kann die Christenwelt, das Christentum und die Religion selbst, zugrunde gehen; nur wenn die Gedanken ausgehen, gibt es keine Gläubigen mehr. Es ist dem Denkenden sein Denken eine »erhabene Arbeit, eine heilige Tätigkeit«, und es ruht auf einem festen Glauben, dem Glauben an die Wahrheit. Zuerst ist das Beten eine heilige Tätigkeit, dann geht diese heilige »Andacht« in ein vernünftiges und räsonierendes »Denken« über, das aber gleichfalls an der »heiligen Wahrheit« seine unverrückbare Glaubensbasis behält, und nur eine wundervolle Maschine ist, welche der Geist der Wahrheit zu seinem Dienste aufzieht. Das freie Denken und die freie Wissenschaft beschäftigt Mich – denn nicht Ich bin frei, nicht Ich beschäftige Mich, sondern das Denken ist frei und beschäftigt Mich – mit dem Himmel und dem Himmlischen oder »Göttlichen«, das heißt eigentlich, mit der Welt und dem Weltlichen, nur eben mit einer »andern« Welt; es ist nur die Umkehrung und Verrückung der Welt, eine Beschäftigung mit dem Wesen der Welt, daher eine Verrücktheit. Der Denkende ist blind gegen die Unmittelbarkeit der Dinge und sie zu bemeistern unfähig: er ißt nicht, trinkt nicht, genießt nicht, denn der Essende und Trinkende ist niemals der Denkende, ja dieser vergißt Essen und Trinken, sein Fortkommen im Leben, die Nahrungssorgen usw. über das Denken; er vergißt es, wie der Betende es auch vergißt. Darum erscheint er auch dem kräftigen Natursohne als ein närrischer Kauz, ein Narr, wenngleich er ihn für heilig ansieht, wie den Alten die Rasenden so erschienen. Das freie Denken ist Raserei, weil reine Bewegung der Innerlichkeit, der bloß innerliche Mensch, welcher den übrigen Menschen leitet und regelt. Der Schamane und der spekulative Philosoph bezeichnen die unterste und oberste Sprosse an der Stufenleiter des innerlichen Menschen, des – Mongolen. Schamane und Philosoph kämpfen mit Gespenstern, Dämonen, Geistern, Göttern.

Von diesem freien Denken total verschieden ist das eigene Denken, mein Denken, ein Denken, welches nicht Mich leitet, sondern von Mir geleitet, fortgeführt oder abgebrochen wird, je nach meinem Gefallen. Dies eigene Denken unterscheidet sich von dem freien Denken ähnlich, wie die eigene Sinnlichkeit, welche Ich nach Gefallen befriedige, von der freien, unbändigen, der Ich erliege.

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