Erstes Kapitel

Ein altes Schloß. – Clementina. – Die schöne Büßerin. – Lodi. – Gegenseitige Liebeserklärung ohne Furcht vor den Folgen.

Das herrschaftliche Schloß der kleinen Stadt Sant' Angelo ist ein sehr großes Gebäude; es ist mindestens achthundert Jahre alt, aber ganz unregelmäßig und von einem Baustil, aus welchem man nicht auf die Zeit der Errichtung schließen kann. Es besteht aus einem Erdgeschoß, das in eine Menge kleiner Kammern geteilt ist, einem Stockwerk, das mehrere große, sehr hohe Wohnräume enthält, und aus einem ungeheuren Dachboden. Die Mauern, obgleich an vielen Stellen geborsten, sind von einer Dicke, die dafür zeugt, daß unsere Vorfahren für ihre Urenkel bauten, was heutzutage nicht mehr vorkommt; denn wir fangen an, auf englische Art zu bauen, das heißt kaum für die gewöhnliche Lebensdauer eines Menschen. Die Treppen bestanden aus breiten Steinfließen, aber sie waren so abgenutzt, daß man beim Hinauf- wie beim Hinuntergehen sehr vorsichtig sein mußte. Die Fußböden bestanden überall aus Ziegeln, und da diese von verschiedenem Alter und vielleicht seit länger als einem Jahrhundert nicht neu gestrichen waren, so bildeten sie eine Art von Mosaik, die für das Auge nicht eben angenehm war. Die Fenster standen mit dem Ganzen in Einklang; da sie keine Scheiben hatten und da die Rahmen an mehr als einer Stelle das Gewicht von Läden nicht mehr hätten tragen können, so standen sie beständig offen, und kein einziges hatte einen Laden. Glücklicherweise machte sich in dem milden Klima dieser Mangel nicht besonders fühlbar. Zimmerdecken waren verpönt; ihre Stelle nahmen große Balken ein, und Nester aller Art, selbst von Nachtvögeln, nebst vielen Spinnengeweben vertraten die Arabesken.

In diesem gotischen Palast – denn es war weit mehr ein Palast als ein Schloß, da es weder Türme noch sonstige Abzeichen feudaler Macht hatte, mit Ausnahme des riesigen, sehr gut erhaltenen Familienschildes über der Torfahrt – in diesem Palast also, dem Denkmal des alten Adels der Grafen A.B., auf das sie mehr Wert legten als auf das schönste Gebäude, das sie für ihr Geld hätten erwerben können – in diesem Palast waren an drei Stellen vier oder fünf nebeneinander gelegene Zimmer, die etwas besser erhalten waren als die übrigen. Dies waren die Wohnräume der augenblicklichen Herren; denn es gab deren drei: meinen Freund, den Grafen A.B., den Grafen Ambrogio, der beständig im Schloß wohnte, und einen dritten, der als Offizier bei der Wallonischen Garde in Spanien stand. Die Wohnung dieses letzteren wurde mir angewiesen. Doch sprechen wir nun von der Aufnahme, die mir bereitet wurde.

Graf Ambrogio empfing mich am Tor des Schlosses wie den größten und mächtigsten Herrn. Die beiden Flügel waren weit geöffnet; aber ich will mir auf diesen Umstand nichts einbilden, denn es wäre unmöglich gewesen, sie zu schließen, da sie bereits vor Altersschwäche zusammenfielen.

Der edle Graf erschien, seine baumwollene Mütze in der Hand, in einem anständigen, aber vernachlässigten Anzuge, obwohl er kaum vierzig Jahre alt war. Er sagte mir mit ebenso edlem wie bescheidenem Anstand, sein Bruder habe unrecht getan, mich zur Besichtigung ihrer Armseligkeiten einzuladen. Ich würde bei ihnen nicht die Bequemlichkeiten finden, an die ich gewöhnt sei; dafür könne ich aber auf das Mailänder Herz rechnen. Dies ist eine Redensart, die die Mailänder beständig im Munde führen; da sie sie aber rechtfertigen, so steht sie ihnen gut. Sie sind im allgemeinen gut, ehrlich, dienstbereit und gastfreundlich; die Offenheit ihres Charakters beschämt die Piemontesen und Genuesen, ihre beiden Nachbarn.

Der gute Ambrogio stellte mich der Gräfin, seiner Gemahlin, und seinen beiden Schwägerinnen vor, von denen die eine eine vollendete Schönheit war, abgesehen von einer gewissen Verlegenheit, die aber offenbar nur von dem Mangel an Verkehr in guter Gesellschaft herrührte, denn sie kamen nur mit einigen Nachbarn zusammen, die von den guten Manieren der vornehmen Gesellschaft nicht viel wußten. Die andere Schwägerin war eine jener Frauen, von denen man nicht spricht, das heißt: weder schön noch häßlich und wie man sie zu Hunderten findet. Die Gräfin hatte ein Madonnengesicht von engelhafter Sanftheit, mit Würde und Unschuld gemischt. Diese drei Schwestern waren sehr jung, sehr adlig und sehr arm. Beim Essen sagte der Graf, er habe seine Frau trotz ihrer Armut geheiratet, weil er auf ihre Tugend und ihren Charakter mehr Wert lege als auf ihre Herkunft. »Sie macht mich glücklich«, rief er, »und obwohl sie mir nichts zugebracht hat, fühle ich mich doch von ihr bereichert, denn sie hat mich gelehrt, alles, was wir nicht haben, als überflüssig zu betrachten.«

»Dies«, sagte ich, »ist die wahre Philosophie eines Ehrenmannes.«

Hocherfreut über das Lob ihres Gatten und meine Zustimmung, lächelte die Gräfin ihm verliebt zu; dann nahm sie der Frau, die es trug, ein bildhübsches Püppchen von fünf oder sechs Monaten ab und reichte ihm ihren Busen, der weiß und fest wie Alabaster war. Dies ist das Vorrecht einer Mutter, die ihr Kind säugt; die Natur hat ihr gesagt, daß sie dadurch in keiner Weise die Scham verletzt. Man nimmt an, daß ihr Busen, der eine Quelle des Lebens geworden ist, in den Augen aller, die ihn sehen, kein anderes Gefühl als das der Achtung erwecken kann. Ich gestehe jedoch, daß dieser Anblick in mir ein zärtlicheres Gefühl hätte erwecken können; denn das Bild war entzückend, und hätte Raphael es vor Augen gehabt, so würde, davon bin ich überzeugt, seine schöne Madonna Vollkommenheiten erhalten haben, die uns an den erhabensten Schöpfungen der Malkunst noch unbekannt sind.

Das Essen, das Graf Ambrogio mir gab, wäre ausgezeichnet gewesen ohne die Ragouts, die ich abscheulich fand. Suppe, gesottenes Fleisch, frisches Pökelfleisch, Bratwürste, Mettwürste, Milchspeisen, Wild, Mascarponkäse, eingemachte Früchte – alles war köstlich; da aber sein Bruder ihm gesagt hatte, daß ich Feinschmecker sei und an die Tafel besonders große Ansprüche stelle, so glaubte der gute Ambrogio, mir recht raffinierte Gerichte geben zu müssen, und diese waren geradezu schlecht. Aus Höflichkeit mußte ich davon kosten; aber ich nahm mir vor, nicht wieder darauf anzubeißen. Nach Tisch nahm ich meinen Amphitryo bei Seite und machte ihm begreiflich, daß sein Tisch mit zehn Schüsseln einfacher Art und ohne jedes Ragout lecker und vorzüglich sein würde. Seitdem speiste ich jeden Tag ganz ausgezeichnet.

Wir waren sechs bei Tische, alle fröhlich und gesprächig, mit Ausnahme der schönen Clementina. So hieß die junge Gräfin, die auf mich einen so lebhaften Eindruck gemacht hatte. Sie sprach nur, wenn sie genötigt war, eine Antwort zu geben, und dabei errötete sie jedesmal; da ich jedoch kein anderes Mittel hatte, ihre schönen Augen zu sehen, als indem ich sie zwang, mit mir zu sprechen, so richtete ich tausend Fragen an sie. Als ich aber aus ihrem Erröten schließen mußte, daß ich ihr lästig wurde, so beschloß ich zuletzt, sie in Ruhe zu lassen und eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um mit ihr näher bekannt zu werden.

Endlich führte man mich auf mein Zimmer und ließ mich dort allein. Die Fenster waren mit Scheiben versehen und hatten Vorhänge wie die des Saales, worin wir gespeist hatten; aber Clairmont sagte mir: wenn ich ihn nicht von jeder Verantwortung entbinden wolle, wage er nicht meine Koffer auszupacken, denn weder Türen noch Kommoden hätten Schlüssel. Ich fand, daß er recht hätte, und suchte meinen Freund auf. Er antwortete mir: »Im ganzen Schloß gibt es nur zum Weinkeller Schlüssel; trotzdem ist hier alles in Sicherheit. In Sant' Angelo gibt es keine Diebe; und selbst wenn es welche gäbe, würden sie es nicht wagen, bei uns einzudringen.«

»Das glaube ich, mein lieber Graf; aber Sie sehen wohl ein, daß ich verpflichtet bin, überall Diebe anzunehmen; Sie werden begreifen, daß mein eigener Diener diese Gelegenheit benutzen könnte, mich zu plündern, ohne daß es mir möglich sein würde, ihn zu überführen; denn ich müßte natürlich schweigen, wenn ich bestohlen werden sollte.«

»Ich begreife es vollkommen. Morgen früh wird ein Schlosser Ihre Türen mit Schlössern versehen, und Sie werden im ganzen Schloß der einzige sein, der daran denkt, Maßregeln gegen Diebe zu ergreifen.«

Ich hätte ihm mit Juvenal antworten können: Cantat vacuus coram latrone viator – Unbekümmert um den Räuber singt der Wanderer mit leeren Taschen.

Aber ich würde ihn gekränkt haben. Ich sagte also zu Clairmont, er solle mit dem Öffnen meiner Koffer bis zum nächsten Tage warten, und ging mit dem Grafen A.B. und seinen beiden Schwägerinnen aus, um einen Spaziergang durch das Städtchen zu machen. Graf Ambrogio und seine schöne Ehehälfte blieben im Schloß, denn die liebenswürdige und zärtliche Mutter wich nicht einen Augenblick von ihrem Säugling. Die schöne Clementina war achtzehn Jahre alt, vier Jahre jünger als ihre verheiratete Schwester. Sie nahm meinen Arm an, und der Graf bot den seinigen der Gräfin Eleonora, indem er gleichzeitig zu mir sagte: »Wir wollen der schönen Büßerin einen Besuch machen.«

Auf meine Frage, wer die schöne Büßerin sei, antwortete er mir, ohne sich wegen seiner beiden Schwägerinnen Zwang anzutun: »Sie ist eine frühere Lais, die ein paar Jahre lang in Mailand wegen ihrer Schönheit in solchem Rufe stand, daß nicht nur aus Mailand, sondern auch aus den benachbarten Städten alle reichen Leute zu ihr strömten, um ihre Neugierde zu befriedigen. Ihr Haus öffnete und schloß sich täglich hundertmal, und diese außerordentliche Gastfreundschaft genügte noch nicht, um alle Begierden zu befriedigen, die sie erregte. Vor einem Jahre hat man nun diesem Skandal, wie die Frommen und alten Leute es nannten, ein Ende gemacht. Graf Firmian, ein gelehrter und geistreicher Mann, war nach Wien gegangen; vor seiner Rückreise erhielt er den Befehl, sie in dieses Kloster einsperren zu lassen. Die erhabene Maria Theresia hat der käuflichen Schönheit niemals verzeihen können. Der Graf mußte den Befehlen der sittengestrengen Herrscherin gehorchen und ließ also die schöne Sünderin einsperren. Man sagte ihr, sie sei schuldig, forderte ihr eine Generalbeichte ab und verurteilte sie zu lebenslänglicher Buße in diesem Kloster. Kardinal Pozzobonelli, der höchste Würdenträger des Ambrosianischen Ritus, erteilte ihr die Absolution und reichte ihr hierauf das Sakrament der Firmelung; zugleich veränderte er ihren Taufnamen Teresa in Maria Maddalena, um dadurch der schönen Sünderin den Weg zum ewigen Heil anzuzeigen und sie darauf hinzuweisen, daß sie in ihrer Buße ihrer neuen Schutzheiligen nacheifern solle, von der sie bisher nur die Ausschweifungen nachgeahmt habe. – Das Kloster, das unter dem Patronat unserer Familie steht, ist für Büßerinnen bestimmt. Es ist ein unzugänglicher Ort, wo die Eingesperrten unter der Aufsicht einer Oberin leben, deren sanfter Charakter wohl geeignet ist, ihnen die Qualen des Überganges von den Lüsten der Welt zu den härtesten Entbehrungen zu erleichtern. Sie können nur arbeiten und zu Gott beten. Sie sehen keinen anderen Mann als den Beichtvater, der ihnen täglich die Messe liest. Wir sind die einzigen, denen die Oberin den Zutritt zu diesem Gefängnis nicht verwehren kann; übrigens weist sie Personen, die mit uns kommen, niemals zurück.«

Diese Erzählung rührte mich tief; mir standen die Tränen in den Augen. Arme Maria Maddalena! Barbarische Kaiserin! Ich glaube an einer andern Stelle bereits erwähnt zu haben, weshalb sie diese strenge Tugend übte.

Wir ließen uns melden. Die Oberin empfing sofort den Grafen an der Tür und ließ uns in einen ziemlich großen Saal eintreten, wo ich, ohne fragen zu müssen, die berühmte Büßerin leicht unter fünf oder sechs anderen jungen Mädchen erkennen konnte, die wie sie büßen mußten, aber ohne Zweifel nur wegen geringer Sünden, denn sie waren häßlich oder doch jedenfalls nicht hübsch. Sobald die armen Mädchen uns erblickten, hörten sie auf zu nähen und zu stricken und standen ehrfurchtsvoll vor uns auf. Trotz ihrer groben Kleidung machte Teresa einen tiefen Eindruck auf mich. Welche Schönheit! Welche Majestät trotz ihrer demütigen Miene! Ich, mit meinen Augen eines Weltkindes, sah nicht die ungeheure Sünde, für die sie eine so tyrannische Behandlung erdulden mußte, sondern glaubte die verkörperte Unschuld in Gestalt einer büßenden Venus zu sehen. Ihre schönen Augen waren zu Boden gerichtet; aber wie groß war meine Überraschung, als sie sie plötzlich aufschlug, mich starr ansah und ausrief: »Gott! Was sehe ich! Heilige Jungfrau Maria, komme nur zu Hilfe! Hebe dich weg von hier, abscheulicher Sünder, obgleich du mehr als ich hier zu sein verdienst, du Schurke!«

Mir war nicht lächerlich zu Mute. Die Lage dieser Unglücklichen und ihre sonderbare Ansprache an mich zerrissen mir das Herz. Die Oberin sagte schnell zu mir: »Nehmen Sie keinen Anstoß daran, mein Herr; das unglückliche arme Mädchen ist wahnsinnig geworden, und falls sie Sie nicht etwa erkannt hat...«

»Sie kann mich unmöglich erkannt haben, hochwürdige Frau, ich sehe sie zum ersten Male in meinem Leben.«

»Ich glaube es Ihnen; aber verzeihen Sie ihr gütigst, denn sie hat den Verstand verloren.«

»Ach! Vielleicht ist dies eine Gnade vom lieben Gott.«

In Wirklichkeit sah ich in dem Ausfall der Büßerin mehr ein Anzeichen von gesundem Menschenverstand als von einem Wahnsinnsausfall; denn das arme Mädchen mußte entrüstet darüber sein, daß sie an diesem Orte ihrer Qualen meiner müßigen Neugier preisgegeben wurde. Ich fühlte mich tief bewegt, und eine Träne rann unwillkürlich über meine Wange. Der Graf, der sie kannte, lachte. Ich bat ihn, sich zusammenzunehmen. Aber die Sache war noch nicht zu Ende. Einen Augenblick darauf bekam die Unglückliche einen neuen Anfall. Von neuem brach sie in Schmähungen aus, die alle Anzeichen wahnsinniger Wut an sich trugen. Sie bat die Oberin, mich hinauszuweisen, denn ich hätte sie nur aufgesucht, um sie in Verdammnis zu stürzen. Die gute Dame machte ihr mit mütterlicher Milde einige Vorwürfe und ließ sie dann hinausbringen; sie sagte zu ihr, sie wäre im Irrtum, und die Besucher könnten keinen anderen Wunsch haben als den, zu ihrem Seelenheil mitzuwirken; aber sie beging auch die Härte, ihr zu sagen, niemand habe mehr gesündigt als sie, und die arme Maddalena verließ uns bitterlich weinend.

Hätte ich das Glück gehabt, an der Spitze eines siegreichen Heeres in Mailand einzuziehen, so wäre ganz gewiß mein erster Schritt gewesen, diese Unglückliche der Strafe zu entziehen, die eine Tyrannin ihr auferlegt hatte; die Äbtissin mit ihren honigsüßen Worten hätte ich durchgepeitscht, wenn sie Miene gemacht hätte, sich meinem Willen zu widersetzen.

Als Maddalena hinausgegangen war, sagte die Äbtissin zu uns, die Unglückliche habe alle Eigenschaften eines Engels, und wenn Gott sie vor dem Unglück bewahre, vollständig wahnsinnig zu werden, so bezweifle sie nicht, daß sie dereinst eine Heilige sein werde wie ihre Schutzpatronin. »Sie hat mich gebeten, aus dem Betsaal zwei Gemälde entfernen zu lassen, von denen das eine den heiligen Alois Gonzaga, das andere den heiligen Antonius darstellt, weil diese Bilder ihr unwiderstehliche Zerstreuungen verursachten. Ich habe geglaubt, ihrer Bitte nachkommen zu müssen, trotz dem Beichtvater, der in diesem Punkte keine Vernunft annehmen wollte.«

Der Beichtvater war ein Tölpel; dies sagte ich der Oberin nicht, doch ließ ich sie als eine kluge Frau meine Meinung über ihn erraten.

Traurig, schweigend und im Grunde unserer Herzen die Tyrannei der frommen Herrscherin verwünschend, die von ihrer Gewalt einen so kläglichen Gebrauch machte, verließen wir diesen Ort der Qual.

Wenn nach der wahren Lehre unserer heiligen Religion die Seele der Kaiserin Maria Theresia in der sogenannten Ewigkeit oder im anderen Leben einen Platz finden soll, so muß sie, vorausgesetzt, daß sie nicht bereut hat, in die Hölle kommen, selbst wenn sie weiter nichts Böses getan hätte, als daß sie auf tausenderlei Art die armen Mädchen quälte, die schon unglücklich genug sind, von dem Handel mit ihren Reizen leben zu müssen. Die arme Maddalena wurde wahnsinnig und litt an Höllenqualen, weil die Natur, die allgöttliche Herrscherin, sie mit der köstlichsten aller Gaben, Schönheit, und einem ausgezeichneten Herzen beschenkt hatte. Sie hatte Mißbrauch damit getrieben, das mag wohl sein; aber durfte wegen dieses Verbrechens, das ganz gewiß das kleinste von allen ist, und das für ein Verbrechen zu erklären nur Gott allein zusteht, eine Frau, die vielleicht eine größere Sünderin war als sie, ihr die allergrausamste Strafe auferlegen? Ich fordere jeden vernünftigen Menschen heraus, diese Frage mit ja zu beantworten!

Als wir nach dem Schloß zurückgingen, lachte Clementina, der ich den Arm gereicht hatte, von Zeit zu Zeit, sagte aber nichts. Ich war neugierig, worüber sie lachte, und sagte daher: »Dürfte ich es wagen, schöne Gräfin, Sie zu fragen, worüber Sie so ganz allein lachen?«

»Verzeihen Sie mir! Ich lachte nicht darüber, daß das arme Mädchen Sie erkannt hat, denn sie muß sich geirrt haben; aber ich muß unwillkürlich lachen, wenn ich daran denke, wie überrascht Sie waren, als Sie sie sagen hörten, Sie verdienten eher als sie in dieses Kloster eingesperrt zu sein.«

»Und vielleicht sind Sie der gleichen Meinung?«

»Ich? Gott bewahre! Aber sagen Sie mir, wie kommt es, daß die arme Unglückliche nicht meinen Schwager angegriffen hat?«

»Wahrscheinlich, weil ich ihr als ein größerer Sünder vorkam.«

»Ich glaube auch, das ist der einzige Grund; darum muß man auch niemals auf die Reden von Wahnsinnigen achten.«

»Schöne Gräfin, Sie sprechen ironisch; aber ich nehme Ihre Worte im Ernst. Ich bin vielleicht ein großer Sünder und sehe auch so aus; aber bedenken Sie, daß die Schönheit mir Nachsicht schuldet, denn für gewöhnlich bin ich nur durch sie verführt worden.«

»Ich finde es eigentümlich, daß die Kaiserin sich nicht den Spaß macht, ebensogut die Männer einsperren zu lassen wie die Frauen.«

»Sie hofft vielleicht viele Männer zu ihren Füßen zu sehen, wenn sie keine Mädchen mehr finden.«

»Ein schlechter Witz! Sagen Sie lieber, sie kann ihren Schwestern die Verletzung einer Tugend nicht verzeihen, die sie selber im höchsten Grade besitzt und die außerdem so leicht auszuüben ist.«

»Ich zweifle nicht im geringsten, mein gnädiges Fräulein, an der Tugend der Kaiserin: aber – mit Ihrer gütigen Erlaubnis – im allgemeinen bezweifle ich sehr, daß es so leicht ist, wie Sie glauben, die Tugend auszuüben, die man Enthaltsamkeit nennt.«

»Jeder spricht und denkt ohne Zweifel nach den Begriffen, die er durch Selbstprüfung gewinnt. Oft hält man Mäßigkeit für eine Tugend bei einem Menschen, dem sie durchaus nicht als Verdienst anzurechnen ist. Sie finden vielleicht schwierig, was mir sehr leicht erscheint, und umgekehrt. Wir können wohl alle beide recht haben.«

Diese interessante und geistreiche Unterhaltung veranlaßte mich, Clementina mit meiner schönen Mailänder Marchesa zu vergleichen; zwischen ihnen bestand nur der Unterschied, daß Fräulein Q. ihre Meinungen sehr anspruchsvoll vorbrachte, und daß die junge Gräfin ihre Weltanschauung auf völlig naive Weise und mit dem Ton vollkommener Gleichgültigkeit auseinandersetzte. Ich fand bei ihr einen so gesunden Verstand, eine so sorgfältig gepflegte und doch natürliche Ausdrucksweise, daß ich beschämt war, sie bei Tische so verkehrt beurteilt zu haben. Ihr Schweigen und ihr plötzliches Erröten, sobald sie auf irgend eine Frage antworten mußte, hatten in mir den Verdacht erregt, daß ihre Ideen sich in einer gewissen Verwirrung befänden, die mir nicht zugunsten ihres Geistes zu sprechen schien; denn allzu große Schüchternheit ist oft nur Dummheit. Aber das Gespräch, das ich soeben berichtet habe, brachte mich auf ganz andere Ansichten. Die schöne Marchesa war im Wortgefecht gewandter als Clementina, weil sie älter war und mehr in der Welt verkehrt hatte; aber Clementina war zweimal meiner Frage auf eine sehr feine, geistreiche Art ausgewichen, und dies ist für ein Fräulein von guter Herkunft die allerhöchste Kunst; ich sah mich daher genötigt, ihr die Palme zuzuerkennen.

Im Schlosse fanden wir eine Dame mit ihrem Sohn und ihrer Tochter und außerdem einen Verwandten des Grafen, einen jungen Abbate, der mir im höchsten Maße mißfiel.

Er war ein unbarmherziger Schwätzer, behauptete, mich in Mailand gesehen zu haben, und glaubte sich dadurch berechtigt, mich auf eine ekelhafte Art anzuschmeicheln. Außerdem liebäugelte er mit Clementina, und ich war sehr wenig geneigt, einen solchen Schwätzer zum Freunde oder zum Nebenbuhler zu haben. Ich sagte ihm daher sehr kurz angebunden, ich könne mich durchaus nicht erinnern, ihn irgendwo gesehen zu haben; aber diese Grobheit, die jeden zartfühlenden Menschen zurückgeschreckt hätte, brachte ihn durchaus nicht in Verlegenheit. Er setzte sich neben Clementina, ergriff ihre Hand und lud sie ein, meine Eroberung zu machen. Seine Bemerkungen waren so flach, daß das junge Mädchen nur darüber lachen konnte; ich fühlte dies, aber ich war verdrießlich, und ihr Lachen mißfiel mir. Mir schien, sie hätte ihm antworten müssen – ja, was, das wußte ich selber nicht, aber jedenfalls irgend etwas Kränkendes. Aber ganz im Gegenteil! Als der Unverschämte ihr etwas ins Ohr flüsterte, antwortete sie ihm ebenso, und ich fand das ganz abscheulich. Als bei irgend einer Gelegenheit jeder seine Meinung äußerte, forderte der Abbate mich auf, auch meine Ansicht zu sagen. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm sagte, aber ich erinnere mich, daß meine Antwort kaustisch war. Ich hoffte ihn dadurch zum Schweigen zu bringen und ihn verdrießlich zu machen; aber er schien wie ein gutes Trompeterpferd an alle Töne gewöhnt zu sein: nichts brachte ihn außer Fassung. Er legte bei Clementina Berufung ein, und mir widerfuhr die Kränkung, hören zu müssen, daß sie ihm, wenn auch errötend, recht gab. Befriedigt ergriff der Geck die Hand der jungen Gräfin und küßte sie mit dem Ausdrucke höchsten Glückes. Das war zu viel! Ich konnte nicht mehr an mich halten und haßte nun Clementina ebensosehr wie den Abbate. Ich stand auf und trat an ein Fenster.

Das Fenster ist ein ausgezeichneter Zufluchtsort für einen ärgerlichen Menschen, den der gute Ton zu einiger Zurückhaltung nötigt. Dort kann er denen, die ihm lästig fallen, den Rücken zudrehen, ohne daß man ihn geradezu der Unhöflichkeit beschuldigen könnte; aber man errät seinen Verdruß, und dies ist für ihn eine Erleichterung.

Ich habe diesen Umstand nur berichtet, um darauf hinzuweisen, wie ungerecht verdrießliche Laune die Menschen macht, die sich ihr überlassen. Der arme Abbate mißfiel mir, weil er Clementinen schmeichelte, in die ich bereits verliebt war, ohne mir selber Rechenschaft darüber gegeben zu haben; ich sah in ihm einen Nebenbuhler, der mich verletzte. In Wirklichkeit hatte er mich ganz und gar nicht beleidigt, sondern alles aufgeboten, um mir zu gefallen, und ich hätte seinen guten Willen anerkennen müssen. Übrigens war dieser Hang, mich unter dergleichen Umständen meiner verdrießlichen Laune zu überlassen, stets einer der kennzeichnenden Züge meines Geistes; heute ist es zu spät, um mir noch Mühe zu geben, mich von diesem Fehler zu heilen. Ich glaube sogar, dies nicht mehr nötig zu haben; denn wenn mir so etwas zuweilen noch begegnet, setzen meine Zuhörer mich in höflicher Weise, aber ohne ein Wort zu sagen, um ein halbes Jahrhundert zurück. Unglücklicherweise bin ich gezwungen, innerlich ihnen recht zu geben.

Clementina hatte mich gänzlich außer Fassung gebracht, und dies war ihr in wenigen Stunden gelungen. Allerdings war ich von sehr leicht entzündlicher Natur; niemals aber hatte bis dahin eine Schöne in so kurzer Zeit eine derartige Verheerung in meinem Innern angerichtet. Da ich fühlte, daß ich ganz der ihrige war, so glaubte ich, alles aufbieten zu müssen, um sie dahin zu bringen, ganz mein zu sein. An dem Gelingen zweifelte ich nicht einen Augenblick. Ich gestehe, daß meine Zuversicht eine starke Beimischung von Geckenhaftigkeit hatte, es lag aber auch eine vernünftige Bescheidenheit darin; denn ich fühlte, daß ich viele Schwierigkeiten würde ebnen müssen, um ihr Herz rühren zu können, und daß das geringste Hindernis meinen Plan zum Scheitern bringen könnte. Darum sah ich in dem Abbate eine Wespe, die zerquetscht werden mußte. Die Eifersucht, das schrecklichste aller Gefühle, das wie ein wahres Gift am Herzen frißt, hatte sich eingemischt und machte mich ungerecht gegen Clementina; denn ich bildete mir ein, sie sei, wenn auch nicht in diesen Affen verliebt, so doch nachsichtig gegen ihn, und von diesem Gedanken erfüllt, verspürte ich eine entsetzliche Rachsucht, die ich gerne an ihr ausgelassen hätte. Die Liebe ist die Gottheit der Natur; aber was ist die Natur, wenn ihre Gottheit ein unartiges Kind ist? Wir kennen es, wir wissen, was für seltsame Launen es hat, und doch beten wir es an.

Mein Freund, der Graf, wunderte sich vielleicht, daß ich mich so lange Zeit damit beschäftigte, den Himmel anzustarren; er trat zu mir heran und fragte mich in herzlichem Tone, ob ich vielleicht irgend etwas nötig hätte. Ich antwortete ihm: »Ich habe ein paar Geschäfte im Kopf und werde in mein Zimmer gehen, um vor dem Abendessen noch einige Briefe zu schreiben.«

»Wie?« rief er, »Sie wollen uns verlassen! Clementina, helfen Sie mir doch, Herrn von Seingalt zurückzuhalten. Sie müssen ihn dahin bringen, daß er das Briefschreiben aufgibt.«

»Aber, lieber Schwager,« versetzte das reizende Mädchen, »wenn der Herr Geschäfte hat, wäre es doch unhöflich von mir, wollte ich versuchen, ihn zurückzuhalten.«

Ich fand den Einwand boshaft, obgleich ich mich nicht enthalten konnte, ihn vernünftig zu finden; aber mein Verdruß wurde dadurch nicht vermindert, wie ja jeder Umstand dem Ärger frische Nahrung gibt, wenn ein Mensch einmal übler Laune ist. Da kam auch der Abbate und sagte mir mit gutmütiger Herzlichkeit, ich täte besser, eine Pharaobank aufzulegen. Da alle Welt ihm beistimmte, so mußte ich einwilligen.

Man brachte Karten und Spielmarken von verschiedenen Farben. Ich setzte mich und legte dreißig Dukaten vor mich hin. Dies war eine sehr starke Summe für eine Gesellschaft, die sich nur amüsieren wollte; denn man mußte fünfzehn Marken verspielen, um eine Zechine zu verlieren. Die Gräfin Ambrogio setzte sich mir zur Rechten, und der Abbate nahm sich's heraus, sich zu meiner Linken zu setzen. Wie wenn sie sich verabredet hätten, mich zu ärgern, machte Clementina ihm Platz. Dies war im Grunde ganz natürlich; ich aber fand es unverschämt und sagte zum Bäffchenträger, ich zöge stets nur zwischen zwei Damen an und niemals an der Seite eines Priesters.

»Sie glauben, das würde Ihnen Unglück bringen?«

»Ich liebe die Unglücksvögel nicht.«

Clementina stand auf und nahm seinen Platz ein.

Nach drei Stunden meldete man, daß das Abendessen aufgetragen sei. Alle hatten von meiner Bank gewonnen, mit Ausnahme des Abbate; der arme Teufel hatte zwanzig Zechinen in Marken verloren.

Als Verwandter blieb der Abbate zum Abendessen; die Dame aber und ihre Kinder ließen sich trotz aller Anstrengungen nicht zurückhalten.

Als ich die Betrübnis des Abbate sah, kehrte meine gute Laune zurück und mit ihr die Lust zu scherzen. Ich begann Clementina Komplimente zu machen, und da sie auf tausend Fragen antworten mußte, so versetzte ich sie in die Notwendigkeit, ihren Geist leuchten zu lassen, und ich las in ihren Blicken, daß sie mir dafür dankbar war. Dies stimmte mich versöhnlich, und ich hatte Mitleid mit dem Abbate. Um ihn aufzumuntern, redete ich ihn freundlich an und fragte ihn nach seiner Meinung über eine aufgeworfene Frage.

»Ich habe nicht darauf geachtet,« antwortete er mir, »aber ich hoffe, Sie werden mir nach dem Abendessen Gelegenheit geben, meinen Verlust wieder wett zu machen.«

»Nach dem Abendessen, Herr Abbate, werde ich zu Bett gehen; aber morgen, wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen Genugtuung geben, soviel sie wollen, vorausgesetzt, daß das Spiel meinen reizenden Gastgeberinnen Spaß macht. Ist das Glück Ihnen heute feindlich gewesen, so hoffe ich, es wird Ihnen ein anderes Mal günstiger sein.«

Nach dem Abendessen ging der Abbate sehr traurig fort. Der Graf brachte mich auf mein Zimmer, wünschte mir gute Nacht und sagte, ich könne ruhig schlafen; meine Tür habe allerdings keinen Schlüssel, seine Schwägerinnen aber, die nebenan schliefen, wären nicht besser geschützt als ich.

Ich war über dieses Vertrauen nicht weniger erstaunt und entzückt als über die prachtvolle Gastfreundschaft, die diese wackere Familie mir erzeigte. Ich nenne diese Gastfreundschaft prachtvoll, denn alles auf der Welt ist relativ.

Ich befahl Clairmont, sich mit dem Einwickeln meiner Haare zu beeilen, weil ich ruhebedürftig sei. Er war mit seiner Arbeit kaum halbfertig, als ich durch das Eintreten der schönen Clementina angenehm überrascht wurde. Sie sagte zu mir: »Mein Herr, da wir keine Kammerzofe haben, die die Besorgung Ihrer Wäsche übernehmen könnte, so möchte ich Sie bitten, dies mir zu gestatten.«

»Sie, reizende Gräfin, wollen dies tun?«

»Jawohl, ich; und ich bitte Sie, sich meiner Absicht nicht zu widersetzen. Ich mache mir ein Vergnügen daraus, ja noch mehr, ich hoffe mir ein Lob zu verdienen. Lassen Sie mir das Hemd geben, das Sie morgen anziehen wollen, und bitte, keine Widerrede!«

»Ich füge mich, mein gnädiges Fräulein.«

Nachdem ich mit Hilfe von Clairmont den Koffer, der meine Wäsche enthielt, in ihr Zimmer geschleppt hatte, fuhr ich fort: »Ich brauche jeden Tag ein Hemd, eine Halsbinde, ein Kamisol, eine Unterhose, ein Paar Strümpfe, zwei Taschentücher; aber die Wahl ist mir gleichgültig, und ich überlasse diese Ihnen, wie ich Ihnen alles überlassen möchte. Ich bin glücklicher als Jupiter und werde glücklich schlafen. Leben Sie wohl, reizende Hebe!«

Ihre Schwester Eleonora, die schon im Bett lag, konnte gar kein Ende finden, mich um Entschuldigung zu bitten. Ich befahl Clairmont, auf der Stelle dem Grafen zu melden, daß ich keine Schlösser mehr an meinen Türen haben wolle. Konnte ich wohl wegen meiner paar Lumpen argwöhnisch sein, da ich sah, daß diese köstlichen Wesen nicht die geringste Besorgnis vor meiner Neugier hatten? Ich hätte befürchten müssen, sie zu beleidigen.

Ich hatte ein ausgezeichnetes Bett und schlief vortrefflich. Clairmont war gerade dabei, mein Haar zu machen, als meine junge Hebe mit einem Korb in ihren hübschen Händen sich meinen Blicken darbot.

»Ich hoffe,« sagte sie zu mir, nachdem sie mir guten Morgen gewünscht hatte, »Sie werden mit meiner Geschicklichkeit zufrieden sein.«

Ich sah sie entzückt an, denn nicht das geringste Anzeichen auf ihrem wonnigen Gesicht verriet jene falsche Scham, die dem Vorurteil des Adelsstolzes entspringt. Die leichte Röte, die ihre Stirn überzog, verriet im Gegenteil die Befriedigung, die sie empfand – eine Befriedigung, deren nur stolze Seelen fähig sind, auf denen nicht der dumme Stolz lastet, der Emporkömmlingen und eitlen Tröpfen eigen ist. Ich küßte ihr die Hand und sagte, niemals habe mir ein Anblick so gut gefallen.

Mein Freund trat ein und dankte Clementina für ihre Aufmerksamkeit gegen mich. Dies fand ich sehr gut; aber er begleitete seine Danksagungen mit einem Kuß, den sie aufs beste hinnahm, und das fand ich sehr übel. Aber, wird man mir einwenden, er war doch ihr Schwager, und sie war seine Schwägerin. Das gebe ich gerne zu; aber ich war einmal eifersüchtig, und damit ist alles gesagt. Die Natur ist klüger als ihre Menschen, und die Natur sagte mir, daß ich recht hätte. Es ist unmöglich, auf eine Geliebte, deren Besitz man noch nicht errungen hat, nicht eifersüchtig zu sein, denn man muß stets befürchten, daß die Begehrte durch einen anderen einem geraubt wird.

Der Graf zog einen Brief aus der Tasche, überreichte ihn mir und bat mich, ihn zu lesen. Er war von seinem Vetter, dem Abbate, der ihn ersuchte, ihn bei mir zu entschuldigen, daß er die verlorenen zwanzig Zechinen mir nicht innerhalb der im Ehrenkodex der Spieler vorgeschriebenen Frist bezahlen könne; er werde seine Schuld im Lauf der Woche begleichen.

»Gut, mein lieber Herr Graf, sagen Sie Ihrem Vetter, er möge mir ohne alle Umstände die Schuld bezahlen, wenn es ihm paßt; dies solle seiner Ehre kein Abbruch tun. Aber machen Sie ihn darauf aufmerksam, daß er heute Abend nicht spielen darf; ich würde seine Sätze nicht halten.«

»Aber er kann doch mit barem Gelde spielen?«

»Nicht, bevor er mich bezahlt hat; denn er würde mit meinem Gelde setzen. Übrigens ist die ganze Sache eine Lappalie, und es wird mir angenehm sein, wenn er sich hinsichtlich der Bezahlung keine Unbequemlichkeit macht.«

»Er wird sich gekränkt fühlen.«

»Um so besser!« sagte Clementina. »Warum hat er den Vorschlag gemacht, zu spielen, und vor allen Dingen, warum spielt er auf Wort, wenn er doch weiß, daß er nicht sofort bezahlen kann? Dies wird eine gute Lehre für ihn sein.«

Dieser Ausfall war Balsam für mein Herz. So ist der Mensch: Die Leidenschaft macht ihn hart und eigensüchtig. Aber so ist nun einmal seine Natur.

Der Graf antwortete mir nicht und ließ uns allein.

»Reizende Clementina,« sagte ich zu dem Mädchen, »ich flehe Sie an, seien Sie aufrichtig: Sagen Sie mir, ob die etwas derbe Art, wie ich den Abbate behandelte, Ihnen unangenehm ist. Ich werde Ihnen zwanzig Zechinen geben, die Sie ihm schicken können. So kann er sie mir heute Abend aufzählen und dadurch eine gute Figur spielen. Ich verspreche Ihnen, daß niemals ein Mensch etwas davon erfahren soll.«

»Ich danke Ihnen. Ich nehme an der Ehre des Abbate nicht so viel Anteil, um Ihr Anerbieten anzunehmen. Es ist für ihn ganz gut, wenn er diesen Denkzettel bekommt. Eine kleine Beschämung wird ihm vielleicht Lebensart beibringen.«

»Sie werden sehen, er wird heute Abend nicht kommen.«

»Das kann wohl sein; aber glauben Sie, das würde mir leid tun?«

»Das hätte ich wohl annehmen dürfen.«

»Warum denn? Gewiß doch nur, weil er mit mir gescherzt hat? Der Abbate ist ein Windbeutel, aus dem ich mir ganz und gar nichts mache.«

»Da ist er ebensosehr zu beklagen, wie derjenige, aus dem Sie sich etwas machen, sich beglückt fühlen muß.«

»Dieser Mensch ist vielleicht noch gar nicht geboren.«

»Wie? Sie waren noch keinem Manne begegnet, der Ihrer Aufmerksamkeit würdig gewesen wäre?«

»Sehr vielen, die meiner Aufmerksamkeit würdig sind; aber das genügt nicht für mich, um mir etwas aus ihnen zu machen. Dazu müßte ich jemanden finden, den ich lieben würde.«

»Sie haben also niemals geliebt?«

»Niemals.«

»Also ist Ihr Herz leer!«

»Da muß ich lachen. Ist es ein Glück? Ist es ein Unglück? Das ist noch sehr die Frage. Wenn es ein Glück ist – so wünsche ich mir Glück dazu; ist es ein Unglück –- was macht es mir aus, da ich es ja nicht empfinde?«

»Nichtsdestoweniger ist es ein Unglück; davon werden Sie von dem Tage an überzeugt sein, an dem Sie zum erstenmal lieben.«

»Und wenn ich in der Liebe unglücklich sein würde, müßte ich dann nicht finden, daß die Herzensleere für mich ein Glück war?«

»Das kann ich nicht leugnen; aber es scheint mir unmöglich zu sein, daß Sie in der Liebe unglücklich sein könnten.«

»Diese Unmöglichkeit ist nur allzuleicht möglich. Damit ich glücklich werde, ist eine gegenseitige Übereinstimmung nötig; eine solche ist nicht leicht, und noch schwieriger, glaube ich, ist die Dauer dieser Übereinstimmung.«

»Das gebe ich zu; aber Gott hat uns dazu erschaffen, dies zu wagen.«

»Ein Mann kann solches Bedürfnis haben und sein Vergnügen daran finden, ein junges Mädchen aber ist anderen Gesetzen unterworfen.«

»Die Natur macht keinen Unterschied in den Bedürfnissen, sondern nur in den Folgen; die Anstandsgebote sind nur von der Gesellschaft aufgestellt worden.«

In diesem Augenblick unterbrach uns der Graf. Er war erstaunt, uns noch beisammen zu finden, und sagte zu uns: »Ich wollte, ihr verliebtet euch ineinander!«

»Sie wünschen uns also unglücklich zu sehen«, sagte Clementina.

»Wieso denn, schöne Gräfin?« rief ich aus.

»Ich würde unglücklich werden, weil ich einen Unbeständigen lieben würde, und Sie, weil Sie Gewissensbisse empfinden und damit die Vernichtung meiner Ruhe teuer erkaufen würden!«

Nach diesem schönen Ausspruch schlüpfte sie hinaus.

Ich war wie versteinert; der Graf aber, der in seinem ganzen Leben noch nie nachgedacht hatte, rief aus: »Die reizende Clementina ist zu romantisch. Nun, sie ist ein junges Mädchen; das wird sich schon geben.«

Wir gingen zur Gräfin, um ihr guten Tag zu sagen, und fanden sie damit beschäftigt, ihrem lieben Säugling die Brust zu geben.

»Wissen Sie auch, liebe Schwester,« sagte der Graf zu ihr, »daß der Herr Chevalier in Clementina verliebt ist, und daß sie seine zärtlichen Gefühle erwidert?«

»Ich möchte gern,« sagte die Gräfin lächelnd, »daß wir durch eine rechte Heirat Verwandte würden.«

Das Wort Heirat ist ein Zauberwort, das oft nur dazu dient, der allerschmeichelhaftesten Idee eine Maske zu geben. Die Antwort der Gräfin gefiel mir sehr, und ich erwiderte sie durch eine herzliche Verneigung, obwohl dieses Wort stets eine sehr zarte Saite in meinem Herzen anschlug.

Wir gingen aus, um der Dame vom vorigen Tage einen Gegenbesuch zu machen. Wir fanden bei ihr einen Domherrn, der mir die größten Schmeicheleien sagte und mein Vaterland pries, das er zu kennen glaubte, weil er die Geschichte Venedigs gelesen hatte. Schließlich fragte er mich, was denn das für ein Orden sei, dessen Kreuz ich um den Hals trage. Ich antwortete ihm mit einer Miene bescheidenen Stolzes, es sei ein Zeichen des Wohlwollens, womit unser Heiliger Vater, der Papst, mich beehrt habe, indem er mich aus eigenem Antrieb zum Ritter des heiligen Johannes vom Lateran und zum Apostolischen Protonotar gemacht habe.

Der Mönch war nie auf Reisen gewesen. Er war ein liebenswürdiger Mann, aber wenn er Weltkenntnis besessen hätte, so hätte er diese Frage nicht an mich gerichtet. Er wollte mich jedoch durchaus nicht beleidigen, sondern glaubte vielmehr allen Ernstes, mir eine Ehre zu erweisen, indem er mir seine Teilnahme bezeigte und mir Gelegenheit gäbe, von meinen Verdiensten zu sprechen.

Es gibt eine Menge Fragen, die in einer Gesellschaft aufrichtiger Menschen nicht unbescheiden zu sein scheinen, es aber dennoch sind. Der Orden vom Goldenen Sporn ist so verrufen, daß er für mich eine wahre Folterqual war, wenn man mit mir darüber sprach, während mir dies ohne Zweifel sehr angenehm gewesen wäre, wenn ich kurz und bündig hätte antworten können: »Es ist das goldene Vließ.« So aber erforderte, nachdem ich die Wahrheit gesagt hatte, die verletzte Eitelkeit, zu meiner Rechtfertigung einen Kommentar hinzuzufügen, und dies war für mich eine wahre Fron. Ich kann sagen, für mich war mein Kreuz ein wahres Kreuz, eine wirkliche Qual; da es aber ein prachtvolles Schmuckstück war, das auf die überall so zahlreichen Dummköpfe Eindruck machte, so trug ich es sogar zu meinem Morgenanzug.

Der portugiesische Christus-Orden ist ebenso verrufen wie der Goldene Sporn, weil der Papst das Vorrecht hat, ihn ebenso wie Seine Allergetreueste Majestät zu verleihen.

Auf den Roten Adler-Orden legt man erst Wert, seitdem der König von Preußen Großmeister des Ordens ist; vor dreißig Jahren hätte kein anständiger Mensch sich mit diesem Orden zu schmücken gewagt, weil der Markgraf von Bayreuth ihn dem ersten Besten für bares Geld verkaufte.

Das blaue Band des Michael-Ordens ist heutzutage angesehen, weil der Kurfürst von Bayern es verleiht; früher wollte kein Mensch es haben, weil man es zu billigem Preise von den Höflingen des Kölner Kurfürsten erhielt. Diese hatten den Orden an eine Menge von Leute weggeworfen, die eher würdig gewesen wären, auf ihrem Rücken eine Galgenleiter zu tragen als auf ihrer Brust ein Ehrenkreuz. Vor fünf Jahren sah ich in Prag einen Ritter dieses Ordens; aber man durfte ihn nicht fragen, von wem er ihn bekommen hätte.

Die Sucht nach Ordenssternen wächst mit der Verderbnis der Sitten. Je tiefer man in seiner eigenen Meinung steht – denn kein Mensch täuscht sich selber, wenn er mit seinem Gewissen Zwiesprache hält – desto mehr ist man bestrebt, in den Augen anderer Menschen ausgezeichnet zu erscheinen. Die Eitelkeit der Menschen, die Geldgier der Regierungen und vor allen Dingen die Käuflichkeit der Höflinge haben es denn auch dahin gebracht, daß Ordenszeichen für niemanden mehr eine wirklich ehrenvolle Auszeichnung sind. Bedenkt man die Verschiedenheit der Abzeichen, Ordensbänder und Wahlsprüche, so gibt es keinen noch so gelehrten Mandarin, der sich schmeicheln könnte, sie alle in seinem Gedächtnis zu beherbergen. Außer den Orden der gekrönten Häupter und kleinen Fürsten gibt es eine Menge Ordenszeichen von obskuren Domkapiteln, Privatgesellschaften, Akademien, Jagd-, Musik- und Betvereinen und vielleicht sogar von Gesellschaften Liebender. Wie soll man aus diesem Chaos die Ordensabzeichen von Verschwörern und vielleicht sogar Gaunern herauskennen?

Was die Ordenszeichen der Frauen anbetrifft, so genügt für jeden anständigen Mann der gesunde Menschenverstand, um sich der Frage zu enthalten, was dieses oder jenes verborgene Medaillon, eine auffällig angebrachte Busennadel oder ein in einem Ring getragenes Porträt bedeute. Derartige Sächelchen haben niemals etwas zu bedeuten. Man muß die Frauen lieben, aber nicht auf ihre Geheimnisse neugierig sein, zumal da sie im allgemeinen selber diesen Spielereien keinen Wert beilegen, sondern nur Neugierde zu erregen beabsichtigen.

Es ist so weit gekommen, daß man in der guten Gesellschaft, wenn man für einen höflichen Mann gelten will, niemanden mehr nach seiner Heimat fragen kann; denn wenn der Betreffende, den du fragst, Normanne oder Kalabreser ist, so muß er dich um Entschuldigung bitten, indem er es dir eingesteht, und ein Wandtländer wird dir sagen, er sei Schweizer.

Ebenso wirst du einen vornehmen Herrn nicht nach seinem Wappen fragen; denn wenn er die heraldischen Fachausdrücke nicht kennt, bringst du ihn in Verlegenheit. Du darfst keinem Menschen ein Kompliment wegen seiner schönen Haare machen; denn vielleicht trägt er eine Perücke, und dann wäre dein Kompliment eine Beleidigung. Ich lobte einmal die schönen Zähne einer Frau; ein paar Tage darauf sah ich durch eine kleine Indiskretion die Rechnung ihres Zahnarztes. Ich erinnere mich, daß man mich, als ich vor fünfzig Jahren nach Frankreich kam, unhöflich fand, weil ich eine junge Gräfin nach ihrem Taufnamen fragte. Sie wußte ihn nicht. Ein anderes Mal befriedigte ein Stutzer, der unglücklicherweise Jean hieß, meine ungezogene Neugier, indem er mir einen Degenstich anbot.

In London gilt es für die allergrößte Unhöflichkeit, jemanden nach seiner Religion zu fragen; auch in Deutschland kann dies der Fall sein; denn ein Herrenhuter oder ein Wiedertäufer werden ungern sagen, wes Glaubens sie sind. Wenn dir also daran liegt, bei allen Leuten beliebt zu sein, so ist es das sicherste, keinen Menschen nach etwas zu fragen, nicht einmal ob er einen Louis wechseln kann.

Clementina war während des Mittagessens zum Entzücken, denn sie antwortete anmutig, geistreich und gewandt auf alle Fragen, die ich an sie richtete. Allerdings waren ihre Bemerkungen für die anderen zum Teil verloren, denn der Geist wird erstickt durch die Dummheit derer, die ihn nicht verstehen; mir aber bereitete sie ein unsägliches Vergnügen.

Da sie mir zu oft einschenkte, machte ich ihr einen sanften Vorwurf, und dieser führte ein Gespräch herbei, durch das sie mich vollends bezwang:

»Sie beklagen sich mit Unrecht,« sagte sie zu mir, »denn es ist Hebes Pflicht, den Becher des Herrn der Götter stets gefüllt zu halten.«

»Sehr gut; aber Sie wissen doch, daß Jupiter sie zurückwies.«

»Allerdings; aber ich weiß auch weshalb, und ich werde niemals eine solche Ungeschicklichkeit begehen wie sie. Niemals wird aus solchem Grunde ein Ganymed meinen Platz einnehmen.«

»Das ist sehr vernünftig. Jupiter hatte unrecht; darum nehme ich von Stund an den Namen Herkules an. Ist Ihnen das recht, schöne Hebe?«

»Nein; denn er hat sie erst nach seinem Tode geheiratet.«

»Das ist wieder wahr; so kann ich also nur Iolas sein, denn...«

»Schweigen Sie! Iolas war alt.«

»Allerdings. Auch ich war gestern alt, aber ich bin es nicht mehr: Sie haben mich jung gemacht.«

»Das freut mich, lieber Iolas; aber bedenken Sie, was ich mit ihm machte, als er mich verließ!«

»Was machten Sie denn mit ihm? Ich erinnere mich dessen nicht.«

»Das glaube ich nicht.«

»Sie können mir's glauben.«

»Ich nahm ihm das Geschenk, das ich ihm gemacht hatte.«

Bei diesen letzten Worten wurde das reizende Gesicht des erstaunlichen Mädchens feuerrot. Ich hätte gedacht: ich würde meine Hand verbrennen, hätte ich sie auf ihre Stirn gelegt; aber die Funken, die ihre schönen Augen sprühten, drangen mir ins Herz und erfüllten es mit eisigem Frost.

Seid mir nicht böse, ihr Naturwissenschaftler, wenn ich sage, daß das Feuer ihrer Blicke mich in Eis verwandelte. Ich gebe das nicht für ein Wunder aus; es ist vielmehr eine ganz natürliche Erscheinung, die jeden Tag vorkommt, die ihr aber vielleicht noch niemals bemerkt habt. Eine große Liebe, die den Menschen über sich selber erhebt, ist ein mächtiges Feuer, dem ein Frost von derselben Stärke, wie ich ihn damals verspürte, die Spitze bieten muß; denn wenn die Glut länger als eine Minute gedauert hätte, so würde sie mich getötet haben.

Die überlegene Art, wie Clementina die Fabel von der Hebe angewandt hatte, hatte mir gezeigt, daß das reizende Mädchen nicht nur eine gründliche Kennerin der Mythologie war, sondern daß sie auch einen gesunden, tiefen und nachdenklichen Verstand hatte. Sie hatte mir nicht nur bewiesen, daß sie Kenntnisse besaß, sondern mehr als das, sie hatte mich erraten lassen, daß ich ihre Teilnahme erregte, daß sie an mich gedacht hatte und daß sie mich auf eine angenehme Weise hatte überraschen wollen. Alle diese Gedanken dringen gleichzeitig auf einen Mann ein, dessen Herz bereits vorher eingenommen war, und dann entzünden sie alle seine Sinne zu heller Glut. Im Nu war ich frei von allen Zweifeln: ich sah klar und deutlich, daß Clementina mich liebte, und zog daraus natürlich den Schluß, daß wir glücklich sein würden.

Clementina hatte das Bedürfnis, sich zu beruhigen, und eilte hinaus; dadurch erhielt ich Zeit, mich von meinem Erstaunen zu erholen. Ich wandte mich an ihre Schwester und sagte: »Ich bitte Sie, gnädige Frau, sagen Sie mir doch, wo ist das Fräulein erzogen worden?«

»Auf dem Lande. Sie hat stets dem Unterricht beigewohnt, den mein Bruder von Sardini erhielt. Der Lehrer beschäftigte sich niemals mit ihr, sie aber war die einzige, die von dem Unterricht Nutzen hatte, denn mein Bruder gähnte nur. Clementina brachte meine Mutter zum Lachen und setzte zuweilen den alten Lehrer in Verlegenheit.«

»Wir haben von Sardini Dichtungen, die nicht ohne Wert sind; aber niemand liest sie, weil sie mit mythologischen Ausdrücken gespickt sind.«

»Das ist wahr. Clementina besitzt ein Manuskript, das er ihr geschenkt hat, und das eine Menge Fabeln aus der heidnischen Götterwelt enthält. Suchen Sie sie zu überreden, daß sie Ihnen ihre Bücher und die Verse zeigt, die sie selbst gedichtet hat, die sie aber sonst keinem Menschen zeigt.«

Ich war voll Bewunderung. Als sie wieder hereinkam, machte ich ihr Komplimente und sagte hierauf: »Ich bin ein großer Freund der Dichtkunst und der schönen Wissenschaften, und Sie würden mir ein großes Vergnügen bereiten, wenn Sie mir Ihre Verse zeigen wollten.«

»Ich würde mich schämen. Ich mußte vor zwei Jahren meine Studien aufgeben, als ich infolge der Heirat meiner Schwester in dieses Schloß übersiedeln mußte, wo wir nur mit braven Leuten verkehren, die an weiter nichts als an ihre Haushaltung und an ihre Ernte denken und sich nur um Regen und Sonnenschein bekümmern. Sie sind der erste, von dem ich angenommen habe, daß er ein Freund der Wissenschaften sei, da Sie mich Hebe nannten. Hätte unser alter Sardini uns hierher begleitet, so würde ich mich weitergebildet haben; meiner Schwester lag jedoch nichts daran, ihn bei sich zu haben.«

»Aber, meine liebe Clementina,« rief die Gräfin, »sage mir doch bitte, was hätte meinem Mann ein achtzigjähriger Greis nützen können, der nur Luftschlösser baut, Verse macht und von Mythologie spricht?«

»Ich hätte ihn gern genommen,« sagte ihr Gatte, »wenn er sich in der Wirtschaft hätte verwenden lassen. Aber er ist ein ehrlicher Greis, der durchaus nicht zugeben will, daß es Spitzbuben gibt. Er ist vor lauter Gelehrtheit dumm geworden.«

»Großer Gott!« rief Clementina, »Sardini dumm! Es ist allerdings nicht schwer, ihn zu betrügen; aber das würde niemandem gelingen, wenn er weniger Redlichkeit und Geist hätte. Ich liebe einen Mann, den man aus solchen Gründen leicht täuschen kann. Aber man sagt ja auch von mir, ich sei verrückt.«

»Nein, liebe Schwester,« sagte die Gräfin, »im Gegenteil, alles, was du sagst, trägt den Stempel der Weisheit; aber es liegt außerhalb deiner Sphäre – ich will sagen, außerhalb der Sphäre einer Frau. Denn schöne Wissenschaften, Poesie und Philosophie hat eine Hausherrin nicht nötig, und sollte sich dir eine Gelegenheit zum Heiraten bieten, so würde deine fast ausschließliche Neigung für die Wissenschaften vielleicht ein Hindernis sein, eine gute Partie zu machen.«

»Darauf bin ich gefaßt und darum habe ich auch Lust, als Mädchen zu sterben; dies gereicht aber nicht den Männern zur Ehre.«

Um die Erregung zu begreifen, die dieses Gespräch in meiner Seele hervorrief, muß man leidenschaftlich und verliebt sein, wie ich es damals war. Ich fühlte mich unglücklich. Wäre ich adlig und reich gewesen, so hätte ich ihr hunderttausend Taler gegeben und sie im selben Augenblick geheiratet. Sie sagte mir, Sardini sei in Mailand und leide an der Krankheit der Altersschwäche.

»Haben Sie ihm in der letzten Zeit einen Besuch gemacht?« fragte ich sie.

»Ich habe Mailand niemals gesehen.«

»Ist es möglich! Bei der geringen Entfernung.«

»Was wollen Sie? Entfernungen sind relativ.«

Wie hübsch sie das ausdrückte! Sie gab mir dadurch ohne falsche Bescheidenheit zu verstehen, daß es ihr an Mitteln fehlte, und ich war ihr dankbar für diese Offenherzigkeit. Aber wofür wäre ich ihr wohl nicht dankbar gewesen in der Herzensstimmung, in die sie mich versetzt hatte! Es gibt Augenblicke im Leben, wo eine Frau – ich will nicht einmal sagen, eine schöne, eine liebenswürdige, geistreiche Frau, sondern eine Frau, die wir lieben – uns durch einen bloßen Hinweis dahin bringen kann, alles zu tun, was sie will.

Ich drang auf eine so zärtliche Weise in sie, daß sie mich nach dem Kaffee in ein Kabinett neben ihrem Zimmer führte, um mir ihre Bücher zu zeigen. Sie besaß nur etwa dreißig, aber diese waren gut gewählt, wenn sie gleich nicht über die Literatur eines mit seinen Studien in der rhetorischen Klasse fertigen jungen Menschen hinausgingen. Für einen Geist, wie Clementina ihn hatte, genügten sie nicht. Sie konnte daraus weder geschichtliche Belehrung noch naturwissenschaftliche Kenntnisse schöpfen, durch die sie aus der Unkenntnis über das Wesentliche hätte entrissen und den Freuden des Lebens zugeführt werden können.

»Haben Sie auch gemerkt, liebe Hebe, welche Bücher Ihnen fehlen?«

»Ich kann es mir wohl denken, teurer Iolas, obgleich ich nicht genau weiß, was ich wohl nötig haben könnte.«

»Wie reizend naiv, angebetetes Weib! Lassen Sie mich machen.«

Nachdem ich eine Stunde lang Sardinis Schriften durchblättert hatte, bat ich sie, mir etwas von ihrer eigenen Hand zu zeigen.

»Nein,« sagte sie, »es sind zu viele Fehler darin.«

»Auf diese Antwort war ich gefaßt; aber ich werde mehr des Guten darin finden als des Schlechten.«

»Daran zweifle ich.«

»Zweifeln Sie nicht daran! Ich verzeihe sprachlichen Fehlern, Verstößen gegen Stil und gesunde Vernunft, dem Mangel an Methode und sogar mißglückten Versen.«

»Das ist ein bißchen zu viel, Iolas; einer so ausgedehnten Nachsicht braucht Hebe nicht zu bedürfen. Hier, mein Herr, haben Sie mein ganzes Gekritzel; klauben Sie nur alle meine Fehler und Mängel heraus, und tun Sie sich keinen Zwang an!«

Hochentzückt, daß mir meine List gelungen war, indem ich ihre Eitelkeit angestachelt hatte, begann ich ganz langsam ein anatreontisches Lied vorzulesen, indem ich durch meine Betonung alle Schönheiten des Gedichtes hervorhob. Ich weidete mich an der Freude, die auf ihrem ganzen Gesichte glänzte, als sie ihre Verse so schön vorlesen hörte. Wenn ich an einen Vers kam, den ich durch eine Veränderung von diesem oder jenem Wort rührender gemacht hatte, bemerkte sie es, denn sie folgte mir mit den Augen; aber sie fühlte sich dadurch nicht gekränkt, sondern war mir im Gegenteil für meine Verbesserungen dankbar. Sie fand, daß meine Pinselstriche nur das Kolorit erhöhten, daß aber darum doch das Gemälde immer noch ihr Werk blieb, und sie war entzückt, als sie sah, daß dieses Vorlesen mir vielleicht ein noch größeres Vergnügen bereitete, als sie selber dabei empfand. Unser gegenseitiger Genuß dauerte drei Stunden lang. Es war nur ein geistiger Genuß; aber da wir verliebt waren, so ließe sich schwerlich ein reinerer und zugleich wollüstigerer vorstellen. Glücklich, ja überglücklich wären wir gewesen, wenn wir dabei stehen geblieben wären. Aber der Gott der Liebe ist ein Verräter, ein Betrüger, der alle Menschen auslacht, die sich einbilden, mit ihm spaßen zu können, ohne in seine Netze zu fallen. Wenn man sich damit belustigt, mit glühenden Kohlen zu spielen, wie sollte man sich nicht verbrennen!

Die Gräfin unterbrach uns, um uns einzuladen, wir möchten wieder zur Gesellschaft kommen. Clementina stellte schnell wieder alles an seinen Platz und dankte mir für das Vergnügen, das ich ihr bereitet hätte, mit einer Innigkeit, die sich in der Glut aussprach, die ihr ganzes Gesicht überzog. Als sie so unter die Gesellschaft trat und man sie fragte, ob sie sich vielleicht geschlagen hätte, errötete sie noch tiefer. Dies konnte verdächtig erscheinen.

Der Spieltisch stand bereit; bevor ich jedoch Platz nahm, befahl ich meinem Clairmont für den nächsten Morgen bei Tagesanbruch vier gute Pferde zu besorgen: ich wollte nach Lodi fahren, aber vor dem Mittagessen wieder zurück sein.

Alle Anwesenden spielten wie am Tage vorher, außer dem Abbate, der zu meiner großen Befriedigung überhaupt nicht erschien; dafür hatten wir aber einen Domherrn, der immer einen Dukaten zur Zeit setzte und einen ganzen Haufen Goldstücke vor sich liegen hatte. Diese kamen meiner Bank zugute, und am Ende der Partie sah ich zu meiner großen Freude, daß alle Anwesenden zufrieden waren; nur der Domherr hatte etwa dreißig Zechinen verloren, doch tat dieser Verlust seiner guten Laune keinen Abbruch.

Am nächsten Morgen bei Tagesanbruch fuhr ich, ohne einem Menschen etwas davon zu sagen, nach Lodi und kaufte dort alle Bücher, die für die schöne Clementina paßten. Da sie nur italienisch sprach, so kaufte ich Übersetzungen, die ich zu meiner großen Überraschung in Lodi fand; ich hatte diese Stadt bis dahin nur wegen ihres ausgezeichneten Käses verehrt, der in ganz Europa unter dem Namen Parmesankäse bekannt ist. Dieser vortreffliche Käse ist nämlich aus Lodi und nicht aus Parma. Ich verfehlte nicht, noch am gleichen Tage eine Notiz darüber dem Artikel Parmesankäse in meinem Käse-Lexikon hinzuzufügen, woran ich damals arbeitete. Ich habe diese Arbeit später aufgegeben, da ich fand, daß sie über meine Kräfte ging, wie J. J. Rousseau fand, daß er der Botanik nicht gewachsen war. Dieser sonderbare und eigentümliche große Mann hatte zu jener Zeit das Pseudonym Reneau le Botaniste angenommen. Quisque histrioniam exercet. Schauspieler sind wir alle. Leider hatte Rousseau bei aller seiner Beredsamkeit keine Freude am Lachen und auch nicht die herrliche Gabe, andere zum Lachen zu bringen.

Ich hatte den Einfall, am übernächsten Tage in Lodi ein großes Essen zu geben; da ein Plan dieser Art keiner langen Überlegung bedurfte, ging ich sofort in den besten Gasthof, um die Anordnungen zu treffen. Ich bestellte eine auserlesene Mahlzeit für zwölf Personen, machte eine Anzahlung und ließ mir vom Wirt Quittung und schriftliche Bestätigung meiner Bestellung geben; zugleich nahm ich ihm das Versprechen ab, mich soviel Geld wie nur möglich ausgeben zu lassen.

Als ich wieder im Schloß Sant' Angelo angekommen war, ließ ich meinen großen Sack voll von Büchern in Clementinas Zimmer bringen. Das entzückende Mädchen war bei diesem Anblick wie versteinert. Es waren mehr als hundert Bände, Dichter, Geschichtschreiber, Geographen, Naturforscher, Philosophen – nichts fehlte an der Sammlung. Ich hatte auch einige gute Romane hinzugefügt, Übersetzungen aus dem Spanischen, Englischen und besonders Französischen; denn wir haben im Italienischen zwar etwa vierzig gute Dichtungen, aber keinen einzigen guten Roman in Prosa. Doch mögen die Fremden sich dieses Geständnis nicht zunutze machen, um sich eine Überlegenheit zuzuschreiben! Italien hat die anderen Völker um wenig zu beneiden und besitzt tausend Meisterwerke, um die alle Nationen es beneiden müssen. Was käme wohl dem Meisterwerk des menschlichen Geistes gleich, das unter dem Namen Orlando furioso bekannt ist? Nichts! Und dieses wunderbare Werk wird niemals einer anderen Sprache auf dem Wege der Übersetzung zu eigen werden. Die schönste und wahrste Lobrede auf Ariosto hielt der große Voltaire, als er sechzig Jahre alt war. Hätte er nicht durch diesen Widerruf das falsche Urteil zurückgenommen, das er über den großen Genius ausgesprochen hatte, so hätte ihm ohne Zweifel die Nachwelt, wenigstens in Italien, den Zutritt zum Tempel der Unsterblichkeit verweigert, worauf er übrigens einen so vielfach begründeten Anspruch hat. Es ist jetzt sechsunddreißig Jahre her, daß ich ihm ungefähr dasselbe sagte, was ich hier niederschreibe, und der große Mann glaubte mir. Er hatte Furcht, und daran tat er wohl.

Ich bitte meine Leser – wenn ich nach meinem Tode deren haben sollte – um Entschuldigung, daß ich auf solche Weise meine Erzählung unterbreche. Sie wollen freundlichst berücksichtigen, daß ich jetzt, da ich meine Erinnerungen schreibe, alt bin und daß das Alter gesprächig ist. Auch für sie wird die Zeit kommen, da sie nachsichtig sein werden, und da werden sie sehen, daß Menschen meines Alters sich nur darum so gerne wiederholen, ja sogar weitschweifig werden, weil sie nur noch von Erinnerungen leben, denn die Wirklichkeit ist für uns recht herzlich wenig und die Hoffnung gar nichts mehr. Ich komme nun auf mein Thema zurück, das ich keineswegs aus den Augen verloren habe.

Clementina war von Erstaunen und Bewunderung hingerissen; ihre Blicke schweiften von den Büchern zu mir und von mir zu den Büchern: sie schien daran zu zweifeln, daß dieser Schatz wirklich ihr gehören sollte. Nachdem sie sich endlich ein bißchen beruhigt hatte, sagte sie mir in einem Tone tiefgefühlter Zärtlichkeit und Dankbarkeit: »Sie sind also nach Sant' Angelo gekommen, um mich mit Glück zu überhäufen!«

In solchen Augenblicken wird der Mensch zum Gott. Denn es ist unmöglich, daß ein Wesen, das solche Worte sagt, nicht entschlossen wäre, alles aufzubieten, was in seinen Kräften steht, um seinerseits den glücklich zu machen, der es mit so leichter Mühe beglückt hat.

Die Wonne über den Ausdruck von Dankbarkeit auf dem Antlitz einer angebeteten Frau hat etwas Erhabenes, Unbeschreibliches an sich. Wenn du dies nicht ebenso fühlst wie ich, mein lieber Leser, so beklage ich dich und bin der Meinung, du mußt ein Geizhals oder ein Teufel und folglich nicht wert sein, geliebt zu werden.

Clementina erschien bei Tisch, tat aber den Speisen sehr wenig Ehre an; bald zog sie sich in ihr Zimmer zurück, wohin ich ihr unverzüglich folgte. Wir stellten miteinander die Bücher auf. Sie ließ einen Tischler kommen und bestellte bei ihm einen verschließbaren Bücherschrank mit einem Gitter. Sie sagte zu mir, ihre Bibliothek werde ihr Entzücken sein, wenn ich wieder abgereist sei.

Am Abend war sie glücklich im Spiel und von einer bezaubernden Heiterkeit. Ich lud die ganze Gesellschaft zum Mittagessen ein, und da dieses für zwölf Personen bestellt war, so erbot die Gräfin Ambrogio sich, in Lodi die beiden fehlenden Gäste aufzutreiben, und der Domherr übernahm es, die Dame mit der Tochter und dem Sohn zu begleiten.

Der nächste Tag war ein Tag der Ruhe und des Glückes; ich verbrachte ihn, ohne das Schloß zu verlassen, und beschäftigte mich nur damit, meiner Hebe einen Begriff von der Sphäre und Geschmack an der Wolffschen Philosophie beizubringen. Ich schenkte ihr mein mathematisches Besteck, das in ihren Augen eine unschätzbare Gabe war.

Ich war in Liebe zu dem reizenden Mädchen entbrannt. Aber würde wohl ihre Neigung zu Wissenschaft und Literatur genügt haben, mich in sie verliebt zu machen, wenn mich nicht ihre Reize schon vorher geblendet hätten? Es ist sehr zweifelhaft. Ich liebe Speisen, die meinem Gaumen schmeicheln; aber wenn sie nicht vorher meinen Augen schmeicheln, weise ich sie als schlecht zurück. Zu allererst interessiert stets die Oberfläche: sie ist der Sitz der Schönheit. In zweiter Linie kommt die Prüfung der Formen und Eigenschaften; wenn auch diese entzückt, so stehen wir in Flammen. Ein Mensch, der nicht auch Eigenschaften des Geistes und des Herzens sucht, ist oberflächlich; aber auf der Oberfläche beginnt eben jeder Liebeseindruck. Allerdings sind davon die Erscheinungen auszunehmen, die der Phantasie entspringen – Schimären, die die Wirklichkeit fast immer zerstört.

Als ich, ganz von Clementinas Bild erfüllt, mich zu Bette legte, dachte ich über mich selber nach, und ich war ganz erstaunt, daß sie bei unseren Zusammenkünften unter vier Augen nicht den geringsten Nebengedanken in mir erregte, obgleich wir stundenlang beieinander waren. Indessen war es, was mich zurückhielt, keine Furcht; es war keine Schüchternheit, denn die ist mir fremd; es war keine falsche Bescheidenheit, und ebensowenig war es das sogenannte Pflichtgefühl. Auch war es keine Tugend, denn in solchem Maße schwärme ich für Tugend nicht. Was war es also? Ich quälte mich nicht lange mit Nachdenken darüber; ich wußte nur, daß dieses platonische Verhältnis nicht lange dauern konnte, und das tat mir leid; aber dieses Bedauern war der Todeskampf der Tugend. Die schönen Bücher, die wir lasen, erregten unsere Teilnahme in so hohem Maße, daß in dieser Teilnahme die Verliebtheit unterging, die uns unser Beisammensein so köstlich finden ließ; aber, wie das Sprichwort sagt: der Teufel kam dabei nicht zu kurz. Dem Geiste gegenüber verliert das Herz seine Herrschaft: die Tugend triumphiert, aber der Kampf kann nur kurz sein. Unsere Siege verblendeten uns: wir glaubten unserer selber sicher zu sein; aber diese Sicherheit war ein Koloß mit tönernen Füßen und hatte jedenfalls nur darin ihren Grund, daß wir zwar ganz genau wußten, daß wir liebten, aber nicht wußten, ob wir geliebt würden. Im Augenblicke dieser Entdeckung mußte das Gebäude zusammenstürzen.

Diese vermessene Zuversicht veranlaßt mich, sie aufzusuchen, um ihr etwas in bezug auf unsere Fahrt nach Lodi zu sagen; die Wagen standen nämlich schon bereit. Sie schlief noch; als sie mich aber in ihrem Zimmer hörte, fuhr sie plötzlich empor. Ich dachte nicht einmal daran, mich bei ihr zu entschuldigen. Sie sagte mir, Tassos Aminta habe so sehr ihre Teilnahme erregt, daß sie vor dem Zubettegehen das ganze Gedicht gelesen habe.

»Der Pastor fido wird Ihnen noch viel mehr gefallen.«

»Ist er schöner?«

»Das kann man eigentlich nicht sagen.«

»Warum glauben Sie also, daß er mir mehr gefallen wird?«

»Weil er einen Zauber an sich hat, der zum Herzen geht. Er rührt, er verführt, und wir lieben die Verführung.«

»Er ist also ein Verführer?«

»Nein, aber er ist verführerisch wie Sie.«

»Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Ich werde ihn heute Abend lesen. Nun will ich mich ankleiden.«

Sie zog sich an, ohne daran zu denken, daß ich ein Mann war, aber auch ohne den Anstand zu verletzen. Indessen glaubte ich zu bemerken, daß sie zurückhaltender gewesen wäre, wenn sie gewußt hätte, daß ich in sie verliebt war; denn während sie ihr Hemd überstreifte, ihr Mieder schnürte, ihre Schuhe anzog und ihre Strumpfbänder oberhalb der Knie befestigte, sah ich Schönheiten aufblitzen, die mich verführten; ich mußte hinausgehen, bevor sie noch fertig war, um ein wenig die Glut zu dämpfen, die sie in allen meinen Sinnen entfacht hatte.

Ich nahm in meinen Wagen die Gräfin Ambrogio und Clementina und setzte mich selber auf den Klappsitz, indem ich auf einem schönen Kissen den Säugling auf meinem Schoß hielt. Meine beiden schönen Begleiterinnen wollten sich zu Tode lachen; denn ich sah aus wie eine Amme, so gut spielte ich meine Rolle. Unterwegs bekam der kleine Säugling Bedürfnis nach der Mutterbrust. Die hübsche Mama gab sofort seiner Begier eine köstliche Halbkugel preis, die ich mit den Augen verschlang; doch war ihr meine Bewunderung durchaus nicht unangenehm. Mit lüsternen Blicken betrachtete ich das wundervolle Bild; ich konnte meine Freude nicht verhehlen. Als das Kind satt war, verließ es den schwellenden Busen der Mutter, und beim Anblick des reichlich herabträufelnden Saftes rief ich aus: »O, Signora, das ist ein Mord! Erlauben Sie meinen Lippen, diesen Nektar aufzufangen, der mich den Unsterblichen gleichmachen wird, und fürchten Sie meine Zähne nicht!«

Damals hatte ich noch welche!

Da die Gräfin lachte und sich meinen Wünschen nicht widersetzte, so machte ich mich ans Werk, indem ich meine beiden Begleiterinnen ansah, die vor Lachen nicht mehr konnten und Mitleid mit mir zu haben schienen. Dieses köstliche Lachen läßt sich nicht schildern. Nur Homer, der göttliche Homer, hat es wiederzugeben verstanden, indem er uns Andromache beschreibt, wie sie den kleinen Astyanax auf ihren Armen hält, als Hektor von ihr Abschied nimmt, um zum Heere zurückzukehren.

Mich trieb eine unersättliche Lust, sie noch mehr lachen zu machen. Darum fragte ich Clementina, ob sie den Mut haben würde, mir die gleiche Gunst zu bewilligen.

»Warum nicht, wenn ich Milch hätte?«

»Es genügt, daß Sie die Quelle haben; alles übrige übernehme ich selber.«

Bei diesen Worten errötete das reizende Mädchen so stark, daß ich es bereute, sie ausgesprochen zu haben; ich brachte jedoch das Gespräch auf etwas anderes, und bald war ihre Röte verschwunden. Nichts störte unsere Heiterkeit, und als wir vor dem Gasthof in Lodi ausstiegen, hatten wir gar nicht gemerkt, daß wir überhaupt gefahren waren.

Die Gräfin schickte sofort zu einer ihr befreundeten Dame und bat sie, mit uns zu speisen und ihre Schwester mitzubringen.

Unterdessen schickte ich Clairmont zu einem Papierhändler; er kaufte in meinem Auftrag eine prachtvolle verschließbare Schreibmappe von Maroquin, Papier, Siegellack, Federn, Tintenfaß, Falzbein, Petschaft, Federmesser und was sonst auf einen Schreibtisch gehört. Das Geschenk wollte ich meiner Clementina vor dem Essen überreichen. Ich hatte das Vergnügen, an ihrem Staunen zu bemerken, wie glücklich dieses Geschenk sie machte. Ich las Dankbarkeit in ihren schönen Augen. Eine aufrichtige Frau wird unfehlbar von einem Mann besiegt werden, der sie zur Dankbarkeit zu nötigen weiß. Dies ist stets das sicherste Mittel, zum Ziele zu gelangen, aber man muß es richtig anzuwenden wissen.

Die Freundin der Gräfin kam mit ihrer Schwester, einem jungen Mädchen, das es an Schönheit mit seinem ganzen Geschlecht aufnehmen konnte. Ich war von ihr geblendet; aber die Göttin der Liebe selber hätte mich in diesem Augenblick nicht meiner Clementina untreu machen können. Nachdem die Freundinnen sich in der Freude ihres Wiedersehens umarmt hatten, wurde ich vorgestellt, wobei man mich mit solchen Komplimenten bis in die Wolken erhob, daß ich schließlich ihren Überschwenglichkeiten mit einigen spaßhaften Bemerkungen ein Ende machen mußte.

Wir erhielten ein üppiges und feines Mahl. Beim Nachtisch vermehrte sich die Gesellschaft um zwei freiwillige Gäste, den Mann der Dame und den Liebhaber der Schwester; sie waren willkommen, denn sie trugen zur Erhöhung der Heiterkeit bei. Um die Fröhlichkeit zu krönen, in die uns der Champagner versetzte, gab ich den Wünschen der Gesellschaft nach und legte eine Pharaobank auf. Als wir nach drei Stunden aufhörten, sah ich zu meinem großen Vergnügen, daß meine Börse um etwa vierzig Zechinen erleichtert worden war. Diesen kleinen Verlusten zur rechten Zeit verdankte ich zum großen Teil meinen Ruf, der nobelste Spieler Europas zu sein.

Der Liebhaber des schönen Fräuleins hieß Vigi; ich fragte ihn daher, ob er vom Verfasser des dreizehnten Gesanges der Äneide abstammte. Er bejahte meine Frage, und sagte, er habe seinem Ahnherrn zu Ehren diesen Gesang in italienische Stanzen übertragen. Da ich den Wunsch äußerte, seine Übersetzung zu sehen, versprach er mir, sie am übernächsten Tage nach Sant' Angelo mitzubringen. Ich machte ihm mein Kompliment zu seinem alten Adel, denn Maffeo Vigi blühte zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts.

Mit Einbruch der Nacht fuhren wir wieder ab und gelangten in weniger als zwei Stunden nach Sant' Angelo. Der Mond, der alle meine Bewegungen beleuchtete, zwang mich der Verführung zu widerstehen, die eins von Clementinas Beinen mir einflößte; sie hatte nämlich, um ihren kleinen Neffen besser auf ihrem Schoß halten zu können, den einen Fuß auf den Klappsitz gesetzt. Die hübsche Mama sprach unermüdlich von dem Vergnügen, das ich ihnen verschafft hätte, und alle wetteiferten in Lobeserhebungen wegen meiner Bewirtung.

Da wir keine Lust hatten, zu Abend zu speisen, zogen wir uns auf unsere Zimmer zurück; ich begleitete Clementina, die mir anvertraute, sie schäme sich, daß sie keine Ahnung von der Äneide habe. Vigi werde mit seiner Übersetzung des dreizehnten Gesanges kommen, und nun wisse sie kein Wort darüber zu sagen!

Ich tröstete sie, indem ich zu ihr sagte: »Wir werden heute Nacht Annibale Caros schöne Übersetzung des Gedichts lesen, die Sie besitzen. Sie haben ebenfalls die Übersetzung von Anguilara, ferner Ovids Metamorphosen und Marchettis Lucrezübertragung.«

»Aber ich wollte ja den Pastor fido lesen.«

»Wir wollen zunächst emmal das Dringlichste erledigen; den Pastor fido lesen wir ein anderes Mal.«

»Ich werde alles machen, was Sie mir raten, mein lieber Iolas.«

»Dadurch machen Sie mich glücklich, liebe Hebe.«

Wir verbrachten also die ganze Nacht damit, dieses herrliche Gedicht in italienischen Blankversen zu lesen; aber dieses Vorlesen wurde oft durch das geistreiche Lachen unterbrochen, das meine reizende Schülerin nicht zurückhalten konnte, wenn gewisse Stellen ihre Sinne zu sehr kitzelten. Sie lachte laut auf, als sie hörte, wie der Zufall Äneas veranlaßte, der Dido in einer sehr unbequemen Lage ein tüchtiges Zeichen seiner Zärtlichkeit zu geben. Und sie lachte noch mehr, als die Liebende sich über die Untreue des Priamus-Sohnes mit den Worten beklagte: »Ich könnte dir noch verzeihen, wenn du vor deiner Abreise mir einen kleinen Äneas zurückgelassen hättest, den ich auf meinem Hofe herumspielen sähe.« Clementina hatte recht, daß sie lachte, denn der Vorwurf ist sehr komisch. Aber woher kommt es, daß man keine Lachlust empfindet, wenn man das Lateinische liest?

Si quis mihi parvulus aula luderet Aeneas.

Nur die ernste Schönheit der Sprache kann dieser komischen Klage einen Firnis von Würde geben.

Wir beendeten die interessante Vorlesung erst mit Tagesanbruch.

»Welch' eine Nacht!« rief Clementina mit einem Seufzer; »für mich war sie eine Herzensfreude, aber für Sie?«

»Mir war sie eine außerordentliche Freude, da ich die Ihrige sah.«

»Und wenn Sie diese nun nicht gesehen hätten?«

»Auch dann wäre es für mich eine große Freude gewesen, aber doch eine viel geringere. Ich liebe Ihren Geist außerordentlich, teure Clementina; aber sagen Sie mir, bitte, ob Sie es für möglich halten, den Geist eines Menschen zu lieben, ohne zugleich auch die körperliche Hülle zu lieben?«

»Nein, denn ohne die Hülle würde der Geist sich ja verflüchtigen.«

»Hieraus ist also die Folgerung zu ziehen, daß ich Sie sehr lieben muß, und daß ich unmöglich sechs oder sieben Stunden mit Ihnen allein verbringen kann, ohne vor Lust zu vergehen, Sie mit meinen Küssen zu bedecken.«

»Das ist wahr, und ich glaube, wir widerstehen dieser Lust nur deshalb, weil wir Pflichten haben und weil wir uns gedemütigt fühlen würden, wenn wir diese verletzten.«

»Auch das ist wahr; aber wenn Sie ebenso empfinden wie ich, so muß Ihnen diese Zurückhaltung sehr schmerzlich sein.«

»Ebenso schmerzlich vielleicht wie Ihnen; aber ich glaube, der Widerstand gegen gewisse Wünsche fällt uns nur im Anfang schwer. Nach und nach gewöhnt man sich daran, einander zu lieben, ohne dabei sich einer Gefahr auszusetzen und ohne sich einen Zwang antun zu müssen. Unsere Hüllen, die anfangs so anziehend sind, werden uns schließlich gleichgültig, und wenn wir erst einmal so weit sind, werden wir ganze Tage und Nächte mit einander verbringen können, ohne daß eine fremde Begier uns stört.«

»Für mich selber zweifle ich daran; aber wir werden sehen. Leben Sie wohl, allzu schöne Hebe.«

»Leben Sie wohl, guter Iolas, schlafen Sie gut!«

»Mit Ihrem Bilde im Herzen.«

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