Neunundzwanzigstes Kapitel.

Der Dreibund.

I.

Der Dreibund, den ich ursprünglich nach dem Frankfurter Frieden zu erreichen suchte und über den ich schon im September 1870 von Meaux aus in Wien und Petersburg sondirt hatte, war ein Bund der drei Kaiser mit dem Hintergedanken des Beitritts des monarchischen Italiens und gerichtet auf den, wie ich befürchtete, in irgend einer Form bevorstehenden Kampf zwischen den beiden europäischen Richtungen, die Napoleon die republikanische und die kosakische genannt hat und die ich nach heutigen Begriffen bezeichnen möchte einerseits als das System der Ordnung auf monarchischer Grundlage, andrerseits als die sociale Republik, auf deren Niveau die antimonarchische Entwicklung langsam oder sprungweise hinabzusinken pflegt, bis die Unerträglichkeit der dadurch geschaffnen Zustände die enttäuschte Bevölkerung für gewaltsame Rückkehr zu monarchischen Institutionen in cäsarischer Form empfänglich macht. Diesem circulus vitiosus zu entgehn, oder das Eintreten in ihn der gegenwärtigen Generation oder ihren Kindern womöglich zu ersparen, halte ich für eine Aufgabe, die den noch lebenskräftigen Monarchien näher liegen sollte als die Rivalität um den Einfluß auf die nationalen Fragmente, welche die Balkanhalbinsel bevölkern. Wenn die monarchischen Regirungen für das Bedürfnis des Zusammenhaltens im Interesse staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung kein Verständniß haben, sondern sich chauvinistischen Regungen ihrer Unterthanen dienstbar machen, so befürchte ich, daß die internationalen revolutionären und socialen Kämpfe, die auszufechten sein werden, um so gefährlicher und für den Sieg der monarchischen Ordnung schwieriger sich gestalten werden. Ich habe die Nächstliegende Assecuranz gegen diese Kämpfe seit 1871 in dem Dreikaiserbunde und in dem Bestreben gesucht, dem monarchischen Prinzipe in Italien eine feste Anlehnung an diesen Bund zu gewähren. Ich war nicht ohne Hoffnung auf einen dauernden Erfolg, als im September 1872 die Zusammenkunft der drei Kaiser in Berlin, demnächst die Besuche meines Kaisers in Petersburg im Mai, des Königs von Italien in Berlin im September, des deutschen Kaisers in Wien im October des folgenden Jahres stattfanden. Die erste Trübung dieser Hoffnung wurde 1875 verursacht durch die Hetzereien des Fürsten Gortschakow[1], der die Lüge verbreitete, daß wir Frankreich, bevor es sich von seinen Wunden erholt hatte, zu überfallen beabsichtigten.

Ich bin zur Zeit der Luxemburger Frage (1867) ein grundsätzlicher Gegner von Präventivkriegen gewesen, d. h. von Angriffskriegen, die wir um deshalb führen würden, weil wir vermutheten, daß wir sie später mit dem besser gerüsteten Feinde zu bestehn haben würden.[2] Daß wir 1875 Frankreich besiegt haben würden, war nach der Ansicht unsrer Militärs wahrscheinlich; aber nicht so wahrscheinlich war es, daß die übrigen Mächte neutral geblieben sein würden. Wenn schon in den letzten Monaten vor den Versailler Verhandlungen die Gefahr europäischer Einmischung mich täglich beängstigte, so würde die scheinbare Gehässigkeit eines Angriffs, den wir unternommen hätten, nur um Frankreich nicht wieder zu Athem kommen zu lassen, einen willkomnmen Vorwand zunächst für englische Humanitätsphrasen geboten haben, dann aber auch für Rußland, um aus der Politik der persönlichen Freundschaft der beiden Kaiser einen Uebergang zu der des kühlen russischen Staatsinteresses zu finden, das 1814 und 1815 bei Absteckung des französischen Gebiets maßgebend gewesen war. Daß es für die russische Politik eine Grenze giebt, über die hinaus das Gewicht Frankreichs in Europa nicht vermindert werden darf, ist erklärlich. Dieselbe war, wie ich glaube, mit dem Frankfurter Frieden erreicht, und diese Thatsache war vielleicht 1870 und 1871 in Petersburg noch nicht in dem Maße zum Bewußtsein gekommen, wie fünf Jahre später. Ich glaube kaum, daß das russische Cabinet während unsres Krieges deutlich vorausgesehn hat, daß es nach demselben ein so starkes und consolidirtes Deutschland zum Nachbar haben würde. Im Jahre 1875 nahm ich an, daß an der Newa schon einige Zweifel darüber herrschten, ob es richtig gewesen sei, die Dinge so weit kommen zu lassen, ohne in die Entwicklung einzugreifen. Die aufrichtige Freundschaft und Verehrung Alexander's II. für seinen Oheim deckten das Unbehagen, das die amtlichen Kreise bereits empfanden. Hätten wir damals den Krieg erneuern wollen, nur um das kranke Frankreich nicht genesen zu lassen, so würde unzweifelhaft nach einigen mißlungnen Conferenzen zur Verhütung des Kriegs unsre Kriegführung sich in Frankreich in der Lage befunden haben, die ich in Versailles bei der Verschleppung der Belagrung befürchtet hatte. Die Beendigung des Kriegs würde nicht durch einen Friedensschluß unter vier Augen, sondern in einem Congresse zu Stande gekommen sein, wie 1814 unter Zuziehung des besiegten Frankreich, und vielleicht bei der Mißgunst, der wir ausgesetzt waren, ebenso wie damals unter Leitung eines neuen Talleyrand.

Ich hatte schon in Versailles befürchtet, daß die Betheiligung Frankreichs an den Londoner Conferenzen über die das Schwarze Meer betreffenden Clauseln des Pariser Friedens dazu benutzt werden könnte, um mit der Dreistigkeit, die Talleyrand in Wien bewiesen hatte, die deutsch-französische Frage als Pfropfreis auf die programmmäßigen Erörtrungen zu setzen. Aus dem Grunde habe ich, trotz vielseitiger Befürwortung, die Betheiligung Favre's an jener Conferenz durch äußre und innre Einflüsse verhindert. Ob Frankreich 1875 unserm Anfalle gegenüber in seiner Verteidigung so schwach gewesen sein würde, wie unsre Militärs annahmen, erscheint fraglich, wenn man sich erinnert, daß in dem französisch-englisch-östreichischen Vertrage vom 3. Januar 1815 das besiegte und (noch theilweise besetzte[3] durch zwanzig Kriegsjahre erschöpfte Frankreich doch noch bereit war, für die Coalition gegen Preußen und Rußland 150 000 Mann sofort und demnächst 300 000 in's Feld zu führen. Die 300 000 in unsrer Gefangenschaft gewesenen altgedienten Soldaten befanden sich wieder in Frankreich, und wir hatten die russische Macht schließlich wohl nicht wie im Januar 1815 (als Bundesgenossen auf unsrer Seite, auch nicht wie während des deutsch-französischen Kriegs[4] wohlwollend neutral, sondern vielleicht feindlich hinter uns gehabt. Aus dem Gortschakow'schen Circular-Telegramm vom Mai 1875[5] an alle russischen Gesandschaften geht hervor, daß die russische Diplomatie bereits zu einer Thätigkeit gegen unsre angebliche Neigung zur Friedensstörung veranlaßt worden war.

Auf diese Episode folgten die unruhigen Bestrebungen des russischen Reichskanzlers, unsre und besonders meine persönlich guten Beziehungen zum Kaiser Alexander zu trüben, unter anderm dadurch, daß er, wie im 28. Kapitel erzählt ist, durch Vermittlung des Generals von Werder die Ablehnung des Versprechens der Neutralität für den Fall eines russisch-östreichischen Krieges von mir erpreßte. Daß das russische Cabinet sich alsdann direct und im Geheimen an das Wiener wandte, bezeichnet wiederum eine Phase der Gortschakow'schen Politik, die meinem Streben nach einem monarchisch-conservativen Dreibunde nicht günstig war.

II.

Graf Schuwalow hatte vollkommen Recht, wenn er mir sagte, daß mir der Gedanke an Coalitionen böse Träume verursache[6]. Wir hatten gegen zwei der europäischen Großmächte siegreiche Kriege geführt; es kam darauf an, wenigstens einen der beiden mächtigen Gegner, die wir im Felde bekämpft hatten, der Versuchung zu entziehn, die in der Aussicht lag, im Bunde mit andern Revanche nehmen zu können. Daß Frankreich das nicht sein konnte, lag für jeden Kenner der Geschichte und der gallischen Nationalität auf der Hand, und wenn ein geheimer Vertrag von Reichstadt ohne unsre Zustimmung und unser Wissen möglich war, so war auch die alte Kaunitz'sche Coalition von Frankreich, Oestreich, Rußland nicht unmöglich, sobald die ihr entsprechenden, in Oestreich latent vorhandnen Elemente dort an das Ruder kamen. Sie konnten Anknüpfungspunkte finden, von denen aus sich die alte Rivalität, das alte Streben nach deutscher Hegemonie als Factor der östreichischen Politik wieder beleben ließ in Anlehnung, sei es an Frankreich, die zur Zeit des Grafen Beust und der Salzburger Begegnung mit Louis Napoleon, August 1867, in der Luft schwebte, sei es in Annäherung an Rußland, wie sie sich in dem geheimen Abkommen von Reichstadt erkennen ließ.

Die Frage, welche Unterstützung Deutschland von England in einem solchen Falle zu erwarten haben würde, will ich nicht ohne Weitres im Rückblick auf die Geschichte des siebenjährigen Kriegs und des Wiener Congresses beantworten, es aber doch als wahrscheinlich bezeichnen, daß ohne die Siege Friedrich's des Großen die Sache des Königs von Preußen damals noch früher von England wäre fallen gelassen worden.

In dieser Situation lag die Auffordrung zu dem Versuch, die Möglichkeit der antideutschen Coalition durch vertragsmäßige Sicherstellung der Beziehungen zu wenigstens einer der Großmächte einzuschränken. Die Wahl konnte nur zwischen Oestreich und Rußland stehn, da die englische Verfassung Bündnisse von gesicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Koalition der drei übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige Haltung und Gestaltung Italiens nicht nur von Frankreich, sondern auch von Oestreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeichnete Wahl.

Für materiell stärker hielt ich die Verbindung mit Rußland. Sie hatte mir früher auch als sichrer gegolten, weil ich die traditionelle dynastische Freundschaft, die Gemeinsamkeit des monarchischen Erhaltungstriebs und die Abwesenheit aller eingebornen Gegensätze in der Politik für sichrer hielt als die wandelbaren Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungarischen, slavischen und katholischen Bevölkerung der habsburgischen Monarchie. Absolut sicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder das dynastische Band mit Rußland, noch das populäre ungarisch-deutscher Sympathie. Wenn in Ungarn stets die besonnene politische Erwägung den Ausschlag gäbe, so würde diese tapfre und unabhängige Nation sich darüber klar bleiben, daß sie als Insel in dem weiten Meere slavischer Bevölkerungen sich bei ihrer verhältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutsche Element in Oestreich und in Deutschland sicher stellen kann. Aber die Kossuth'sche Episode und die Unterdrückung der reichstreuen deutschen Elemente in Ungarn selbst und andre Symptome zeigten, daß in kritischen Momenten das Selbstvertraun des ungarischen Husaren und Advocaten stärker ist als die politische Berechnung und die Selbstbeherrschung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten mancher Magyar sich von den Zigeunern das Lied »Der Deutsche ist ein Hundsfott« aufspielen!

In den Bedenken über die zukünftigen östreichisch-deutschen Beziehungen kam der Mangel an Augenmaß für politische Möglichkeiten, infolge dessen das deutsche Element in Oestreich die Fühlung mit der Dynastie und die Leitung verloren hat, die ihm in der geschichtlichen Entwicklung zugefallen war. Zu Sorgen für die Zukunft eines östreichisch-deutschen Bundes gab ferner die confessionelle Frage Anlaß, die Erinnrung an den Einfluß der Beichtväter der Kaiserlichen Familie, die Möglichkeit der Herstellung französischer Beziehungen auf katholisirender Unterlage, sobald in Frankreich eine entsprechende Wandlung der Form und der Prinzipien der Staatsleitung eingetreten wäre. Wie fern oder wie nahe eine solche in Frankreich liegt, entzieht sich jeder Berechnung.

Dazu kam endlich die polnische Seite der östreichischen Politik. Wir können von Oestreich nicht verlangen, daß es auf die Waffe verzichte, die es in der Pflege des Polenthums in Galizien Rußland gegenüber besitzt. Die Politik, die 1846 dazu führte, daß östreichische Beamte Preise auf die Köpfe polnischer Insurgenten setzten, war möglich, weil Oestreich die Vortheile der heiligen Allianz, des Bündnisses der drei Ostmächte, durch ein adäquates Verhalten in den polnischen und orientalischen Dingen bezahlte, gleichsam durch einen Assecuranzbeitrag zu einem gemeinsamen Geschäfte. Bestand der Dreibund der Ostmächte, so konnte Oestreich seine Beziehungen zu den Ruthenen in den Vordergrund stellen; löste er sich auf, so war es rathsamer, den polnischen Adel für den Fall eines russischen Kriegs zur Verfügung zu haben. Galizien ist überhaupt der östreichischen Monarchie lockrer angefügt als Posen und Westpreußen der preußischen. Die östreichische, gegen Osten offne Provinz ist außerhalb der Grenzmauer der Karpathen künstlich angeklebt, und Oestreich könnte ohne sie ebenso gut bestehn, wenn es für die 5 oder 6 Millionen Polen und Ruthenen einen Ersatz innerhalb des Donaubeckens fände. Pläne der Art in Gestalt eines Eintauschs rumänischer und südslavischer Bevölkerungen gegen Galizien, unter Herstellung Polens mit einem Erzherzoge an der Spitze, sind während des Krimkriegs und 1863 von berufner und unberufner Seite erwogen worden. Die alten preußischen Provinzen aber sind von Posen und Westpreußen durch keine natürliche Grenze getrennt, und der Verzicht auf sie wäre unausführbar. Die Frage der Zukunft Polens ist deshalb unter den Vorbedingungen eines deutsch-östreichischen Kriegsbündnisses eine besonders schwierige.

III.

In dieser Erwägung nöthigte mich der drohende Brief des Kaisers Alexander (1879) zu festem Entschlusse behufs Abwehr und Wahrung unsrer Unabhängigkeit von Rußland. Ein östreichisches Bündniß war ziemlich bei allen Parteien populär, bei den Conservativen aus einer geschichtlichen Tradition, bezüglich deren man zweifelhaft sein kann, ob sie grade von dem Standpunkt einer conservativen Fraction heut zu Tage als folgerichtig gelten könne. Thatsache ist aber, daß die Mehrheit der Conservativen in Preußen die Anlehnung an Oestreich als ihren Tendenzen entsprechend ansieht, auch wenn vorübergehend eine Art von Wettlauf im Liberalismus zwischen den beiden Regirungen stattfand. Der conservative Nimbus des östreichischen Namens überwog bei den meisten Mitgliedern dieser Fraction den Eindruck der theils überwundnen, theils neuen Vorstöße auf dem Gebiete des Liberalismus und der gelegentlichen Neigung zu Annäherungen an die Westmächte und speciell an Frankreich. Noch näher lagen die Erwägungen, welche den Katholiken den Bund mit der vorwiegend katholischen Großmacht als nützlich erscheinen ließen. Der nationalliberalen Partei war ein vertragsmäßig verbrieftes Bündniß des neuen Deutschen Reichs mit Oestreich ein Weg, auf dem man der Lösung der 1848er Cirkelquadratur näher kam, ohne an den Schwierigkeiten zu scheitern, die einer unitarischen Verbindung nicht nur zwischen Oestreich und Preußen-Deutschland, sondern schon innerhalb des ostreichisch-ungarischen Gesammtreichs entgegen standen. Es gab also auf unserm parlamentarischen Gebiete außer der socialdemokratischen Partei, deren Zustimmung überhaupt zu keiner Art von Regirungspolitik zu haben war, keinen Widerspruch gegen und sehr viel Vorliebe für das Bündniß mit Oestreich.

Auch die Traditionen des Völkerrechts waren von den Zeiten des Römischen Reichs deutscher Nation und des Deutschen Bundes her theoretisch darauf zugeschnitten, daß zwischen dem gesammten Deutschland und der Habsburgischen Monarchie eine staatsrechtliche Verbindung bestand, durch welche diese mitteleuropäischen Ländermassen theoretisch zum gegenseitigen Beistande verpflichtet erschienen. Praktisch allerdings ist ihre politische Zusammengehörigkeit in der Vorgeschichte nur selten zum Ausdruck gekommen; aber man konnte Europa und namentlich Rußland gegenüber mit Recht geltend machen, daß ein dauernder Bund zwischen Oestreich und dem heutigen Deutschen Reiche völkerrechtlich nichts Neues sei. Diese Fragen der Popularität in Deutschland und des Völkerrechts standen jedoch für mich in zweiter Linie und waren zu erwägen als Hülfsmittel für die eventuelle Ausführung. Im Vordergrunde stand die Frage, ob der Durchführung des Gedankens sofort näher zu treten und mit welchem Maße von Entschiedenheit der voraussichtliche Widerstand des Kaisers Wilhelm aus Gründen, die weniger der Politik als dem Gemüthsleben angehörten, zu bekämpfen sein würde. Mir erschienen die Gründe, die in der politischen Situation uns auf ein östreichisches Bündniß hinwiesen, so zwingender Natur, daß ich nach einem solchen auch gegen den Widerstand unsrer öffentlichen Meinung gestrebt haben würde.

IV.

Als Kaiser Wilhelm sich nach Alexandrowo begab (3. September), hatte ich schon in Gastein eine Begegnung mit dem Grafen Andrassy eingeleitet, die am 27. und 28. August stattfand.

Nachdem ich ihm die Lage dargelegt hatte, zog er daraus die Folgerung mit den Worten: »Gegen ein russisch-französisches Bündniß ist der natürliche Gegenzug ein östreichisch-deutsches.« Ich erwiderte, daß er damit die Frage formulirt habe, zu deren Besprechung ich unsre Zusammenkunft angeregt hätte, und wir kamen leicht zu einer vorläufigen Verständigung über ein rein defensives Bündniß gegen einen russischen Angriff auf einen von beiden Theilen, dagegen fand mein Vorschlag, das Bündniß auch auf andre als russische Angriffe auszudehnen, bei dem Grafen keinen Anklang.

Nachdem ich nicht ohne Schwierigkeit die Ermächtigung Sr. Majestät dazu erlangt hatte, in amtliche Verhandlungen einzutreten, nahm ich zu dem Zwecke meinen Rückweg über Wien.

Vor meiner Abreise von Gastein richtete ich am 10. September folgendes Schreiben an den König von Baiern:

»Gastein, den 10. September 1879.

Eure Majestät haben früher die Gnade gehabt, Allerhöchstihre Zufriedenheit mit den Bestrebungen auszusprechen, welche meinerseits dahin gerichtet waren, dem Deutschen Reiche Frieden und Freundschaft mit den beiden großen Nachbarreichen Oestreich und Rußland gleichmäßig zu erhalten.[7] Im Laufe der letzten drei Jahre ist diese Aufgabe um so schwieriger geworden, je mehr die russische Politik dem Einflusse der theils kriegerischen, theils revolutionären Tendenzen des Panslavismus sich hingegeben hat. Schon im Jahre 1876 wurde uns von Livadia aus wiederholentlich die Forderung gestellt, uns darüber in verbindlicher Form zu erklären, ob das Deutsche Reich in einem Kriege zwischen Rußland und Oestreich neutral bleiben werde. Es gelang nicht, dieser Erklärung auszuweichen, und das russische Kriegswetter zog einstweilen nach dem Balkan ab. Die auch nach dem Congresse noch immer großen Erfolge, welche die russische Politik infolge dieses Kriegs gewonnen hat, haben leider die Erregtheit der russischen Politik nicht in dem Maße abgekühlt, wie es für das friedliebende Europa wünschenswerth wäre. Die russischen Bestrebungen sind unruhig und friedlos geblieben; der Einfluß des panslavistischen Chauvinismus auf die Stimmungen des Kaisers Alexander hat sich gesteigert, und mit der, wie es leider scheint, ernstlichen Ungnade des Grafen Schuwalow hat dessen Werk, der Berliner Congreß, seine Verurtheilung durch den Kaiser erfahren. Der leitende Minister, insoweit es einen solchen in Rußland gegenwärtig giebt, ist der Kriegsminister Milutin. Auf sein Verlangen sind jetzt nach dem Frieden, wo Rußland von niemand bedroht ist, die gewaltigen Rüstungen erfolgt, welche trotz der Finanzopfer des Kriegs den Friedensstand des russischen Heers um 56 000, den Stand der mobilen westlichen Kriegsarmee um fast 400 000 Mann steigerten. Diese Rüstungen können nur gegen Oestreich oder Deutschland bestimmt sein, und die Truppenaufstellungen im Königreich Polen entsprechen einer solchen Bestimmung. Der Kriegsminister hat auch den technischen Commissionen[8] gegenüber rückhaltlos geäußert, daß Rußland sich auf einen Krieg ›mit Europa‹ einrichten müsse.

Wenn es zweifellos ist, daß der Kaiser Alexander, ohne den Türkenkrieg zu wollen, unter dem Drucke der panslavistischen Einflüsse denselben dennoch geführt hat, und wenn inzwischen dieselbe Partei ihren Einfluß dadurch gesteigert hat, daß dem Kaiser die Agitation, welche hinter ihr steht, heut mehr und gefährlichern Eindruck macht als früher, so liegt die Befürchtung nahe, daß es ihr ebenso gelingen kann, die Unterschrift des Kaisers Alexander für weitre kriegerische Unternehmungen nach Westen zu gewinnen. Die europäischen Schwierigkeiten, welchen Rußland auf diesem Wege begegnen könnte, können einen Minister wie Milutin oder Makoff wenig schrecken, wenn es wahr ist, was die Conservativen in Rußland befürchten, daß die Bewegungspartei, indem sie Rußland in schwere Kriege zu verwickeln sucht, weniger einen Sieg Rußlands über das Ausland, als einen Umsturz im Innern Rußlands erstrebt.

Ich kann mich unter diesen Umständen der Ueberzeugung nicht erwehren, daß der Friede durch Rußland, und zwar nur durch Rußland, in der Zukunft, vielleicht auch in naher Zukunft, bedroht sei. Die nach unsern Berichten in jüngster Zeit versuchten Ermittlungen, ob Rußland in Frankreich und Italien, wenn es Krieg beginnt, Beistand finden würde, haben freilich ein negatives Resultat ergeben. Italien ist machtlos befunden worden, und Frankreich hat erklärt, daß es jetzt keinen Krieg wolle und im Bunde mit Rußland allein sich für einen Angriffskrieg gegen Deutschland nicht stark genug fühle.

In dieser Lage hat nun Rußland in den letzten Wochen an uns Fordrungen gestellt, welche darauf hinausgehn, daß wir definitiv zwischen Rußland und Oestreich optiren sollen, indem wir die deutschen Mitglieder der orientalischen Commissionen anwiesen, in den zweifelhaften Fragen mit Rußland zu stimmen, während in diesen Fragen unsrer Meinung nach die richtige Auslegung der Congreßbeschlüsse auf Seiten der durch Oestreich, England und Frankreich gebildeten Majorität ist, und Deutschland deshalb mit dieser gestimmt hat, so daß Rußland theils mit, theils ohne Italien allein die Minorität bildet. Obschon diese Fragen, wie z. B. die Lage der Brücke bei Silistria, die der Türkei vom Congreß concedirte Militärstraße in Bulgarien, die Verwaltung der Post und Telegraphie und der Grenzstreit über einzelne Dörfer an sich im Vergleich mit dem Frieden großer Reiche sehr unbedeutende sind, so war das russische Verlangen, daß wir in Betreff derselben nicht mehr mit Oestreich, sondern mit Rußland stimmen sollten, nicht einmal, sondern wiederholt von unzweideutigen Drohungen begleitet bezüglich der Folgen, welche unsre Weigerung eventuell für die internationalen Beziehungen beider Länder haben würde. Diese auffällige Thatsache war, da sie mit dem Rücktritt des Grafen Andrassy[9] zusammenfiel, geeignet, die Besorgniß zu erwecken, daß zwischen Rußland und Oestreich eine geheime Verständigung zum Nachtheile Deutschlands stattgefunden hätte. Diese Besorgniß ist aber unbegründet; Oestreich fühlt gegenüber der Unruhe der russischen Politik dasselbe Unbehagen wie wir und scheint zu einer Verständigung mit uns behufs gemeinsamer Abwehr eines etwaigen russischen Angriffs auf eine der beiden Mächte geneigt zu sein.

Ich würde es für eine wesentliche Garantie des europäischen Friedens und der Sicherheit Deutschlands halten, wenn das Deutsche Reich auf eine solche Abmachung mit Oestreich einginge, welche zum Zweck hätte, den Frieden mit Rußland nach wie vor sorgfältig zu pflegen, aber wenn trotzdem eine der beiden Mächte angegriffen würde, einander beizustehn. Im Besitze dieser gegenseitigen Assecuranz könnten beide Reiche sich nach wie vor der erneuten Befestigung des Dreikaiserbunds widmen. Das Deutsche Reich im Bunde mit Oestreich würde der Anlehnung Englands nicht entbehren und bei der friedfertigen Politik der beiden großen Reichskörper den Frieden Europas mit zwei Millionen Streitern verbürgen. Der rein defensive Charakter dieser gegenseitigen Anlehnung der beiden deutschen Mächte aneinander könnte auch für niemand etwas Herausforderndes haben, da dieselbe gegenseitige Assecuranz beider in dem deutschen Bundesverhältniß von 1815 schon 50 Jahre völkerrechtlich bestanden hat.

Unterbleibt jedes Abkommen derart, so wird man es Oestreich nicht verargen können, wenn es unter dem Drucke russischer Drohungen und ohne Gewißheit über Deutschland schließlich entweder bei Frankreich oder bei Rußland selbst nähere Fühlung sucht. Träte der letztre Fall ein, so wäre Deutschland bei seinem Verhältniß zu Frankreich der gänzlichen Isolirung auf dem Continent ausgesetzt. Nähme Oestreich aber bei Frankreich und England Fühlung, ähnlich wie 1854, so wäre Deutschland auf Rußland allein angewiesen und wenn es sich nicht isoliren wollte, an die wie ich fürchte fehlerhaften und gefährlichen Bahnen der russischen innern und äußern Politik gebunden.

Zwingt uns Rußland, zwischen ihm und Oestreich zu optiren, so glaube ich, daß Oestreich die conservative und friedliebende Richtung für uns anzeigen würde, Rußland aber eine unsichre.

Ich wage mich der Hoffnung hinzugeben, daß Eure Majestät nach Allerhöchstdero mir bekannter politischer Auffassung meine vorstehende Ueberzeugung theilen, und würde glücklich sein, wenn ich darüber vergewissert werden könnte.

Die Schwierigkeiten der Aufgabe, welche ich mir stelle, sind an sich groß, aber sie werden noch wesentlich gesteigert durch die Nothwendigkeit, eine so umfängliche und vielseitige Angelegenheit schriftlich von hier aus zu verhandeln, wo ich lediglich auf meine eigne, durch die bisherige Ueberanstrengung ganz unzulänglich gewordne Arbeitskraft reducirt bin. Ich habe aus Gesundheitsrücksichten meinen Aufenthalt hier schon verlängern müssen, hoffe aber nach dem 20. ds. M. meine Rückreise über Wien antreten zu können. Wenn es bis dahin nicht gelingt, wenigstens prinzipiell zu einer Gewißheit zu gelangen, so wird, wie ich fürchte, die jetzt günstige Gelegenheit versäumt sein, und bei dem Rücktritt Andrassy's läßt sich nicht vorhersehn, ob sie jemals wiederkehren wird.

Wenn ich für meine Pflicht halte, meine Ansicht über die Lage und die Politik des Deutschen Reichs in Ehrfurcht zu Eurer Majestät Kenntniß zu bringen, so wollen Allerhöchstdieselben der Thatsache in Gnaden Rechnung tragen, daß Graf Andrassy und ich uns die Geheimhaltung des vorstehend dargelegten Planes gegenseitig zugesagt haben und bisher nur Ihre Majestäten die beiden Kaiser Kenntniß haben von der Absicht ihrer leitenden Minister, eine Vereinbarung zwischen Allerhöchstdenselben herbeizuführen.«

Ich füge zur Vervollständigung die Antwort des Königs, sowie meine Erwiderung bei:

»Mein lieber Fürst von Bismarck!

Mit aufrichtigem Bedauern entnahm ich Ihrem Schreiben vom 10. d. M., daß die Wirkung Ihrer Kissinger und Gasteiner Badecur durch anstrengende und aufregende Geschäftsthätigkeit beeinträchtigt wurde. Ihrer ausführlichen Darlegung des gegenwärtigen Standes der Politik bin ich mit dem größten Interesse gefolgt und spreche Ihnen hiefür meinen lebhaften Dank aus. Sollte es zwischen dem Deutschen Reiche und Rußland zu kriegerischen Verwickelungen kommen, so würde mich eine so tief beklagenswerthe Aenderung in den gegenseitigen Beziehungen beider Reiche auf das Schmerzlichste berühren, und noch gebe ich mich der Hoffnung hin, daß es gelingen wird, einer solchen Wendung der Dinge durch eine im friedlichen Sinne sich geltend machende Einwirkung auf Seine Majestät den Kaiser von Rußland vorzubeugen. Unter allen Umständen jedoch dürfen Ihre Bestrebungen für einen engen Anschluß des Deutschen Reichs an Oesterreich-Ungarn meines vollen Beifalles und meiner angelegentlichsten Wünsche für einen glücklichen Erfolg versichert sein.

Mit dem Wunsche, daß Sie neu gekräftigt in die Heimath zurückkehren mögen, verbinde ich gerne die wiederholte Versicherung besonderer Werthschätzung, mit welcher ich bin und stets verbleibe

Berg, den 16. September 1879.

Ihr

aufrichtiger Freund

Ludwig.«    

»Gastein, 19. 9. 1879.

Mit ehrfurchtsvollem Danke habe ich Eurer Majestät gnädiges Schreiben vom 16. d. M. erhalten und daraus zu meiner Freude das Allerhöchste Einverständniß mit meinen Bestrebungen nach gegenseitiger Anlehnung mit Oestreich-Ungarn entnommen. In Betreff der Beziehungen zu Rußland bemerke ich allerunterthänigst, daß die Gefahr kriegerischer Verwicklungen, welche auch ich nicht nur politisch, sondern auch persönlich auf das Tiefste beklagen würde, nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten nicht unmittelbar bevorsteht, uns vielmehr nur dann nähertreten würde, wenn Frankreich zu einem gemeinsamen Vorgehn mit Rußland bereit wäre. Dies ist bisher nicht der Fall, und unsre Politik wird nach den Intentionen Seiner Majestät des Kaisers nichts unterlassen, um den Frieden des Reichs mit Rußland durch Einwirkung auf Seine Majestät den Kaiser Alexander nach wie vor zu pflegen und zu befestigen. Die Verhandlungen über einen engern gegenseitigen Anschluß mit Oestreich haben nur friedliche, defensive Ziele und daneben die Fördrung der nachbarlichen Verkehrsverhältnisse zum Ziele.

In der Absicht, Gastein morgen zu verlassen, hoffe ich am Sonntag in Wien einzutreffen.

Mit unterthänigstem Danke für Eurer Majestät huldreiche Theilnahme an meiner Gesundheit verharre ich in tiefster Ehrfurcht

Eurer Majestät

unterthänigster Diener                        

v. Bismarck.«

__________________
Anmerkungen:
  1. Kap. 26, s. o. S. 201 f.
  2. S. o. S. 204 ff. den Brief Bismarck's an den Kaiser vom 13. Aug. 1875.
  3. Die in Klammern gesetzten Worte enthalten einen Irrthum. Nach dem ersten Pariser Frieden wurde Frankreich alsbald geräumt; nach dem zweiten Pariser Frieden blieben Theile des Landes einige Jahre lang besetzt.
  4. Die in Klammern gesetzten Worte fehlen in der ersten Ausgabe infolge eines erst nachträglich bemerkten Irrthums des Abschreibers.
  5. S. o. S. 201.
  6. S. o. S. 253.
  7. S. Bd. I S. 388 ff.
  8. Welche gewisse Bestimmungen des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878 auszuführen hatten.
  9. Am 14. August hatte der Kaiser Franz Joseph die von dem Grafen Andrassy nachgesuchte Entlassung im Prinzip genehmigt, sich aber die definitive Enthebung vorbehalten, bis über den Nachfolger Beschluß gefaßt sei. Der Graf verstand sich dazu, noch einige Zeit in Function zu bleiben, um das Bündniß mit Deutschland zu Stande zu bringen. Am 8. October wurde seine Verabschiedung und die Ernennung seines Nachfolgers Haymerle veröffentlicht.
 Top