V.
Auf der langen Fahrt von Gastein über Salzburg und Linz wurde mein Bewußtsein, daß ich mich auf rein deutschem Gebiete und unter deutscher Bevölkerung befand, durch die entgegenkommende Haltung des Publikums auf den Stationen vertieft. In Linz war die Masse so groß und ihre Stimmung so erregt, daß ich aus Besorgniß, in Wiener Kreisen Mißverständnisse zu erregen, die Vorhänge der Fenster meines Wagens vorzog, auf keine der wohlwollenden Kundgebungen reagirte und abfuhr, ohne mich gezeigt zu haben. In Wien fand ich eine ähnliche Stimmung in den Straßen, die Begrüßungen der dicht gedrängten Menge waren so zusammenhängend, daß ich, da ich in Civil war, in die unbequeme Notwendigkeit gerieth, die Fahrt zum Gasthofe so gut wie mit bloßem Kopfe zurückzulegen. Auch während der Tage, die ich in dem Gasthofe zubrachte, konnte ich mich nicht am Fenster zeigen, ohne freundliche Demonstrationen der dort Wartenden oder Vorübergehenden hervorzurufen. Diese Kundgebungen vermehrten sich, nachdem der Kaiser Franz Joseph mir die Ehre erzeigt hatte, mich zu besuchen. Alle diese Erscheinungen waren der unzweideutige Ausdruck des Wunsches der Bevölkerung der Hauptstadt und der durchreisten deutschen Provinzen, eine enge Freundschaft mit dem neuen Deutschen Reiche als Signatur der Zukunft beider Großmächte sich bilden zu sehn. Daß dieselben Sympathien im Deutschen Reiche, im Süden noch mehr als im Norden, bei den Conservativen mehr als bei der Opposition, im katholischen Westen mehr als im evangelischen Osten, der Blutsverwandschaft entgegenkamen, war mir nicht zweifelhaft. Die angeblich confessionellen Kämpfe des dreißigjährigen Kriegs, die einfach politischen des siebenjährigen und die diplomatischen Rivalitäten vom Tode Friedrich's des Großen bis 1866 hatten das Gefühl dieser Verwandschaft nicht erstickt, so sehr sonst der Deutsche auch geneigt ist, den Landsmann, wenn ihm Gelegenheit dazu geboten wird, mit mehr Eifer zu bekämpfen als den Ausländer. Es ist möglich, daß der slavische Keil, durch den in Gestalt der Czechen die urdeutsche Bevölkerung der östreichischen Stammlande von den nordwestlichen Landsleuten getrennt ist, die Wirkungen, die nachbarliche Reibungen auf Deutsche gleichen Stamms, aber verschiedner dynastischer Angehörigkeit, auszuüben pflegen, abgeschwächt und das germanische Gefühl der Deutsch-Oestreicher gekräftigt hat, das durch den Schutt, den historische Kämpfe hinterlassen, wohl verdeckt, aber nicht erstickt worden ist. Ich fand bei dem Kaiser Franz Joseph eine sehr huldreiche Aufnahme und die Bereitwilligkeit, mit uns abzuschließen. Um mich der Zustimmung meines allergnädigsten Herrn zu versichern, hatte ich schon in Gastein täglich einen Theil der für die Cur bestimmten Zeit am Schreibtische zugebracht und auseinandergesetzt, daß es nothwendig sei, den Kreis der möglichen gegen uns gerichteten Coalitionen einzuschränken, und daß der zweckmäßigste Weg dazu ein Bündniß mit Oestreich sei. Ich hatte freilich wenig Hoffnung, daß der todte Buchstabe meiner Abhandlungen die mehr auf Gemüthsregungen als auf politischer Erwägung beruhende Auffassung Sr. Majestät ändern werde. Der Abschluß eines Vertrags, dessen wenn auch defensives doch kriegerisches Ziel ein Ausdruck des Mißtrauns gegen den Freund und Neffen war, mit dem er eben in Alexandrowo von Neuem unter Thränen und in der vollsten Aufrichtigkeit des Herzens die Versichrungen der althergebrachten Freundschaft ausgetauscht hatte, lief zu sehr gegen die ritterlichen Gefühle, mit denen der Kaiser sein Verhältniß zu einem ebenbürtigen Freunde auffaßte. Ich zweifelte zwar nicht, daß die gleiche rückhaltlose Ehrlichkeit des Empfindens bei dem Kaiser Alexander vorhanden war; aber ich wußte, daß er nicht die Schärfe des politischen Urtheils und nicht die Arbeitsamkeit besaß, die ihn dauernd gegen die unaufrichtigen Einflüsse seiner Umgebung gedeckt hätten, auch nicht die gewissenhafte Zuverlässigkeit in persönlichen Beziehungen, die meinen hohen Herrn auszeichnete. Die Offenheit, die der Kaiser Nicolaus im Guten wie im Bösen bewiesen hatte, war auf die weichre Natur seines Nachfolgers nicht vollständig übergegangen; auch weiblichen Einflüssen gegenüber war die Unabhängigkeit des Sohns nicht auf derselben Höhe wie die des Vaters. Nun ist aber die einzige Bürgschaft für die Dauer der russischen Freundschaft die Persönlichkeit des regirenden Kaisers, und sobald letztre eine minder sichre Unterlage gewährt, als Alexander I., der 1813 eine auf demselben Throne nicht immer vorauszusetzende Treue gegen das preußische Königshaus bewährt hat, wird man auf das russische Bündniß, wenn man seiner bedarf, nicht jederzeit in dem vollen Maße des Bedürfnisses rechnen können.
Schon im vorigen Jahrhundert war es gefährlich, auf die zwingende Gewalt eines Bündnißtextes zu rechnen, wenn die Verhältnisse, unter denen er geschrieben war, sich geändert hatten; heut zu Tage aber ist es für eine große Regirung kaum möglich, die Kraft ihres Landes für ein andres befreundetes voll einzusetzen, wenn die Ueberzeugung des Volks es mißbilligt. Es gewahrt deshalb der Wortlaut eines Vertrags dann, wenn er zur Kriegführung zwingt, nicht mehr die gleichen Bürgschaften wie zur Zeit der Cabinetskriege, die mit Heeren von 30 bis 60 000 Mann geführt wurden; ein Familienkrieg, wie ihn Friedrich Wilhelm II. für seinen Schwager in Holland führte, ist heut schwer in Scene zu setzen, und für einen Krieg, wie Nicolaus ihn 1849 in Ungarn führte, finden sich die Vorbedingungen nicht leicht wieder. Indessen ist auf die Diplomatie in den Momenten, wo es sich darum handelt, einen Krieg herbeizuführen oder zu vermeiden, der Wortlaut eines klaren und tiefgreifenden Vertrags nicht ohne Einfluß. Die Bereitwilligkeit zum zweifellosen Wortbruch pflegt auch bei sophistischen und gewaltthätigen Regirungen nicht vorhanden zu sein, so lange nicht die force majeure unabweislicher Interessen eintritt.
Alle Erwägungen und Argumente, die ich dem in Baden befindlichen Kaiser schriftlich aus Gastein, aus Wien und demnächst aus Berlin unterbreitete, waren ohne die gewünschte Wirkung. Um die Zustimmung des Kaisers zu dem von mir mit Andrassy vereinbarten und von dem Kaiser Franz Joseph unter der Voraussetzung, daß Kaiser Wilhelm dasselbe thun würde, genehmigten Vertragsentwurfe herbeizuführen, war ich genöthigt, zu dem für mich sehr peinlichen Mittel der Cabinetsfrage zu greifen, und es gelang mir, meine Collegen für mein Vorhaben zu gewinnen. Da ich selbst von den Anstrengungen der letzten Wochen und von der Unterbrechung der Gasteiner Cur zu angegriffen war, um die Reise nach Baden-Baden zu machen, so übernahm sie Graf Stolberg; er führte die Verhandlungen, wenn auch unter starkem Widerstreben Sr. Majestät, glücklich zu Ende.[1] Der Kaiser war von den politischen Argumenten nicht überzeugt worden, sondern ertheilte das Versprechen, den Vertrag zu ratificiren, nur aus Abneigung gegen einen Personenwechsel in dem Ministerium. Der Kronprinz war von Hause aus für das östreichische Bündniß lebhaft eingenommen, aber ohne Einfluß auf seinen Vater.
Der Kaiser hielt es in seinem ritterlichen Sinne für erforderlich, den Kaiser von Rußland vertraulich darüber zu verständigen,[2] daß er, wenn er eine der beiden Nachbarmächte angriffe, beide gegen sich haben werde, damit Kaiser Alexander nicht etwa irrthümlich annehme, Oestreich allein angreifen zu können. Mir schien diese Besorgnis; ungegründet, da das Petersburger Cabinet schon aus unsrer Beantwortung der aus Livadia an uns gerichteten Frage wissen mußte, daß wir Oestreich nicht würden fallen lassen, durch unsern Vertrag mit Oestreich also eine neue Situation nicht geschaffen, nur die vorhandne legalisirt wurde.
VI.
Eine Erneurung der Kaunitz'schen Coalition wäre für Deutschland, wenn es in sich geschlossen einig bleibt und seine Kriege geschickt geführt werden, zwar keine verzweifelte, aber doch eine sehr ernste Constellation, welche nach Möglichkeit zu verhüten Aufgabe unsrer auswärtigen Politik sein muß. Wenn die geeinte östreichisch-deutsche Macht in der Festigkeit ihres Zusammenhangs und in der Einheitlichkeit ihrer Führung ebenso gesichert wäre wie die russische und die französische, jede für sich betrachtet, es sind, so würde ich, auch ohne daß Italien der Dritte im Bunde wäre, den gleichzeitigen Angriff unsrer beiden großen Nachbarreiche nicht für lebensgefährlich halten. Wenn aber in Oestreich antideutsche Richtungen nationaler oder confessioneller Natur sich stärker als bisher zeigen, wenn russische Versuchungen und Anerbietungen auf dem Gebiet der orientalischen Politik wie zur Zeit Katharina's und Joseph's II. hinzutreten, wenn italienische Begehrlichkeiten Oestreichs Besitz am Adriatischen Meere bedrohn und seine Streitkräfte in ähnlicher Weise wie zu Radetzky's Zeit in Anspruch nehmen sollten: dann würde der Kampf, dessen Möglichkeit mir vorschwebt, ungleicher sein. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie viel gefährdeter Deutschlands Lage erscheint, wenn man sich auch Oestreich, nach Herstellung der Monarchie in Frankreich, im Einverständniß beider mit der Römischen Curie, im Lager unsrer Gegner denkt mit dem Bestreben, die Ergebnisse von 1866 aus der Welt zu schaffen.
Diese pessimistische, aber doch nicht außer dem Bereich der Möglichkeit liegende und durch Vergangnes nicht ungerechtfertigte Vorstellung hatte mich veranlaßt, die Frage anzuregen, ob sich ein organischer Verband zwischen dem Deutschen Reiche und Oestreich-Ungarn empföhle, der nicht wie gewöhnliche Verträge kündbar, sondern der Gesetzgebung beider Reiche einverleibt und nur durch einen neuen Art der Gesetzgebung eines derselben lösbar wäre.
Eine solche Assecuranz hat für den Gedanken etwas Beruhigendes; ob auch im Drange der Ereignisse etwas Sicherstellendes, daran kann man zweifeln, wenn man sich erinnert, daß die theoretisch sehr viel stärker verpflichtende Verfassung des heiligen Römischen Reichs den Zusammenhalt der deutschen Nation niemals hat sichern können, und daß wir nicht im Stande sein würden, für unser Verhältniß zu Oestreich einen Vertragsmodus zu finden, der in sich eine stärkre Bindekraft trüge als die frühern Bundesverträge, nach denen die Schlacht von Königgrätz theoretisch unmöglich war. Die Haltbarkeit aller Verträge zwischen Großstaaten ist eine bedingte, sobald sie »in dem Kampf um's Dasein« auf die Probe gestellt wird. Keine große Nation wird je zu bewegen sein, ihr Bestehn auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern, wenn sie gezwungen ist, zwischen beiden zu wählen. Das ultra posse nemo obligatur kann durch keine Vertragsclausel außer Kraft gesetzt werden; und ebenso wenig läßt sich durch einen Vertrag das Maß von Ernst und Kraftaufwand sicherstellen, mit dem die Erfüllung geleistet werden wird, sobald das eigne Interesse des Erfüllenden dem unterschriebenen Texte und seiner frühern Auslegung nicht mehr zur Seite steht. Es läßt sich daher, wenn in der europäischen Politik Wendungen eintreten, die für Oestreich-Ungarn eine antideutsche Politik als Staatsrettung erscheinen lassen, eine Selbstaufopfrung für die Vertragstreue ebenso wenig erwarten, wie während des Krimkriegs die Einlösung einer Dankespflicht erfolgte, die vielleicht gewichtiger war als das Pergament eines Staatsvertrags.
Ein Bündniß unter gesetzlicher Bürgschaft wäre eine Verwirklichung der Verfassungsgedanken gewesen, die in der Paulskirche den gemäßigtsten Mitgliedern, den Vertretern des engern reichsdeutschen und des größern östreichisch-deutschen Bunds vorschwebten; aber grade die vertragsmäßige Sicherstellung solcher gegenseitigen Verpflichtungen ist eine Feindin ihrer Haltbarkeit. Das Beispiel Oestreichs aus der Zeit von 1850 bis 1866 ist mir eine Warnung gewesen, daß die politischen Wechsel, die man auf solche Verhältnisse zu ziehn in Versuchung kommt, über die Grenzen des Credits hinausgehn, den unabhängige Staaten in ihren politischen Operationen einander gewähren können. Ich glaube deshalb, daß das wandelbare Element des politischen Interesses und seiner Gefahren ein unentbehrliches Unterfutter für geschriebene Verträge ist, wenn sie haltbar sein sollen. Für eine ruhige und erhaltende östreichische Politik ist das deutsche Bündniß das nützlichste.
Die Gefahren, die für unsre Einigkeit mit Oestreich in den Versuchungen russisch-östreichischer Verständigungen im Sinne der Zeit von Joseph II. und Katharina oder der Reichstadter Convention und ihrer Heimlichkeit liegen, lassen sich, so weit das überhaupt möglich ist, paralysiren, wenn wir zwar fest auf Treue gegen Oestreich, aber auch darauf halten, daß der Weg von Berlin nach Petersburg frei bleibt. Unsre Aufgabe ist, unsre beiden kaiserlichen Nachbarn in Frieden zu erhalten. Die Zukunft der vierten großen Dynastie in Italien werden wir in demselben Maße sicher zu stellen im Stande sein, in dem es uns gelingt, die drei Kaiserreiche einig zu erhalten und den Ehrgeiz unsrer beiden östlichen Nachbarn entweder zu zügeln oder in beiderseitiger Verständigung zu befriedigen. Jeder von beiden ist für uns nicht nur in der europäischen Gleichgewichtsfrage unentbehrlich, – wir könnten keinen von beiden missen, ohne selbst gefährdet zu werden – sondern die Erhaltung eines Elements monarchischer Ordnung in Wien und Petersburg, und auf der Basis beider in Rom, ist für uns in Deutschland eine Aufgabe, die mit der Erhaltung der staatlichen Ordnung bei uns selbst zusammenfällt.
VII.
Der Vertrag, den wir mit Oestreich zu gemeinsamer Abwehr eines russischen Angriffs geschlossen haben, ist publici juris. Ein analoger Defensivvertrag zwischen beiden Mächten gegenüber Frankreich ist nicht bekannt. Das deutsch-östreichische Bündniß enthält gegen einen französischen Krieg, von dem Deutschland in erster Linie bedroht ist, nicht dieselbe Deckung wie gegen einen russischen, der mehr für Oestreich als für Deutschland wahrscheinlich ist. Zwischen Deutschland und Rußland existiren keine Verschiedenheiten der Interessen, welche die Keime von Conflicten und eines Bruchs unabweislich in sich trügen. Dagegen gewähren die übereinstimmenden Bedürfnisse in der polnischen Frage und die Nachwirkung der hergebrachten dynastischen Solidarität im Gegensatz zu den Umsturzbestrebungen Unterlagen für eine gemeinsame Politik beider Cabinete. Dieselben sind abgeschwächt worden durch eine zehnjährige Fälschung der öffentlichen Meinung seitens der russischen Presse, die in dem lesenden Theile der Bevölkerung einen künstlichen Haß gegen alles Deutsche geschaffen und genährt hat, mit dem die Dynastie rechnen muß, auch wenn der Kaiser die deutsche Freundschaft pflegen will. Doch dürfte die Feindschaft der russischen Massen gegen das Deutschthum kaum schärfer zugespitzt sein wie die der Czechen in Böhmen und Mähren, der Slowenen in dem frühern deutschen Bundesgebiete und der Polen in Galizien. Kurz, wenn ich in der Wahl zwischen dem russischen und dem östreichischen Bündniß das letztre vorgezogen habe, so bin ich keineswegs blind gewesen gegen die Zweifel, welche die Wahl erschwerten. Ich habe die Wege nachbarlicher Beziehungen zu Rußland neben unserm defensiven Bunde mit Oestreich nach wie vor für geboten angesehn, denn eine sichre Assecuranz gegen einen Schiffbruch der gewählten Combination ist für Deutschland nicht vorhanden, wohl aber die Möglichkeit, antideutsche Velleitäten in Oestreich-Ungarn in Schach zu halten, so lange die deutsche Politik sich die Brücke, die nach Petersburg führt, nicht abbricht und keinen Riß zwischen Rußland und uns herstellt, der sich nicht überbrücken ließe. So lange ein solcher unheilbarer Riß nicht vorhanden ist, wird es für Wien möglich bleiben, die dem deutschen Bündnisse feindlichen oder fremden Elemente im Zaume zu halten. Wenn aber der Bruch zwischen uns und Rußland, schon die Entfremdung, unheilbar erschiene, würden auch in Wien die Ansprüche wachsen, die man an die Dienste des deutschen Bundesgenossen glauben würde stellen zu können, erstens in Erweitrung des casus foederis, der sich bisher nach dem veröffentlichten Texte doch nur auf die Abwehr eines russischen Angriffs auf Oestreich erstreckt, und zweitens in dem Verlangen, dem bezeichneten casus foederis die Vertretung östreichischer Interessen im Balkan und im Orient zu substituiren, was selbst in unsrer Presse schon mit Erfolg versucht worden ist. Es ist natürlich, daß die Bewohner des Donaubeckens Bedürfnisse und Pläne haben, die sich über die heutigen Grenzen der östreichisch-ungarischen Monarchie hinaus erstrecken; und die deutsche Reichsverfassung zeigt den Weg an, auf dem Oestreich eine Versöhnung der politischen und materiellen Interessen erreichen kann, die zwischen der Ostgrenze des rumänischen Volksstamms und der Bucht von Cattaro vorhanden sind. Aber es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Reichs, seine Unterthanen mit Gut und Blut zur Verwirklichung von nachbarlichen Wünschen herzuleihn. Die Erhaltung der östreichisch-ungarischen Monarchie als einer unabhängigen starken Großmacht ist für Deutschland ein Bedürfniß des Gleichgewichts in Europa, für das der Friede des Landes bei eintretender Nothwendigkeit mit gutem Gewissen eingesetzt werden kann. Man sollte sich jedoch in Wien enthalten, über diese Assecuranz hinaus Ansprüche aus dem Bündnisse ableiten zu wollen, für die es nicht geschlossen ist. Directe Bedrohung des Friedens zwischen Deutschland und Rußland ist kaum auf anderm Wege möglich, als durch künstliche Verhetzung oder durch den Ehrgeiz russischer oder deutscher Militärs von der Art Skobelew's, die den Krieg wünschen, bevor sie zu alt werden, um sich darin auszuzeichnen. Es gehört ein ungewöhnliches Maß von Dummheit und Verlogenheit in der öffentlichen Meinung und in der Presse Rußlands dazu, um zu glauben und zu behaupten, daß die deutsche Politik von aggressiven Tendenzen geleitet worden sei, indem sie das östreichische und dann das italienische Defensivbündniß abschloß. Die Verlogenheit war mehr polnisch-französischen, die Dummheit mehr russischen Ursprungs. Polnisch-französische Gewandheit hat auf dem Felde der russischen Leichtgläubigkeit und Unwissenheit den Sieg über den Mangel solcher Gewandheit davongetragen, in dem je nach den Umständen eine Stärke oder Schwäche der deutschen Politik liegt. In den meisten Fällen ist eine offne und ehrliche Politik erfolgreicher als die Feinspinnerei früherer Zeiten, aber sie bedarf, wenn sie gelingen soll, eines Maßes von persönlichem Vertraun, das leichter zu verlieren als zu erwerben ist.
Niemand kann die Zukunft Oestreichs an sich mit der Sicherheit berechnen, die für dauernde und organische Verträge erforderlich ist. Die bei Gestaltung derselben mitwirkenden Factoren sind ebenso mannigfaltig wie die Völkermischung: und zu der ätzenden und gelegentlich sprengenden Wirkung dieser kommt der unberechenbare Einfluß, den je nach dem Steigen oder Fallen der römischen Fluth das confessionelle Element auf die leitenden Persönlichkeiten auszuüben vermag. Nicht blos der Panslavismus und Bulgarien oder Bosnien, sondern auch die serbische, die rumänische, die polnische, die czechische Frage, ja selbst noch heut die italienische im Trentino, in Triest und an der dalmatischen Küste, können zu Krystallisationspunkten für nicht blos östreichische, sondern auch europäische Krisen werden, von denen die deutschen Interessen nur insoweit nachweislich berührt werden, als das Deutsche Reich mit Oestreich in ein solidarisches Haftverhältniß tritt. In Böhmen ist die Spaltung zwischen Deutschen und Czechen stellenweis schon so weit in die Armee eingedrungen, daß die Offiziere beider Nationalitäten in einigen Regimentern nicht mit einander verkehren und getrennt essen. Für Deutschland unmittelbar existirt die Gefahr, in schwere und gefährliche Kämpfe verwickelt zu werden, mehr auf seiner Westseite infolge der angriffslustigen, auf Eroberung gerichteten Neigungen des französischen Volks, die von den Monarchen seit den Zeiten Kaiser Karl's V. im Interesse ihrer Herrschsucht im Innern sowohl wie nach Außen groß gezogen worden sind.
Der Beistand Oestreichs ist für uns gegen Rußland leichter zu haben als gegen Frankreich, nachdem die Frictionen dieser beiden Mächte in dem von ihnen umworbenen Italien in der alten Form nicht mehr existiren. Für ein monarchisches und katholisch gesinntes Frankreich, wenn ein solches wieder erstanden, wäre die Hoffnung nicht erstorben, ähnliche Beziehungen zu Oestreich wieder zu gewinnen, wie sie während des siebenjährigen Kriegs und auf dem Wiener Congreß vor der Rückkehr Napoleon's von Elba bestanden, in der polnischen Frage 1863 drohten, im Krimkriege und zur Zeit des Grafen Beust von 1867 bis 1870 in Salzburg und Wien Aussicht auf Verwirklichung hatten. Bei etwaiger Wiederherstellung der Monarchie in Frankreich würde die durch die italienische Rivalität nicht mehr abgeschwächte gegenseitige Anziehung der beiden katholischen Großmächte unternehmende Politiker in Versuchung führen können, mit der Wiederbelebung derselben zu experimentiren.
In der Beurtheilung Oestreichs ist es auch heut noch ein Irrthum, die Möglichkeit einer feindseligen Politik auszuschließen, wie sie von Thugut, Schwarzenberg, Buol, Bach und Beust getrieben worden ist. Kann sich nicht die Politik für Pflicht gehaltner Undankbarkeit, deren Schwarzenberg sich Rußland gegenüber rühmte, in andrer Richtung wiederholen, die Politik, die uns von 1792 bis 1795, während wir mit Oestreich im Felde standen, Verlegenheit bereitete und (uns) im Stiche ließ, um uns gegenüber in den polnischen Händeln stark genug zu bleiben, die bis dicht an den Erfolg bestrebt war, uns einen russischen Krieg auf den Hals zu ziehn, während wir als nominelle Verbündete für das Deutsche Reich gegen Frankreich fochten, die sich auf dem Wiener Congreß bis nahe zum Kriege gegen Rußland und Preußen geltend machte? Die Anwandlungen, ähnliche Wege einzuschlagen, werden für jetzt durch die persönliche Ehrlichkeit und Treue des Kaisers Franz Joseph niedergehalten, und dieser Monarch ist nicht mehr so jung und ohne Erfahrung, wie zu der Zeit, da er sich von der persönlichen Rancüne des Grafen Buol gegen den Kaiser Nicolaus zum Politischen Druck auf Rußland bestimmen ließ, wenig Jahre nach Vilagos; aber seine Garantie ist eine rein persönliche, fällt mit dem Personenwechsel hinweg, und die Elemente, die die Träger einer rivalisirenden Politik zu verschiednen Epochen gewesen sind, können zu neuem Einflusse gelangen. Die Liebe der galizischen Polen, des ultramontanen Clerus für das Deutsche Reich ist vorübergehender und opportunistischer Natur, ebenso das Uebergewicht der Einsicht in die Nützlichkeit der deutschen Anlehnung über das Gefühl der Geringschätzung, mit dem der vollblütige Magyar auf den Schwaben herabsieht. In Ungarn, in Polen sind französische Sympathien auch heut lebendig, und im Clerus der habsburgischen Gesammtmonarchie würde eine katholisch-monarchische Restauration in Frankreich die Beziehungen wieder beleben können, die 1863 und zwischen 1866 und 1870 in gemeinsamer Diplomatie und in mehr oder weniger reifen Vertragsbildungen ihren Ausdruck fanden. Die Bürgschaft, die diesen Möglichkeiten gegenüber in der Person des heutigen Kaisers von Oestreich und Königs von Ungarn liegt, steht, wie gesagt, auf zwei Augen; eine voraussehende Politik soll aber alle Eventualitäten im Auge behalten, die im Reiche der Möglichkeit liegen. Die Möglichkeit eines Wettbewerbs zwischen Wien und Berlin um russische Freundschaft kann ebenso gut wiederkommen, wie sie zur Zeit von Olmütz vorhanden war, und zur Zeit des Reichstadter Vertrags unter dem uns sehr wohlgesinnten Grafen Andrassy Lebenszeichen gab.
Dieser Eventualität gegenüber ist es ein Vortheil für uns, daß Oestreich und Rußland entgegengesetzte Interessen im Balkan haben, und daß solche zwischen Rußland und Preußen-Deutschland nicht in der Stärke vorhanden sind, daß sie zu Bruch und Kampf Anlaß geben könnten. Dieser Vortheil kann aber vermöge der russischen Staatsverfassung durch persönliche Verstimmungen und ungeschickte Politik noch heut mit derselben Leichtigkeit aufgehoben werden, mit der die Kaiserin Elisabeth durch Witze und bittre Worte Friedrich's des Großen bewogen wurde, dem französisch-östreichischen Bunde gegen uns beizutreten. Zuträgereien, wie sie damals zur Aufhetzung Rußlands dienten, Erfindungen und Indiscretionen werden auch heut an beiden Höfen nicht fehlen; aber wir können Unabhängigkeit und Würde Rußland gegenüber wahren, ohne die russische Empfindlichkeit zu provociren und Rußlands Interessen zu schädigen. Verstimmung und Erbittrung, welche ohne Nothwendigkeit provocirt werden, sind heut so wenig ohne Rückwirkung auf die geschichtlichen Ereignisse, wie zur Zeit der Kaiserin Elisabeth von Rußland und der Königin Anna von England. Aber die Rückwirkung von Ereignissen, die dadurch gefördert werden, auf das Wohl und die Zukunft der Völker ist heut zu Tage gewaltiger als vor 100 Jahren. Eine Coalition wie im siebenjährigen Kriege gegen Preußen von Rußland, Oestreich und Frankreich, vielleicht in Verbindung mit andern dynastischen Unzufriedenheiten, ist für unsre Existenz ebenso gefährlich und für unsern Wohlstand, wenn sie siegt, noch erdrückender als die damalige. Es ist unvernünftig und ruchlos, die Brücke, die uns eine Annäherung an Rußland gestattet, aus persönlicher Verstimmung abzubrechen.
Wir müssen und können der östreichisch-ungarischen Monarchie das Bündniß ehrlich halten; es entspricht unsern Interessen, den historischen Traditionen Deutschlands und der öffentlichen Meinung unsres Volks. Die Eindrücke und Kräfte, unter denen die Zukunft der Wiener Politik sich zu gestalten haben wird, sind jedoch complicirter als bei uns, wegen der Mannigfaltigkeit der Nationalitäten, der Divergenz ihrer Bestrebungen, der clericalen Einflüsse und der in den Breiten des Balkan und des Schwarzen Meeres für die Donauländer liegenden Versuchungen. Wir dürfen Oestreich nicht verlassen, aber auch die Möglichkeit, daß wir von der Wiener Politik freiwillig oder unfreiwillig verlassen werden, nicht aus den Augen verlieren. Die Möglichkeiten, die uns in solchen Fällen offen bleiben, muß die Leitung der deutschen Politik, wenn sie ihre Pflicht thun will, sich klar machen und gegenwärtig halten, bevor sie eintreten, und sie dürfen nicht von Vorliebe oder Verstimmung abhängen, sondern nur von objectiver Erwägung der nationalen Interessen.
VIII.
Ich habe mich stets bemüht, nicht nur die Sicherstellung gegen russische Angriffe, sondern auch die Beruhigung der russischen Stimmung und den Glauben an den inoffensiven Charakter unsrer Politik zu pflegen. Es ist mir auch bis zu meinem Ausscheiden aus dem Amte vermöge des persönlichen Vertrauns, das Kaiser Alexander III. mir schenkte, stets gelungen, dem Mißtraun die Spitze abzubrechen, das wiederholt durch fremde und einheimische Entstellungen und gelegentlich durch diesseitige militärische Unterströmungen in ihm erregt wurde. Er hat mir, als ich ihn auf der Danziger Rhede zum ersten Male als Kaiser sah, und bei allen spätern Begegnungen auch trotz der über den Berliner Congreß verbreiteten Lügen und trotz der Kenntniß des östreichischen Vertrags ein Wohlwollen bewiesen, das in Skierniewice und in Berlin zum authentischen Ausdruck kam und darauf beruhte, daß er mir glaubte. Selbst die durch ihre unverschämte Dreistigkeit eindrucksvolle Intrige mit gefälschten Briefen, die ihm in Kopenhagen zugesteckt worden waren, wurde durch meine einfache Versichrung sofort unschädlich gemacht. Ebenso gelang es mir bei der Begegnung im October 1889, die Zweifel, die er wieder aus Kopenhagen mitgebracht hatte, zu zerstreun bis auf den einen, ob ich Minister bleiben würde. Er war wohl besser unterrichtet als ich, als er die Frage an mich richtete, ob ich meiner Stellung bei dem jungen Kaiser ganz sicher sei. Ich antwortete, was ich damals dachte, daß ich von dem Vertraun Kaiser Wilhelm's II. zu mir überzeugt sei und nicht glaubte, daß ich jemals gegen meinen Willen würde entlassen werden, weil Seine Majestät bei meiner langjährigen Erfahrung im Dienste und bei dem Vertraun, das ich mir in Deutschland sowohl wie bei den auswärtigen Höfen erworben hätte, in meiner Person einen schwer zu ersetzenden Diener besäße. Der Kaiser gab seiner großen Genugthuung über meine Zuversicht Ausdruck, wenn er sie auch nicht unbedingt zu theilen schien.
Die internationale Politik ist ein flüssiges Element, das unter Umständen zeitweilig fest wird, aber bei Veränderungen der Atmosphäre in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückfällt. Die clausula rebus sic stantibus wird bei Staatsverträgen, die Leistungen bedingen, stillschweigend angenommen. Der Dreibund ist eine strategische Stellung, welche Angesichts der zur Zeit seines Abschlusses drohenden Gefahren rathsam und unter den obwaltenden Verhältnissen zu erreichen war. Er ist von Zeit zu Zeit verlängert worden, und es mag gelingen, ihn weiter zu verlängern; aber ewige Dauer ist keinem Vertrage zwischen Großmächten gesichert, und es wäre unweise, ihn als sichre Grundlage für alle Möglichkeiten betrachten zu wollen, durch die in Zukunft die Verhältnisse, Bedürfnisse und Stimmungen verändert werden können, unter denen er zu Stande gebracht wurde. Er hat die Bedeutung einer strategischen Stellungnahme in der europäischen Politik nach Maßgabe ihrer Lage zur Zeit des Abschlusses; aber ein für jeden Wechsel haltbares ewiges Fundament bildet er für alle Zukunft ebenso wenig, wie viele frühere Tripel- und Quadrupel-Allianzen der letzten Jahrhunderte und insbesondre die heilige Allianz und der Deutsche Bund. Er dispensirt nicht von dem toujours en vedette!
__________________Anmerkungen:
- ↑ Die auf die Vorgeschichte des deutsch-österreichischen Bündnisses bezüglichen Akten sind bei Busch, Bismarck Some secret pages of his history, London, Maccmillan and Co., 1898, III 257 ff. in englischer Übersetzung aus den Originalen veröffentlicht; die deutsche Ausgabe enthält diesen Abschnitt nicht. Einige der Stücke finden sich im Anhang zu Bismarck's Gedanken und Erinnerungen II 521-529.
- ↑ Im Schreiben vom 4. Nov. 1879, nach dem Original mitgetheilt von Horst Kohl, Wegweiser durch Bismarck's Gedanken und Erinnerungen S. 178 ff., ebendort S. 180 ff. die Antwort des Zaren vom 14. November 1879.