Bildung schadet!

Wieviel Bildung braucht der Mensch?, fragt Tom Borg

Die Schule soll uns auf das Leben vorbereiten. Darunter versteht die moderne, ökonomisch geprägte Politik naturwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Lehrstoffe. Das Schöngeistige kommt dabei unter die Räder, statt dessen wächst die Abstumpfung gegenüber politischen Vorgängen und Gestaltungsmöglichkeiten.

"Bildung bezeichnet die Formung des Menschen im Hinblick auf sein 'Menschsein', seine geistigen Fähigkeiten", so fasst es die Wikipedia zusammen und fügt hinzu: "Der moderne dynamische und ganzheitliche Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen, bei dem er seine geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Fähigkeiten und seine personalen und sozialen Kompetenzen erweitert." Damit werden beide Apskete deutlich: Bildung bezeichnet nicht nur einen Entwicklungsprozess, sondern auch einen Anspruch, eine Forderung, was beim Entwicklungsprozess herauskommen soll. Doch gerade dieser Anspruch ist einem permanenten Wandel unterworfen.

Vor zweihundert Jahren schrieb Johann Wolfgang von Goethe noch: "Eine Sammlung von Anekdoten und Maximen ist für den Weltmann der größte Schatz, wenn er die ersten an schicklichen Orten ins Gespräch einzustreuen, der letzten sich im treffenden Falle zu erinnern weiß." Heute hat sich das relativiert auf die Formel: "Wer nicht mindestens einen Spruch aus den jeweils angesagten TV-Soaps zitieren kann, ist megaout." Kulturelle Realität und kultureller Anspruch driften auseinander - heutzutage mehr denn je. Das ist zum einen nicht weiter verwunderlich, denn unser Umfeld ist einer permanenten Umwälzung, einer beständigen Erneuerung und technischem Fortschritt unterworfen. Zum anderen ist es aber auch eine Folge der nachhaltigen Verschiebungen in unseren Lebenserwartungen, die wir bereits in der Schule wie einen Stempel aufgedrückt bekommen. Die Schule soll uns auf das Leben vorbereiten. Darunter versteht die moderne, ökonomisch geprägte Politik naturwissenschaftliche und betriebswirtschaftliche Lehrstoffe, da Philosophie, Geschichte, Musik, Literatur und Kunst kein im ökonomischen Sinne nützliches Wissen darstellen.

Diese Fokusierung auf die Integration in den Produktionsprozess wird von der Wirtschaft erwartungsgemäß gelobt, hat jedoch auch gravierende Nachteile auf den geistigen Entwicklungsprozess des Menschen. Wenn es nicht mehr wichtig ist, sich mit schöngeistigen Dingen zu befassen, verkümmern diese Anlagen langfristig, werden evolutionstechnisch wegrationalisiert. Damit verbunden ist zwangsläufig auch die Abstumpfung gegenüber politischen Vorgängen und Gestaltungsmöglichkeiten, die bereits heute immer öfter mit der Einstellung "wir können ja eh nichts machen" zu Desinteresse führt.

Aus Sicht der Wirtschaft, der Machtzentren, ist dies natürlich hochgradig wünschenswert. Menschen, die keinen geistigen Idealen nachhängen, vermissen diese auch weniger und akzeptieren wie selbstverständlich, dass sie sich als kleines Rädchen im großen System zu integrieren und mitzulaufen haben. Lediglich das dafür notwendige "geistige Öl" wird vorranging über die Häupter der heutigen Jugend ausgegossen.

Doch was heißt das im Umkehrschluss? Wir verlernen Anspruchsdenken, das auf gesellschaftliche Entwicklungen abzielt und fokusieren unsere Interessen stattdessen auf das eigene Funktionieren, das eine Voraussetzung für Karriere und materiellem Wohlstand oder zumindest Auskommen ist. Wir lernen verstärkt, uns selbst zu vermarkten, uns selbst als Nabel der Welt unseres kleinen Mikrokosmus zu betrachten, während kritisches Hinterfragen globaler Prozesse zunehmend als Störfaktor wahrgenommen wird. Bildung schadet, wenn sie dazu benutzt wird, Fragen zu stellen, die an höherer Stelle nicht erwünscht sind. Das fängt beim vernachlässigten Arbeitsschutz im Betrieb an und endet ganz sicher nicht beim Verteufeln der NSA-Schnüffelwut. Und auch das hat System: Indem diese Strukturen dazu verwendet werden, Menschen zu kontrollieren und Verhaltensprognosen zu erstellen, werden schöngeistige Querdenker, die Ansprüche und Forderungen stellen schneller erkannt, fallen deutlicher auf und werden zum Störfaktor für die essentiellen Interessen Aller deklariert.

Bildung schadet - demjenigen der sie hat und in seiner Umgebung vermisst wie auch dem der sie nicht hat und damit konfrontiert wird. Die geistigen Auslaufzonen werden immer kleiner, der Mainstream immer breiter - und Hype-gesteuerte Menschen immer leichter manipulierbar. Ein Ausbrechen wird immer schwerer, denn die zu überwindenden Hürden immer höher. Was kann da am Ende stehen? Eigentlich nur eines: Aggression! Wenn Ungeduld und Hilflosigkeit aufeinander treffen, entsteht Aggression. Ohne Aggression mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch lassen sich viele Probleme heute gar nicht mehr lösen. Ein typisches Beispiel dafür ist das aktuelle weltweite Einlullen der Bürger seitens der Politik in Sachen NSA-Spähprogramme. Da wird sich nichts wesentliches ändern. Um etwas zu bewirken, müsste man schon mit Bomben um sich werfen, am besten gleich mit Atombomben. Anders lassen sich weder eine Weltmacht USA beeindrucken noch Kapital- und Machtzentren erschüttern. Doch dazu müsste man sich erst einmal berappeln, aufstehen und protestieren. Etwas was funktionierende Rädchen im System nicht tun. Bildung, die auch den Anspruch hätte, Bildung zu leben, könnte sicherlich einen Umschwung einleiten und Kräfte bündeln, die Kapital und Macht herausfordern könnten. Aber Bildung und Feingeister, die diese langfristigen Wirkungen überhaupt noch registrieren, sterben langsam aus, werden ersetzt durch erfolgsorientierte, leicht wart- und austauschbare systemkompatible Komponenten. Denn Bildung schadet - zumindest denen, die von gebildeten und motivierten Kritikern Angriffe zu befürchten hätten…

— 22. Juli 2013
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