Wie europäisch muss Europa sein?

Wer will eigentlich Europa?, fragt sich Tom Borg

Die Idee eines gemeinsamen Europas war von Anfang an eine Kopfgeburt, eine begrüßenswerte Vision - aber auch eine zum Scheitern verurteilte Utopie. Wir könnten vielleicht europäisch sprechen. Aber wir wollen es gar nicht. Europa war nie eine Familie, sondern nur eine Zweckgemeinschaft.

Als Kolumnist hat man leicht Sprüche klopfen. Alles ist doch so leicht und so klar. Warum nur sehen alle anderen nicht, was dem Kolumnisten vorschwebt, warum er recht hat…? Mark Schieritz liefert mit seiner Morgenkolumne Wer spricht europäisch? ein Paradebeispiel. Und ja, natürlich hat er recht - mit allem was er schreibt. Ich stimme seinem "Wenn jeder nur an sich denkt, ist der Euro bald Geschichte" voll und ganz zu.

Der Knackpunkt ist aber ein ganz anderer: Eigentlich will niemand dieses Europa. Die Idee eines gemeinsamen Europas war von Anfang an eine Kopfgeburt, eine begrüßenswerte Vision - aber auch eine zum Scheitern verurteilte Utopie. Wir könnten vielleicht europäisch sprechen, wie Schieritz fordert. Aber wir wollen es gar nicht. Wir brauchen kein weiteres Regelwerk, sondern den Wunsch, Europa als unser gemeinschaftliches Haus zu betrachten. Wie eine Familie, die sich gelegentlich streitet, aber gemeinsam in einem Haus lebt und sich darüber einig ist, dass sie als Familie zusammengehört.

Europa war nie eine Familie, sondern eine Zweckgemeinschaft. Es ging immer nur um wirtschaftliche Expansion und Abbau der Grenzen. Insofern ist jede Kritik am "Schulmeister Deutschland", der Sparen predigt, genauso fehl am Platz wie die Verurteilung der südeuropäischen Lebenskünstler. Es geht nicht darum, was richtig ist und was falsch, sondern darum, dass in einer Gemeinschaft letztlich alle für den angerichteten Schaden gemeinsam haften. Genau diese ungewollte Konsequenz mit all ihren Folgen macht die Protestpolitik erst stark.

Dabei geht es nicht um Geiz oder Neid. Nein, es sind einfach unterschiedliche Lebenseinstellungen. Wir tolerieren diese, aber wir wollen nicht dafür bezahlen. Und das gilt an allen Fronten. Während Deutschland sparen möchte und die Bürger protestieren, wenn sie den - wie auch immer gearteten -Schlendrian anderer Länder mit ihren Steuern bezahlen sollen, sind umgekehrt die Anderen nicht willens, ihren Lebensstil zu ändern, nur weil die Deutschen traditionell gerne sparen.

Es ist dieser Widerspruch, der Europa scheitern lässt. Wir Europäer sind einfach zu verschieden, um gemeinsam in einem Haus leben zu können. Solange die Wirtschaft florierte, fiel das nicht störend auf. Aber nun wird die Rechnung präsentiert - und allen Seiten dämmert, dass es gilt, etwas zu bezahlen, das man gar nicht haben will.

Quo Vadis Europa?

Europa ist wie eine große Familie dazu verdonnert, gemeinsam in einem Haus zu leben. Doch auch im Kleinen scheitert immer wieder eine große Liebe an Kleinigkeiten, wie der Zahnbürste, die im Bad herumliegt, oder der Unordnung, die einer hinterlässt und der andere nicht wegräumen möchte. Scheidungsanwälte leben ganz gut davon.

Doch in der EU ist eine Scheidung nicht vorgesehen. Es gibt nicht einmal eine Ausstiegsklausel im Maastricht-Vertrag. Dafür aber täglich neue Belastungen in alle Richtungen, die irgendwie, seltsam vertraut, an eine Aussage von Jean-Claude Juncker erinnern, der einmal sagte: " Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt."

Die EU mit ihren Organen träumt von einem "Vereinigte Staaten von Europa". Eine globale europäische Regierung mit den Nationalstaaten als organisatorische Untereinheiten, so wie wir in Deutschland Bundesländer haben. Jede Regelung, die in Brüssel ausgebrütet wird, führt uns einen Schritt weiter zu diesem Einheits-Europa.

Doch es wäre ein erzwungenes Europa, denn bereits jetzt haben die Menschen der Mitgliedsstaaten so katastrophal unterschiedliche Einstellungen und Lebensinteressen, dass es immer heftiger im europäischen Gebälk knirscht. Denn wie soll ein "Vereinigte Staaten von Europa" Monstrum funktionieren, wenn die einzelnen Gruppen nicht bereit sind, sich einer globalen Regierung zu unterwerfen - in Gut und Böse, in Wohlstand und Armut…

Schon Goethe forderte "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen." Doch selbst das Dulden funktionierte im bisherigen Europa nur, weil die Wirtschaft florierte und niemand sich Gedanken über irgendwelche Konsequenzen machen musste. Wir profitierten von offenen Grenzen und freiem Warenverkehr. Jetzt geht es an den Geldbeutel - und da ist Schluss mit lustig…

Neue Regeln nutzen da wenig. Im Gegenteil, sie nähren die Befürchtung, dass es tatsächlich heißt: "Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt". Es wäre aber ein erzwungenes Europa, eines, das sich selbst nicht liebt.

Wir reduzieren die Eurokrise immer wieder auf Euro und Wirtschaft. Doch die wahre Krise sind die Menschen, die nicht bis zur letzten Konsequenz zusammenleben und alle Probleme gemeinsam schultern und alle Freuden teilen wollen. Europa ist keine Familie, sondern eine Zweckgemeinschaft - und als solche zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, wenn die elementaren Lebensinteressen sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

In einer Familie hilft man sich gegenseitig, ohne gleich eine Rechnung zu schreiben. In Europa stellt man hingegen Forderungen und droht mit Scheidung falls sie nicht erfüllt werden. Was nutzen uns also europäische Regeln, wenn wir nicht bereit sind, einen Großteil unserer nationalen Souveränität für ein gemeinsames Europa aufzugeben? Nichts anderes tun wir, wenn wir Heiraten oder beschließen, gemeinsam in einer Wohnung zu leben.

Europa besteht nun einmal aus unterschiedlichen Kulturen und Traditionen. Das macht den Charme Europas aus. Aber eine europäische Kultur und Tradition, die für alle gleichermaßen gilt und anerkannt wird, die kann es nicht geben. Allenfalls als kleinsten gemeinsamen Nenner. Doch die europäische Mathematik scheitert gerade grandios am menschlichen Faktor…

— 20. Mai 2016
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