Hoffen, leben, warten...

Ist das Leben nicht eine ewige Casting-Show? fragt sich Tom Borg

Ist nicht unser ganzen Leben inzwischen eine große Casting-Show bei der jeder seiner heimlichen Hoffnung hinterher jagt – in der Schule, im Beruf, in der Clique und als Wähler eines Politikers sowieso…?

Fragen Sie sich gelegentlich auch, wohin es in der Zukunft geht, welcher Weg der richtige ist? Was ist beispielsweise im Beruf, sagen wir für einen Software-Entwickler, eine sichere Bank im Sinn eines prall gefüllten Geldbeutels? Früher war diese Frage relativ einfach zu beantworten. In den Vorlesungen des Professors stand an erster Stelle die simple Feststellung, dass ein guter Software-Entwickler Algorithmen, Programmiersprachen und Systemkenntnisse als notwendiges Handwerkszeug mitbringt und dazu das erforderliche Fachwissen um zu verstehen, wie das Handwerkszeug gewinnbringend eingesetzt werden kann.

Als junger selbständiger Software-Entwickler lernte ich dann Ende der 80-ziger Jahre (des vorigen Jahrhunderts) von einem damals erfolgreichen Profi, dass es dumm wäre, die tausendste Adressverwaltung zu implementieren. Erfolgreiche Entwickler basteln keine Anwendungen um sich dann mit Marketing herumzuplagen, sondern liefern die notwendigen Tools dafür ohne die Risiken der Anwendungs-Entwicklung auf sich zu nehmen. Frei nach dem Motto: Verkaufe Hoffnung und überlasse den anderen, wie sie die Hoffnung realisieren. Nach diesem Prinzip funktionieren heutzutage Casting-Shows im Fernsehen: Man stellt ein paar Talente ins Rampenlicht und überlässt sie der Willkür des voyeuristischen Publikums. Und das funktioniert, weil die Hoffnung auf das schnelle Geld, den ersehnten Ruhm und die geliebte Anerkennung einfach zu groß ist und immer wieder neue Menschen von ihr angesogen werden.

Dabei übersieht aber so manch hoffender Fame-Junkie den entscheidenden Unterschied zwischen Casting und Casting-Show. Bei einem Casting sucht man eine Person für einen Event – bei einer Casting-Show ist das Casting der Event. Ist ein Sieger gefunden, ist das ganze Ereignis für die Macher prinzipiell abgehakt. Die kommerziellen Gewinne wurden längst mit den Telefonanrufen und Werbeeinblendungen eingefahren und eventuelle Anschlusseinnahmen, die durchaus eingeplant sind, dienen nur noch der Dekoration der Erfolgsbilanz der Macher.

Soll man Castings-Shows deswegen abschaffen? Natürlich nicht! Schließlich ist es ein Teil der Freiheit, dass jeder selbst entscheiden kann, ob er da mitmachen möchte oder nicht. Aber ein unheimliches Gefühl, das immer wieder aufkeimt und sich einfach nicht beruhigen lassen möchte, vermittelt einem immer öfter und immer heftiger den Eindruck, dass eigentlich unser ganzes Leben eine Casting-Show ist. Unsere ganze Gesellschaft lebt inzwischen nach dem Prinzip Hoffnung ausstreuen und die Hoffnung leben. Und diejenigen, die Hoffnung leben, haben das Problem, wie sie ihre Hoffnung real werden lassen. Und da fängt es an kritisch zu werden. Denn das erfolgreiche Vermarkten von Hoffnung gilt inzwischen als solides und anerkanntes Geschäft – und alle stürzen sich darauf. Alle wollen am liebsten mit der Hoffnung Geld verdienen, aber keiner möchte sich die Arbeit machen, aus der Hoffnung einen echten Erfolg zu erarbeiten.

Und da fällt mir wieder ein, was Studenten der Betriebswirtschaft in der ersten Vorlesung lernen: Wirtschaften ist die Lehre vom Umgang mit knappen Ressourcen. Politisch engagierte Professoren fügen gerne hinzu: „…zur Befriedigung der Bedürfnisse“. Und genau da liegt oft der entscheidende Unterschied zu dem, was wir real tun: Anstatt vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen, soll Werbung neue Bedürfnisse erzeugen, damit diese mit neuen Produkten gewinnbringend befriedigt werden können.

Aber wozu brauchen wir neue Bedürfnisse die befriedigt werden sollen, wo wir doch schon genügend unbefriedigte Bedürfnisse aufzählen könnten? Liegt es vielleicht daran, dass sich kaum noch jemand die Mühe macht, die Probleme unserer Zeit anzupacken? Wie viel einfacher ist es doch, der nach Hoffnung gierenden Meute ein paar Versprechungen zu präsentieren und sich dann schnell aus der Verantwortung zu stehlen bevor die Hoffnung sich in Rauch auflöst…

Aber ist nicht unser ganzen Leben inzwischen eine große Casting-Show bei der jeder seiner heimlichen Hoffnung hinterher jagt – in der Schule, im Beruf, in der Clique und als Wähler eines Politikers sowieso…?

Wir stellen unsere Hoffnungen und Wünsche hinten an und nehmen stattdessen das was sich kurzfristig realisieren lässt und meist nur ein klitzekleines Bruchstückchen unserer eigentlichen Hoffnungen und Bedürfnisse ist. Und heimlich hoffen wir weiter, dass uns eines Tages der ganz große Wurf gelingen wird. Dass es geht, zeigen uns täglich Fernsehen und unzählige Presseerzeugnisse und neuerdings auch das Internet. Überall gibt es sie, die Superstars, die VIPs, die Erfolgsmenschen, die es geschafft haben, deren Hoffnungen und Träume wahr wurden.

Aber haben all diese Erfolgstypen wirklich darauf gewartet, dass sich ihre Hoffnungen erfüllen – oder haben sie einfach die Ärmel hochgekrempelt und angefangen? Was hält uns eigentlich davon ab, statt anderen dabei zuzusehen, wie sie sich im Fernsehen etwas Hoffnung zusammenvoten selbst ein Musikinstrument in die Hand zu nehmen und es zu erlernen, selber einfach das zu tun, was wir uns schon immer gewünscht haben? Alle großen Erfindungen begannen damit, dass jemand eine Idee hatte und sich daran machte, diese umzusetzen. Die berühmten Entdecker und Erfinder der vergangenen Jahrhunderte waren besessen von einer Idee und glaubten an das was sie taten und suchten und fanden keine Ruhe, bis sie eine Lösung fanden. Manch einer suchte sein Leben lang – so wie wir heute ein Leben lang darauf warten, dass uns jemand Geld und Möglichkeiten gibt, damit wir anfangen können, unsere Hoffnung zu leben. Und da fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Sind nicht auch die ganz Großen unserer Zeit „Besessene“, Menschen, die an etwas glauben und sich nicht vom Spott und Gelächter anderer beirren lassen und ihren Weg gehen, bis sie eines Tages den Erfolg und die Bestätigung finden an die sie immer geglaubt haben? Hat sich ihre Hoffnung eines Tages erfüllt? Nein, sie hatten den Mut anzufangen…!

— 06. September 2010
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