Finden und Vergessen im Internet

Was kostet uns der Pyrrhus-Sieg des Spaniers?, fragt Tom Borg

Die "digitale Pille danach" kann die digitale Jungfräulichkeit genauso wenig wiederherstellen wie ihre Namenskollegin in der realen Welt. Sie kann lediglich den Preis der Erkenntnis hochschrauben

Am digitalen Spagat des Findens und Vergessens im Internet scheiden sich die Geister. Die einen wollen im Internet gefunden werden, während die anderen alles daran setzen, dass Google & Co. sie vergessen. Ab sofort gibt es noch eine dritte Gruppe: die, die nur mit ihnen genehmen Ergebnissen gefunden werden wollen - und dürfen.

Mit dem Vergessen-Urteil des Europäischen Gerichtshofs mag man sich anfreunden können, ja vielleicht passt es sogar in unsere gedankenlose Zeit, die ach so neu gar nicht ist. In meiner Jugend spotteten wir immer über das damalige Jetset-Motto: "Gelebt, geliebt, geraucht, gesoffen - dann auf gute Ärzte hoffen." Wie wir heute wissen, war das mit dem "geliebt" eine kritische Sache: HIV raffte so manchen dahin bevor die Ärzte überhaupt erkannten, was da im Anmarsch war.

Nun bekommen wie die digitale Variante des Mottos zu spüren: "Gebloggt, gepostet, upgeloaded - dann auf Googles Vergessen hoffen." Und wieder ist unsere Hoffnung groß. Seit dem Urteil auf höchster EU-Ebene sogar größer als je zuvor. Und doch wird auch das Vergessen zu spät kommen. Das Leben ist mal wieder schneller. Denn auch wenn Google die unerwünschten Ergebnisse nicht mehr anzeigen darf, "vergessen" sind sie nicht; selbst auffindbar und lesbar sind sie weiterhin.

Was ist dieses Urteil also wert? De facto nicht viel. Die "digitale Pille danach" kann die digitale Jungfräulichkeit genauso wenig wiederherstellen wie ihre Namenskollegin in der realen Welt. Sie kann lediglich den Preis der Erkenntnis hochschrauben - und Google könnte dabei spitzbübisch helfen. Denn formaljuristisch muss Google nicht seine Daten löschen, sondern darf diese nicht anzeigen, was ein gewaltiger Unterschied ist.

Es gibt bereits heute Ergebnisse die aus diversen juristischen Gründen nicht überall angezeigt werden dürfen. Was macht Google damit? Die Suchmaschine informiert den suchenden Surfer unterhalb der Trefferliste darüber, dass Ergebnisse aus juristischen Gründen unterdrückt wurden. Aha! Was bei Büchern oder extremistischen Webseiten noch verständlich und nachvollziehbar ist, wird spätestens bei der Suche nach Informationen über eine Person zum Déjà-vu. Da gibt es etwas das nicht angezeigt werden darf, weil die Person das verboten hat? Das macht doch erst recht neugierig!

Keine Antwort ist auch eine Antwort

Der Volksmund kommentiert süffisant, keine Antwort sei auch eine Antwort, wenn jemand sich um eine Antwort drückt. Nicht anders wird man es interpretieren, wenn Google anfängt, Suchende darüber zu informieren, dass nicht alle Ergebnisse angezeigt werden dürfen.

Dabei ist die Privatsphäre grundsätzlich natürlich schon schützenswert. Und zweifelsohne muss man auch den technischen Möglichkeiten Tribut zollen. Doch ändert das alles nichts am Grundübel, dass jemand eine Information gelöscht haben möchte, weil sie ihm nicht gefällt, weil sie ihm Nachteile bringt. Mit anderen Informationen möchten die Personen hingegen durchaus gefunden werden. Dies wäre eine digitale selektive Wahrnehmung, die zweifelsohne realisierbar ist. Aber ist sie auch gesellschaftlich sinnvoll?

Wäre es nicht viel sinnvoller, unsere soziale Kompetenz zu erhöhen und den toleranten Umgang mit negativen Informationen zu erlernen? Schließlich ist es keine Schande, wenn man einmal klamm ist und etwas versteigert wird. Negativ daran ist nicht dass etwas versteigert wird, sondern unser mangelndes Interesse daran, warum es dazu kam. Es interessiert uns gar nicht, ob jemand fahrlässig oder schuldlos in eine Situation geraten ist. Das ist nicht nur eine Gleichmacherei anhand von Symptomen, sondern auch das Etablieren der Symptome als Ursache und Bewertungskriterium. Und dies ist schlichtweg mangelnde Sozialkompetenz. Das fehlende Hinterfragen der Anfang einer Spirale die uns immer weiter herunterzieht in das Reich der Belanglosigkeit.

Zweifelsohne ist es für den Betroffenen peinlich obwohl es das eigentlich gar nicht sein muss. Dazu müssten wir aber erst einmal als Gesellschaft lernen, dass sowas auch in den "besten Familien" und bei äußerst sorgfältiger Lebensweise vorkommen kann. Wie viele Rentner, die ihr Leben lang jede Mark umgedreht und jeden Pfennig gespart haben, haben letztlich durch die Zockerei der Banken infolge der Finanzkrise ihre gesamten Ersparnisse verloren und sind bedürftig geworden? Ist das peinlich? Nein!

Wie privat ist öffentlich?

Doch das Urteil zum Vergessen im Internet greift noch viel weiter. Es deckt letztlich den gesamten Privatbereich ab, wobei da zwischen privat und öffentlich manchmal kaum zu unterscheiden ist. Wenn sich jemand in der Öffentlichkeit daneben benimmt, ist das öffentlich oder privat? Jeder der es gesehen hat, darf es weiterzählen, auf Facebook posten und Freunden mailen. Nur Google darf diese Posts nicht als Suchergebnis liefern. Das ist mehr als zwiespältig und scheinheilig. Es verführt zu einer Lebensweise nach dem Motto: "Macht nichts, ich kann es ja bei Google löschen lassen!" Eine Lebensweise bei der die Verlogenheit Trumpf ist. Nicht das moralisch ansprechende Verhalten steht im Vordergrund, sondern die Frage, ob jemand die Verfehlung bemerkt hat. Und wenn ja, dann gilt es, diese so schnell wie möglich zu tilgen, denn in Zeiten des Internets können die Folgen dramatisch sein.

Eines der ersten und prominentesten Opfer der neuen Technik war im Jahr 2006 Stacy Snyder. Sie wollte Lehrerin werden. Dann veröffentlichte sie in einem sozialen Netzwerk ein Foto von sich während einer Halloween Party mit einem Glas in der Hand und betitelte es mit "betrunkener Pirat". Die Folge war, dass die Studentin nicht mehr Lehrerin werden durfte, weil sie mit solchen Bildern Jugendliche zum Trinken animieren würde und als Vorbild für Kinder ungeeignet sei, was auch von einem Gericht bestätigt wurde.

Ein Aufschrei ging um die Welt. Und doch: was ist daran falsch? Es ist die Wahrheit. Das Bild wurde von der Studentin selbst gepostet. Hätte sie es nicht online gestellt und sich mit den Glas in der Hand auf die Straße gestellt, wäre sie zwar Stadtgespräch geworden, aber ansonsten unbeschadet aus der Sache heraus gekommen? Das wäre dann eine verlogene Moral, weil es an den Tatsachen nichts ändert. Wenn es - in den USA - eine Vorgabe ist, dass Lehrer/innen nicht öffentlich trinken dürfen, dann ist es eben so, dann muss man sich daran halten. Und falls nicht, sollte man keineswegs so blöd sein, das auch noch öffentlich zu dokumentieren. Doch bereits diese Einstellung ist der erste Weg zur Verlogenheit, einer Lebensweise, die sich nicht an inneren Werten orientiert, sondern daran, was andere mitbekommen oder nicht.

Medienkompetenz als Schulfach?

Experten gehen allerdings nicht davon aus, dass jetzt eine Klagewelle auf die Suchmaschinen zu kommt. Denn der Mensch, und der unserer Tage ganz besonders, ist träge. Viele sind schlichtweg zu faul, gegen etwas vorzugehen; vielen ist es auch vollkommen egal, was andere denken. Das ändert sich alles erst dann, wenn sie plötzlich Nachteile in Kauf nehmen müssen.

Prominente, Politiker und Karriere orientierte Menschen hingegen werden die neuen Möglichkeiten schätzen. Lassen sich doch so manche Sünden verstecken, die vormals allzu öffentlich waren. Doch werden sie deshalb verschwinden - abseits der Suchmaschinen?

Zweifelsohne hat jeder von uns schon einmal einen Fehler gemacht, so mancher auch schwere. Davon wird sich nicht einmal ein Papst freisprechen wollen. Aber was einen Papst von einem Link-Lösch-Kläger unterscheidet ist die Tatsache, dass der Papst vermutlich in sich geht und sich und seiner Umwelt Besserung gelobt, während andere einfach alles verklagen, die daran erinnern. Eine gesunde Entwicklung stelle ich mir anders vor.

Die schlimmsten Verbrecher kennen meistens ihre Rechte am besten - und so werden jetzt vermutlich als erstes die Informationen verschwinden, die am ehesten gesellschaftlich relevant gewesen wären. Karriere störende Verfehlungen werden einfach weggeklagt und weggelöscht - aber nicht ungeschehen gemacht. Und schon gar nicht wird die Gesellschaft dadurch besser oder gar besser vor Missbrauch geschützt, wenn Verfehlungen nicht vermieden sondern nur besser versteckt werden.

Statt Informationen in bester Diktatorenmanier zu unterdrücken, sollte man vielmehr lernen, damit besser umzugehen. Und der kluge Umgang mit Informationen - sprich: Daten - fängt schon da an, wo man sie gedankenlos online stellen möchte. Man wagt es kaum auszusprechen, aber uns mangelt es schlicht an Medienkompetenz. Wir haben gelernt, wie man Daten erstellt, Daten online steht, Daten findet und Daten analysiert. Aber keiner hat uns erklärt, wie man mit Daten umgeht, wie man digital verfügbare Informationen in unsere Beurteilungsschemata einbaut. Es sollte ein Schulfach werden, denn der Umgang mit Daten ist in unserem Zeitalter zu einer elementaren Fähigkeit geworden. Aber es gibt erschreckend viele Ignoranten auf diesem Gebiet, die im digitalen Saus und Braus leben und nun nach dem digitalen Doktor rufen. Doch die (digitale) "Pille danach" gibt die Jungfräulichkeit nicht wieder zurück. Und damit wird die digitale Welt zum Abbild unserer realen Welt: Schon Kinder in der Vorschule wissen, wie man Kinder bekommt; aber viele Jugendliche wissen nicht, wie man keine bekommt. Wen wundert es da, dass alle wissen, wie man an Daten herankommt, aber kaum einer weiß, wie man verantwortungsvoll damit umgeht…

— 14. Mai 2014
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