Mathematik der Politik

Gegen alle Regeln der Vernunft, meint Tom Borg

In der Politik wird nicht nur gerechnet sondern auch abgerechnet. Die Wahl des Bundespräsidenten kann da eine wollkommene Gelegenheit sein, den Parteioberen einen Denkzettel zu verpassen. Doch wenn selbst das höchste Amt des Staates lediglich ein Spielball für Parteiinteressen ist, steht es nicht gut um den Staat. Verantwortungsvolle Politik geht anders. Verlässlicher und glaubwürdiger.

Dass die Politik ein schwieriges Geschäft ist, ist ja nun nichts Neues. Und dass Diplomaten A sagen, B meinen und C denken, während sie hoffen, dass andere D verstehen, da der Diplomat insgeheim eigentlich E als Ergebnis sehen möchte, ist allenfalls noch ein abgedroschener Kalauer. Was jedoch verwundert ist, dass solche Spielchen auch bei wichtigen oder als wichtig erachteten Entscheidungen zum Einsatz kommen. Ein prominentes Beispiel ist die Wahl des Bundespräsidenten 2010. Wäre es nach Volkes Meinung gegangen, wäre 2010 nicht Christian Wulff sondern Joachim Gauck deutscher Bundespräsident geworden. Auch viele Politiker der schwarz-gelben Regierungsmehrheit hätten nichts gegen Gauck als Bundespräsidenten einzuwenden gehabt, denn Joachim Gauck war ein Mann mit festem Charakter und klaren Lebensgrundsätzen, der sich den Respekt der Mitmenschen durch sein Leben und Wirken erworben hatte. Die Angst der Regierungsführung vor einem Scheitern des eigenen Kandidaten war so groß, dass die Führungsspitze nicht müde wurde, auf die eigenen Parteigenossen einzuwirken, damit ja alles glatt geht. Eigentlich also beste Voraussetzungen für einen neuen Bundespräsidenten Gauck.

Dummerweise war Joachim Gauck kein Mitglied der Regierungsparteien was seine Chancen auf das Amt drastisch reduzierten. Er selbst äußerte sich vor der Wahl auf die Frage, wie er denn seine Chancen sehe, mit der lakonischen Feststellung: "Ich kann rechnen…"

Doch was hat Rechnen mit einer Meinung, einer persönlichen Überzeugung zu tun? In der Politik offenbar eine ganze Menge! Da wird nicht nur gerechnet sondern auch abgerechnet. Kommentatoren werteten die Nichtwahl von Christian Wulff in den ersten beiden Wahlgängen als interne Abrechnung einiger Parteimitglieder mit der Führungsspitze ihrer Partei – was mit der Wahl des Bundespräsidenten herzlich wenig zu tun hat.

Aber auch die dritte Kraft in der Bundesversammlung hatte gerechnet - sie hatte einiges an Aufmerksamkeit für sich ausgerechnet, wenn sie einen eigenen Kandidaten aufstellt. Denn, nein, einen Joachim Gauck wolle man nicht wählen, auch wenn man den Christian Wulff auch nicht haben wollte und der eigene Kandidat nicht einmal Hoffnung auf eine Chance hatte.

Wie sehr sich alle verrechnet hatten, stellte sich so richtig deutlich erst nach der Wahl heraus. Alle, die der Regierung eine deftige Niederlage hätten beibringen wollen, wären erfolgreich gewesen, wenn die dritte Kraft ihr Ego beiseite gelegt und im ersten Wahlgang als geschlossene Opposition Joachim Gauck gewählt hätte. Es hätte gereicht. Gauck hätte exakt die 625 Stimmen erhalten, mit denen später Christian Wulff gewählt wurde.

Verrechnet hat sich aber auch die Politik generell. Denn selten wurde es offensichtlicher, dass selbst das höchste Amt des Staates lediglich ein Spielball für Parteiinteressen ist. Wie anders wäre es sonst zu interpretieren, dass die Politiker der Regierungsparteien, die im ersten Wahlgang Wulff nicht gewählt hatten, ihn später dann doch wählten? Immerhin hatten alle wochenlang darüber nachdenken können, wen sie wählen wollen. Kam die göttliche Erleuchtung plötzlich am Nachmittag der Wahl…? Glaubhaft ist das nicht. Vielmehr zeigen jene "Wackel-Abweichler" dass politische Mathematik wichtiger ist, als den - selbst nach eigener Überzeugung - besseren Kandidaten in das höchste Amt zu wählen.

Oder war auch das wiederum geniales Rechnen mit mehreren Unbekannten indem man darauf setzte, dass Christian Wulff als der schwächere Kandidat im Laufe seiner Amtszeit eher strauchelt als der nach festen Überzeugungen lebende Joachim Gauck, der zweifelsohne ein unabhängiger, unbeugsamer und unbequemer Bundespräsident geworden wäre?

Letztendlich haben sich aber alle irgendwie verrechnet, einschließlich der Bürger, die diesen Rechenkünstlern Macht in die Hände legten. Sie alle müssen mit dem Ergebnis ihrer Wahl leben und können allenfalls daraus das lernen, was Dieter Bohlen schon seit seiner Las Vegas Hochzeit mit Verona weiß: Manchmal kann es eine regelrechte Strafe sein, wenn man genau das bekommt, was man unbedingt haben wollte..!

— 07. März 2012
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