Moral, Recht und Gerechtigkeit sind ehrenwerte Motive

Aber die Wahrheit auszusprechen nennt man auch Verrat. Von Tom Borg

Mit Wahrheit und Gerechtigkeit lässt sich offenbar kein Staat führen. Selbst die katholische Kirche ist in den vergangen 2000 Jahren oft sehr unchristlich mit ihren Gegnern umgegangen - und das Vatikan-Archiv ist bis heute unter Verschluss und nur wenigen Eingeweihten zugänglich. Nährboden für Verrat, Intrigen und Whistleblower.

Whistleblower wie Edward Snowden oder Bradley Manning leben zwischen den Attributen Held und Verräter - je nach Sichtweise. Und daran wird sich auch nichts ändern, solange Recht und Gerechtigkeit nicht zwangsläufig das gleiche meinen.

Ein Freibrief ist das jedoch nicht. Denn machen wir uns nichts vor: Wer Geheimnisse ausplaudert, der wird in jedem Land dieser Erde vor Gericht gestellt - auch in Deutschland. Und theoretisch ist das auch korrekt und dient dem Recht. Aber gerecht ist es nicht immer, was einfach daran liegt, dass sich das Recht herzlich wenig darum kümmert, was gerecht ist; es zählen einzig die Buchstaben der Gesetze. Und die sind eindeutig; sind darauf gerichtet das System Staat funktionsfähig zu halten.

Dabei tut aber so mancher Staat des Guten etwas zu viel. Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel - oder doch? Und gerade dieser Zwiespalt ist es, der in den Fällen Snowden und Manning am meisten aufrüttelt. Denn natürlich haben wir alle etwas dagegen, ausspioniert zu werden. Und natürlich bewundern wir jeden, der uns solche Geheimnisse offenbart. Doch verboten ist es eben doch. Und würden wir uns nicht mehr an Rituale wie einen Eid halten, könnten wir auch gleich so manche Moralvorstellung mit über Bord gehen lassen.

Was also tun? Wie der Sache begegnen? Eigentlich wäre es ja ganz einfach, wenn wir den Mut hätten, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Der Unterschied zwischen Staat und Mafia besteht meist in erster Linie darin, dass der Staat seine Leichen wegräumt. Ja, Staaten, die ihre eigenen Gesetze missachten, sind einfach nur kriminelle Organisationen! Punkt - und 3 Sekunden Pause…

Wir sollten Mut haben, die Wahrheit auszusprechen - und uns anschließend Gedanken machen, wie wir das bewerten wollen. Geschönte Wahrheiten sind schwerlich objektiv zu bewerten. Dummerweise war es aber schon immer ein hoher Luxus, die Wahrheit aussprechen zu dürfen. In der NSA-Affäre wird die Wahrheit sogar zu einem Schaden hochstilisiert. Die Veröffentlichungen Mannings oder Snowdens hätten der USA geschadet. Und man meint damit ausdrücklich nicht nur Berichte, die unter Umständen vielleicht amerikanische Soldaten hätten gefährden können. Nein, auch die diplomatischen Depeschen, die Manning über Wikileaks veröffentliche, zählen dazu, weil sie die USA in einem schlechten Licht zeigen; schließlich haben sich deren Diplomaten doch allzu oft wenig diplomatisch über andere Diplomaten und Staaten geäußert. Doch, wenn dies als Schaden für die USA deklariert wird, dann ist es nur allzu verlockend, den ehemaligen Google-Manager Eric Schmidt zu zitieren, der im Interview mit Maria Bartiromo auf CNBC am 3. Dezember 2009 im Zusammenhang mit Googles Umgang der Privatsphäre einmal sagte: "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass es irgendjemand erfährt, sollten Sie es vielleicht ohnehin nicht tun." Was gibt es da noch hinzufügen?!

Doch mit Wahrheit und Gerechtigkeit lässt sich offenbar kein Staat führen. Selbst die katholische Kirche ist in den vergangen 2000 Jahren oft sehr unchristlich mit ihren Gegnern umgegangen - und das Vatikan-Archiv ist bis heute unter Verschluss und nur wenigen Eingeweihten zugänglich. Aber an den Auftrag der heiligen katholischen Kirche glauben sollen wir alle… Darauf läuft es letztendlich auch bei Staaten und Regierungen hinaus: Wir sollen alles glauben, dürfen alles zahlen - aber nicht alles wissen.

Doch wie vereinbart sich das mit einem Rechtsstaat? Mit Demokratie und Freiheit und politischer Selbstbestimmung? Letztere üben wir ja ohnehin nur indirekt per Volksvertreter aus, durch Abgeordnete, die nach der Wahl quasi einen Persilschein haben - bis zur nächsten Wahl. Aber nicht einmal die dürfen alles wissen - und wenn sie es erfahren, dürfen sie es nicht aussprechen, denn die Wahrheit würde dem Staat großen Schaden zufügen. Aber wie kann eine "gute Wahrheit" Schaden anrichten? Diese Annahme setzt doch eigentlich voraus, dass entweder die Wahrheit allerübelst ist oder in der gesamten Gesellschaft "der Wurm drin" ist.

Wenn die Wahrheit über staatliches Handeln nicht mehr ausgesprochen werden darf, ohne dem Staat Schaden zu bereiten, wenn staatliche Fürsorge nur noch in geheimen Zirkeln, abgeschottet von Geheimdiensten und drakonischen Strafen möglich ist, ja was unterscheidet Staaten dann noch von einem Mafia-Clan…? Beide üben brutale Vergeltung an jedem Verräter, dessen sie habhaft werden; beide haben ihren eigenen Codex und sind von Normalbürgern kaum zu erkennen. Nur in einem unterscheiden sie sich drastisch: Staaten räumen ihre Leichen weg und säubern ihre Tatorte so gründlich, dass nicht einmal von Anweisungen der Geheimgerichte Betroffene öffentlich sagen dürfen, dass sie betroffen waren. Ja, die Wahrheit wird schnell zum Verrat - aber dadurch nicht weniger wahr, sondern nur schwerer greifbar… Vielleicht sollten wir einfach das Lügen, Betrügen und Bespitzeln zu ehrenhaften Handlungen erklären - und schon wäre die Welt wieder in Ordnung…

— 30. August 2013
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