Tarnen und Täuschen

...ist ein Grundprinzip der Natur meint Tom Borg

Ist Tarnen und Täuschen eine vollkommen legitime Verhaltensweise, die lediglich von uns Menschen verteufelt wird, weil sie uns schadet, wenn wir angelogen werden? Aber legen wir sie nicht auch gerne beiseite, wenn die Wahrheit uns schaden würde?

Die Wahrheit gehört in der Philosophie zu den wichtigsten Grundbegriffen und viele Philosophen befassten sich mit der Frage, ob der Mensch diesen Begriff erfunden hat, oder ob es die "Wahrheit", was immer man auch damit bezeichnet, schon immer gab, wie eine Art Naturgesetz das es lediglich zu erkennen gilt.

Doch so hoch wir die Wahrheit auch schätzen, so oft ignorieren oder brechen wir sie, nicht selten in vollem Bewusstsein dessen was wir tun. Sind wir Menschen deswegen "böse", ein Schandfleck in Gottes Schöpfung? Dann müssten andere Teile dieser Schöpfung "Gut" sein, es mit der Wahrheit genauer nehmen. Aber tun sie das wirklich? In einer Welt des Fressen und Gefressen werden ist ein jeder bemüht, möglichst zur ersten Gruppe zu gehören. Das ist in der Tier- und Pflanzenwelt nicht viel anders als bei uns Menschen. Nur sehen wir es dort nicht als Lüge an, weil wir den Tieren keine Moral, kein Rechtsbewusstsein zubilligen; und überhaupt, verweigern wir den Tieren generell das Attribut "intelligent", obgleich einige Spezies äußerst raffiniert zu Werke gehen, wenn es gilt, im rauen Alltag der Natur zu überleben.

So sieht die Schwebefliege beispielsweise einer Hummel ähnlich und nutzt dies im Überlebenskampf aus, indem sie die Hummel imitiert und so tut als ob sie wie die Hummel einen giftigen Stachel besitzt mit dem sie andere bedroht. Das Resultat: die eigentlich harmlose Schwebefliege wird von anderen in Ruhe gelassen.

Ist das nun eine Lüge, ein Betrug? Bei einem Pokerspieler würde man es als raffinierten Bluff durchgehen lassen. Aber dazu bedarf es mehr als Instinkt. Ist die Schwebefliege nun intelligent, um auf diese Idee zu kommen, dass sie so in Ruhe gelassen wird und nicht von anderen Tieren bedroht wird? Aber lügt die Schwebefliege die anderen Tiere an oder macht sie ihnen nur etwas vor - so wie Menschen anderen oft etwas vorspielen?

Ein wesentliches Merkmal des Betrugs ist, dass sich jemand wahrheitswidrig zum Nachteil anderer einen Vorteil verschafft. Das tut die Schwebefliege ganz eindeutig. Sie benachteiligt andere Tiere, denen ein leckeres Mahl entgeht, und erlangt den Vorteil, dass sie weiterleben darf; und es ist ihr egal, ob andere Tiere Hunger leiden, so sie dies empfinden kann.

Die Trickkiste der Natur

Doch mit der Tierwelt hört dieses Tarnen und Täuschen nicht auf. Auch Pflanzen haben einige Trick parat, wenn es darum geht, nicht gefressen zu werden.

So gibt es beispielsweise Pflanzen, die bestimmte Duftstoffe absondern, wenn Raupen an einer Pflanze nagen. Diese Duftstoffe sollen parasitoide Schlupfwespen anlocken, die sich von den Raupen ernähren. Interessanterweise können diese Duftstoffe aber auch Pflanzen in der näheren Umgebung dazu verleiten ebenfalls diesen Duftstoff zu produzieren und abzusondern. Diese Pflanzen verteidigen sich recht intelligent, aber nicht wahrheitswidrig.

Man kann sich eh schwer sich vorstellen, dass Pflanzen "lügen" können. Doch es gibt auch Fleisch fressende Pflanzen, die so aussehen als ob sie verwesen und damit Tiere anlocken die sich von abgestorbenen Pflanzen ernähren - dann aber plötzlich von der Pflanze geschnappt und gefressen werden.

Ist das nun ein absichtliches Täuschen oder gar eine Lüge? Letzteres bedingt üblicherweise ein Bewusstsein der Tat, das Pflanzen nicht besitzen - oder vielleicht doch...? Wer weiß schon, was Pflanzen wirklich empfinden. So ist beispielsweise der Spott über Menschen, die mit Pflanzen sprechen längst verstummt, weil inzwischen bekannt ist, dass Pflanzen so etwas tatsächlich wahrnehmen können, wenn auch nicht den Sinn der Worte, so aber doch den Klang, die Schwingung und Stimmung. Aber Pflanzen können noch mehr. So teilte Professor Dr. Elmar W. Weiler (Friedrich-Schiller Universität, Bochum, 13.09.2000) mit: "Pflanzen sind keineswegs bewegungsunfähige, passive und statische Lebewesen. In manchen Leistungen, so zum Beispiel dem Tastsinn, übertreffen sie Mensch und Tier ganz eindeutig". Die Fleisch fressende schnappt also nicht aus Versehen zu, sondern ist sich bewusst, dass es etwas zu Fressen gibt und fängt aktiv die Tiere, die sich in ihre Fangarme begeben haben.

Aber auch "höheren" Tieren, denen wir allgemein eine Gefühlswelt zuschreiben, wie beispielsweise Hunde oder Katzen, verhalten sich dem Menschen gegenüber manchmal sehr intelligent, indem sie Wehwehchen vortäuschen oder Hunger oder vortäuschen, dass sie unbedingt Gassi müssen, bloß damit Herrchen oder Frauchen ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Ist das jetzt Täuschung oder gar Lüge? Tatsächlich spielt das Tier dem Menschen in dem Moment etwas vor, um etwas zu seinen Gunsten zu erreichen.

Polierte Wahrheit

Ist Tarnen und Täuschen also eine vollkommen legitime Verhaltensweise, die lediglich von uns Menschen verteufelt wird, weil sie uns schadet, wenn wir angelogen werden? Aber legen wir sie nicht auch gerne beiseite, wenn die Wahrheit uns schaden würde? Die Wahrheit jederzeit und an jedem Ort aussprechen zu können ist durchaus ein Luxusgut, dessen Gebrauch beispielsweise in Diktaturen schnell drastische Folgen haben kann. Aber auch in unseren demokratischen Gefilden steht man als normaler Bürger nicht selten dumm da, wenn man sich an die Wahrheit hält. Wie schnell gerät man ins juristische Hintertreffen, wenn man sich mit einem mächtigen Gegner anlegt, einem Großkonzern oder einer hochgestellten Persönlichkeit. Solche Gegner können sich exzellente Rechtsverdreher, pardon Rechtsgelehrte, leisten, die mit tödlicher Präzision aus der kleinsten Unregelmäßigkeit, die man sich irgendwann mal geleistet hat, eine Falle basteln, an deren Ende die Wahrheit im Sinne der Gerechtigkeit genau dessen Gegenteil bewirkt. Aber rechtfertigt das eine Unwahrheit, wenn die Wahrheit im Detail zu einer Ungerechtigkeit im Globalen wird? Ist da Tarnen und Täuschen gepaart mit etwas "Geradebiegen" der Wahrheit nicht besser und vertretbar, weil am Ende ja doch das "richtige" dabei herauskommt?

Ganz kompliziert und tückisch wird beispielsweise es im asiatischen Kulturraum, wo es als absolut unhöflich gilt, jemanden etwas Unpassendes zu sagen oder ihn bloßzustellen. Das beinhaltet in der Praxis nicht nur, dass man niemandem ins Gesicht sagt, dass er einen Fehler gemacht hat. Nein, es gilt sogar als unhöflich, eine Einladung einfach so auszuschlagen weil man keine Lust hat. Und da bekommt man dann die abenteuerlichsten Geschichten zu hören, warum man doch so gerne die Einladung angenommen hätte, aber leider nicht kann. Und das alles um der Höflichkeit und des lieben Friedens willen. Und, ja, man kann es nachvollziehen. Wenn Menschen so dicht gedrängt zusammen leben wie in den asiatischen Lebensräumen, dann kann diese Form der Unwahrheit eine Grundvoraussetzung für das Zusammenleben der Menschen sein. Und auch in unseren Breiten raten Paar-Therapeuten dazu, in einer Beziehung nicht immer gnadenlos die brutale Wahrheit zu sagen, da eine kleine "Notlüge" mitunter eine wertvolle Beziehung rettet, die mit der Wahrheit vielleicht gescheitert wäre. Doch muss man diese Entscheidung nicht dem Gegenüber überlassen, anstatt mit Tarnen und Täuschen etwas zu retten, das durchaus beiden Beteiligten etwas bedeutet?

Die Liste der Pros und Contras ließe sich beliebig fortsetzen. Und immer wieder stellt sich die Frage: Wie heilig ist uns der Begriff "Wahrheit" und ist er überhaupt so universell wie wir ihn immer wieder hinstellen? Wenn Tarnen und Täuschen eine Basistechnik zum Überleben ist und das Überleben das wichtigste Ziel eines jeden Individuums, ist dann nicht das Tarnen und Täuschen ein Grundprinzip allen Lebens? Wie kann da die Wahrheit als göttliches Prinzip mit einem moralischen Ausrufezeichen versehen werden? Oder gibt es am Ende etwa gute Lügen und schlechte Wahrheiten? Hat Gott etwa eine Welt geschaffen, in der man mit der Unwahrheit überlebt, aber nur mit der Wahrheit in den Himmel kommt...?

— 17. Mai 2012
 Top