1825

Montag, den 10. Januar 1825

Bei seinem großen Interesse für die englische Nation hatte Goethe mich ersucht, die hier anwesenden jungen Engländer ihm nach und nach vorzustellen. Heute um fünf Uhr erwartete er mich mit dem englischen Ingenieuroffizier Herrn H., von welchem ich ihm vorläufig viel Gutes hatte sagen können. Wir gingen also zur bestimmten Stunde hin und wurden durch den Bedienten in ein angenehm erwärmtes Zimmer geführt, wo Goethe in der Regel nachmittags und abends zu sein pflegt. Drei Lichter brannten auf dem Tisch; aber Goethe war nicht darin, wir hörten ihn in dem anstoßenden Saale sprechen.

Herr H. sah sich derweile um und bemerkte außer den Gemälden und einer großen Gebirgskarte an den Wänden ein Repositorium mit vielen Mappen, von welchen ich ihm sagte, daß sie viele Handzeichnungen berühmter Meister und Kupferstiche nach den besten Gemälden aller Schulen enthielten, die Goethe im Leben nach und nach gesammelt habe und deren wiederholte Betrachtung ihm Unterhaltung gewähre.

Nachdem wir einige Minuten gewartet hatten, trat Goethe zu uns herein und begrüßte uns freundlich. »Ich darf Sie gradezu in deutscher Sprache anreden,« wendete er sich an Herrn H., »denn ich höre, Sie sind im Deutschen schon recht bewandert.« Dieser erwiderte hierauf mit wenigem freundlich, und Goethe bat uns darauf, Platz zu nehmen.

Die Persönlichkeit des Herrn H. mußte auf Goethe einen guten Eindruck machen, denn seine große Liebenswürdigkeit und heitere Milde zeigte sich dem Fremden gegenüber heute in ihrer wahren Schönheit. »Sie haben wohl getan,« sagte er, »daß Sie, um Deutsch zu lernen, zu uns herübergekommen sind, wo Sie nicht allein die Sprache leicht und schnell gewinnen, sondern auch die Elemente, worauf sie ruhet, unsern Boden, Klima, Lebensart, Sitten, gesellschaftlichen Verkehr, Verfassung und dergleichen mit nach England im Geiste hinübernehmen.«

»Das Interesse für die deutsche Sprache«, erwiderte Herr H., »ist jetzt in England groß und wird täglich allgemeiner, so daß jetzt fast kein junger Engländer von guter Familie ist, der nicht Deutsch lernte.«

»Wir Deutschen«, versetzte Goethe freundlich, »haben es jedoch Ihrer Nation in dieser Hinsicht um ein halbes Jahrhundert zuvorgetan. Ich beschäftige mich seit funfzig Jahren mit der englischen Sprache und Literatur, so daß ich Ihre Schriftsteller und das Leben und die Einrichtung Ihres Landes sehr gut kenne. Käme ich nach England hinüber, ich würde kein Fremder sein.

Aber, wie gesagt, Ihre jungen Landsleute tun wohl, daß sie jetzt zu uns kommen und auch unsere Sprache lernen. Denn nicht allein, daß unsere eigene Literatur es an sich verdient, sondern es ist auch nicht zu leugnen, daß, wenn einer jetzt das Deutsche gut versteht, er viele andere Sprachen entbehren kann. Von der französischen rede ich nicht, sie ist die Sprache des Umgangs und ganz besonders auf Reisen unentbehrlich, weil sie jeder versteht und man sich in allen Ländern mit ihr statt eines guten Dolmetschers aushelfen kann. Was aber das Griechische, Lateinische, Italienische und Spanische betrifft, so können wir die vorzüglichsten Werke dieser Nationen in so guten deutschen Übersetzungen lesen, daß wir ohne ganz besondere Zwecke nicht Ursache haben, auf die mühsame Erlernung jener Sprachen viele Zeit zu verwenden. Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen.

Und dann ist wohl nicht zu leugnen, daß man im allgemeinen mit einer guten Übersetzung sehr weit kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber er las seinen Cicero in der französischen Übersetzung ebenso gut als wir andern in der Ursprache.«

Dann das Gespräch auf das Theater wendend, fragte Goethe Herrn H., ob er es viel besuche. »Ich besuche das Theater jeden Abend,« antwortete dieser, »und ich finde, daß der Gewinn für das Verstehen der Sprache sehr groß ist.« – »Es ist merkwürdig,« erwiderte Goethe, »daß das Ohr und überhaupt das Vermögen des Verstehens dem des Sprechens voraufeilt, so daß einer bald sehr gut alles verstehen, aber keineswegs alles ausdrücken kann.« – »Ich finde täglich,« entgegenete Herr H., »daß diese Bemerkung sehr wahr ist; denn ich verstehe sehr gut alles, was gesprochen wird, auch sehr gut alles, was ich lese, ja ich fühle sogar, wenn einer im Deutschen sich nicht richtig ausdrücket. Allein wenn ich spreche, so stockt es, und ich weiß nicht recht zu sagen, was ich möchte. Eine leichte Konversation bei Hofe, ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beim Tanz und dergleichen gelingt mir schon. Will ich aber im Deutschen über einen höheren Gegenstand meine Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigentümliches und Geistreiches sagen, so stockt es, und ich kann nicht fort.« – »Da trösten und beruhigen Sie sich nur,« erwiderte Goethe; »denn dergleichen Ungewöhnliches auszudrücken wird uns wohl in unserer eigenen Muttersprache schwer.«

Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deutscher Literatur gelesen habe. »Ich habe den ›Egmont‹ gelesen«, antwortete dieser, »und habe an dem Buche so viele Freude gehabt, daß ich dreimal zu ihm zurückgekehrt bin. So auch hat ›Torquato Tasso‹ mir vielen Genuß gewährt. Jetzt lese ich den ›Faust‹. Ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist.« Goethe lachte bei diesen letzten Worten. »Freilich«, sagte er, »würde ich Ihnen zum ›Faust‹ noch nicht geraten haben. Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von selbst getan haben, ohne mich zu fragen, so mögen Sie sehen, wie Sie durchkommen. Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können. So der Charakter des Mephistopheles ist durch die Ironie und als lebendiges Resultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas sehr Schweres. Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabei auftun. Der ›Tasso‹ dagegen steht dem allgemeinen Menschengefühl bei weitem näher, auch ist das Ausführliche seiner Form einem leichteren Verständnis günstig.« – »Dennoch«, erwiderte Herr H., »hält man in Deutschland den ›Tasse‹ für schwer, so daß man sich wunderte, als ich sagte, daß ich ihn lese.« – »Die Hauptsache beim ›Tasso‹«, sagte Goethe, »ist die, daß man kein Kind mehr sei und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn und genugsamer äußerer Bildung, wie sie aus dem Umgange mit vollendeten Menschen der höheren und höchsten Stände hervorgeht, wird den ›Tasso‹ nicht schwer finden.«

Das Gespräch lenkte sich auf den ›Egmont‹, und Goethe sagte darüber folgendes: »Ich schrieb den ›Egmont‹ im Jahre 1775, also vor funfzig Jahren. Ich hielt mich sehr treu an die Geschichte und strebte nach möglichstes Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre später in Rom war, las ich in den Zeitungen, daß die geschilderten revolutionären Szenen in den Niederlanden sich buchstäblich wiederholten. Ich sah daraus, daß die Welt immer dieselbige bleibt und daß meine Darstellung einiges Leben haben mußte.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen war die Zeit des Theaters herangekommen, und wir standen auf und wurden von Goethe freundlich entlassen.

Im Nachhausegehen fragte ich Herrn H., wie ihm Goethe gefallen. »Ich habe nie einen Mann gesehen,« antwortete dieser, »der bei aller liebevollen Milde so viel angebotene Würde besäße. Er ist immer groß, er mag sich stellen und sich herablassen, wie er wolle.«

 


 

Dienstag, den 18. Januar 1825

Ich ging heute um fünf Uhr zu Goethe, den ich in einigen Tagen nicht gesehen hatte, und verlebte mit ihm einen schönen Abend. Ich fand ihn, in seiner Arbeitsstube in der Dämmerung sitzend, in Gesprächen mit seinem Sohn und dem Hofrat Rehbein, seinem Arzt. Ich setzte mich zu ihnen an den Tisch. Wir sprachen noch eine Weile in der Dämmerung; dann ward Licht gebracht, und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen frisch und heiter vor mir zu sehen.

Er erkundigte sich, wie gewöhnlich, teilnehmend nach dem, was mir in diesen Tagen Neues begegnet, und ich erzählte ihm, daß ich die Bekanntschaft einer Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht gewöhnliches Talent rühmen, und Goethe, der einige ihrer Produkte gleichfalls kannte, stimmte in dieses Lob mit ein. »Eins von ihren Gedichten,« sagte er, »wo sie eine Gegend ihrer Heimat beschreibt, ist von einem höchst eigentümlichen Charakter. Sie hat eine gute Richtung auf äußere Gegenstände, auch fehlt es ihr nicht an guten inneren Eigenschaften. Freilich wäre auch manches an ihr auszusetzen, wir wollen sie jedoch gehen lassen und sie auf dem Wege nicht irren, den das Talent ihr zeigen wird.«

Das Gespräch kam nun auf die Dichterinnen im allgemeinen, und der Hofrat Rehbein bemerkte, daß das poetische Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine Art von geistigem Geschlechtstrieb vorkomme. »Da hören Sie nur,« sagte Goethe lachend, indem er mich ansah, » geistigen Geschlechtstrieb! – wie der Arzt das zurechtlegt!« – »Ich weiß nicht, ob ich mich recht ausdrücke,« fuhr dieser fort, »aber es ist so etwas. Gewöhnlich haben diese Wesen das Glück der Liebe nicht genossen, und sie suchen nun in geistigen Richtungen Ersatz. Wären sie zu rechter Zeit verheiratet und hätten sie Kinder geboren, sie würden an poetische Produktionen nicht gedacht haben.«

»Ich will nicht untersuchen,« sagte Goethe, »inwiefern Sie in diesem Falle recht haben; aber bei Frauenzimmertalenten anderer Art habe ich immer gefunden, daß sie mit der Ehe aufhörten. Ich habe Mädchen gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber sobald sie Frauen und Mütter wurden, war es aus; sie hatten mit den Kindern zu tun und nahmen keinen Griffel mehr in die Hand.

Doch unsere Dichterinnen«, fuhr er sehr lebhaft fort, »möchten immer dichten und schreiben, soviel sie wollten, wenn nur unsere Männer nicht wie die Weiber schrieben! Aber das ist es, was mir nicht gefällt. Man sehe doch unsere Zeitschriften und Taschenbücher, wie das alles so schwach ist und immer schwächer wird! Wenn man jetzt ein Kapitel des ›Cellini‹ im ›Morgenblatt‹ abdrucken ließe, wie würde sich das ausnehmen!

Unterdessen«, fuhr er heiter fort, »wollen wir es gut sein lassen und uns unseres kräftigen Mädchens in Halle freuen, die uns mit männlichem Geiste in die serbische Welt einführt. Die Gedichte sind vortrefflich! Es sind einige darunter, die sich dem ›Hohen Liede‹ an die Seite setzen lassen, und das will etwas heißen. Ich habe den Aufsatz über diese Gedichte beendigt, und er ist auch bereits abgedruckt.« Mit diesen Worten reichte er mir die ersten vier Aushängebogen eines neuen Heftes von ›Kunst und Altertum‹ zu, wo ich diesen Aufsatz fand. »Ich habe die einzelnen Gedichte ihrem Hauptinhalte nach mit kurzen Worten charakterisiert, und Sie werden sich über die köstlichen Motive freuen. Rehbein ist ja auch der Poesie nicht unkundig, wenigstens was den Gehalt und Stoff betrifft, und er hört vielleicht gerne mit zu, wenn Sie diese Stelle vorlesen.«

Ich las den Inhalt der einzelnen Gedichte langsam. Die angedeuteten Situationen waren so sprechend und so zeichnend, daß mir bei einem jeden Wort ein ganzes Gedicht sich vor den Augen aufbildete. Besonders anmutig wollten mir die folgenden erscheinen:

 

1.

Sittsamkeit eines serbischen Mädchens, welches die schönen Augenwimpern niemals aufschlägt.

2.

Innerer Streit des Liebenden, der als Brautführer seine Geliebte einem Dritten zuführen soll.

3.

Besorgt um den Geliebten, will das Mädchen nicht singen, um nicht froh zu scheinen.

4.

Klage über Umkehrung der Sitten, daß der Jüngling die Witwe freie, der Alte die Jungfrau.

5.

Klage eines Jünglings, daß die Mutter der Tochter zu viel Freiheit gebe.

6.

Vertraulich-frohes Gespräch des Mädchens mit dem Pferde, das ihr seines Herrn Neigung und Absichten verrät.

7.

Mädchen will den Ungeliebten nicht.

8.

Die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter den Gästen.

9.

Finden und zartes Aufwecken der Geliebten.

10.

Welches Gewerbes wird der Gatte sein?

11.

Liebesfreuden verschwatzt.

12.

Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet sie am Tage, überrascht sie zu Nacht.

 

Ich bemerkte, daß diese bloßen Motive so viel Leben in mir anregten, als läse ich die Gedichte selbst, und daß ich daher nach dem Ausgeführten gar kein Verlangen trage.

»Sie haben ganz recht,« sagte Goethe, »es ist so. Aber Sie sehen daraus die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen sie, und denken dabei bloß an die Empfindungen, an die Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß durch Empfindungen und klingende Verse eine Art von Existenz vorspiegeln. Überhaupt haben die Dilettanten und besonders die Frauen von der Poesie sehr schwache Begriffe. Sie glauben gewöhnlich, wenn sie nur das Technische loshätten, so hätten sie das Wesen und wären gemachte Leute; allein sie sind sehr in der Irre.«

Professor Riemer ließ sich melden; Hofrat Rehbein empfahl sich. Riemer setzte sich zu uns. Das Gespräch über die Motive der serbischen Liebesgedichte ging fort. Riemer kannte schon, wovon die Rede war, und er machte die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhaltsandeutungen nicht allein Gedichte machen könne, sondern daß auch jene Motive, ohne sie aus dem Serbischen gekannt zu haben, von deutscher Seite schon wären gebraucht und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Gedichte von sich selber, so wie mir während dem Lesen schon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die ich erwähnte.

»Die Welt bleibt immer dieselben sagte Goethe, »die Zustände wiederholen sich, das eine Volk lebt, liebt und empfindet wie das andere: warum sollte denn der eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen des Lebens sind sich gleich: warum sollten denn die Situationen der Gedichte sich nicht gleich sein?«

»Und eben diese Gleichheit des Lebens und der Empfindungen«, sagte Riemer, »macht es ja, daß wir imstande sind, die Poesie anderer Völker zu verstehen. Wäre dieses nicht, so würden wir ja bei ausländischen Gedichten nie wissen, wovon die Rede ist.«

»Mir sind daher«, nahm ich das Wort, »immer die Gelehrten höchst seltsam vorgekommen, welche die Meinung zu haben scheinen, das Dichten geschehe nicht vom Leben zum Gedicht, sondern vom Buche zum Gedicht. Sie sagen immer: das hat er dort her, und das dort! Finden sie z. B. beim Shakespeare Stellen, die bei den Alten auch vorkommen, so soll er es auch von den Alten haben! So gibt es unter andern beim Shakespeare ein Situation, wo man beim Anblick eines schönen Mädchens die Eltern glücklich preiset, die sie Tochter nennen, und den Jüngling glücklich, der sie als Braut heimführen wird. Und weil nun beim Homer dasselbige vorkommt, so soll es der Shakespeare auch vom Homer haben! – Wie wunderlich! Als ob man nach solchen Dingen so weit zu gehen brauchte, und als ob man dergleichen nicht täglich vor Augen hätte und empfände und ausspräche!«

»Ach ja,« sagte Goethe, »das ist höchst lächerlich!«

»So auch«, fuhr ich fort, »zeigt selbst Lord Byron sich nicht klüger, wenn er Ihren ›Faust‹ zerstückelt und der Meinung ist, als hätten Sie dieses hier her und jenes dort her.«

»Ich habe«, sagte Goethe, »alle jene von Lord Byron angeführten Herrlichkeiten größtenteils nicht einmal gelesen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den ›Faust‹ machte. Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflektiert, ist er ein Kind. So weiß er sich auch gegen dergleichen ihn selbst betreffende unverständige Angriffe seiner eigenen Nation nicht zu helfen; er hätte sich stärker dagegen ausdrücken sollen. Was da ist, das ist mein! hätte er sagen sollen, und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche genommen, das ist gleichviel, es kam bloß darauf an, daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine Szene meines ›Egmonts‹, und er hatte ein Recht dazu, und weil es mit Verstand geschah, so ist er zu loben. So auch hat er den Charakter meiner Mignon in einem seiner Romane nachgebildet; ob aber mit ebensoviel Weisheit, ist eine andere Frage. Lord Byrons Verwandelter Teufel ist ein fortgesetzter Mephistopheles, und das ist recht! Hätte er aus origineller Grille ausweichen wollen, er hätte es schlechter machen müssen. So singt mein Mephistopheles ein Lied von Shakespeare, und warum sollte er das nicht? Warum sollte ich mir die Mühe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von Shakespeare eben recht war und eben das sagte, was es sollte? Hat daher auch die Exposition meines ›Faust‹ mit der des ›Hiob‹ einige Ähnlichkeit, so ist das wiederum ganz recht, und ich bin deswegen eher zu loben als zu tadeln.«

Goethe war in der besten Laune. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er Riemern und mir einschenkte; er selbst trank Marienbader Wasser. Der Abend schien bestimmt zu sein, mit Riemern das Manuskript seiner fortgesetzten Selbstbiographie durchzugehen, um vielleicht hinsichtlich des Ausdruckes hin und wieder noch einiges zu verbessern. »Eckermann bleibt wohl bei uns und hört mit zu«, sagte Goethe, welches mir sehr lieb war zu vernehmen. Und so legte er denn Riemern das Manuskript vor, der mit dem Jahre 1795 zu lesen anfing.

Ich hatte schon im Laufe des Sommers die Freude gehabt, alle diese noch ungedruckten Lebensjahre bis auf die neueste Zeit herauf wiederholt zu lesen und zu betrachten. Aber jetzt in Goethes Gegenwart sie laut vorlesen zu hören, gewährte mir einen ganz neuen Genuß. – Riemer war auf den Ausdruck gerichtet, und ich hatte Gelegenheit, seine große Gewandtheit und seinen Reichtum an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen aber war die geschilderte Lebensepoche rege, er schwelgte in Erinnerungen und ergänzte bei Erwähnung einzelner Personen und Vorfälle das Geschriebene durch detaillierte mündliche Erzählung. – Es war ein köstlicher Abend! Der bedeutendsten mitlebenden Männer ward wiederholt gedacht; zu Schillern jedoch, der dieser Epoche von 1795 bis 1800 am engsten verflochten war, kehrte das Gespräch immer von neuem zurück. Das Theater war ein Gegenstand ihres gemeinsamen Wirkens gewesen, so auch fallen Goethes vorzüglichste Werke in jene Zeit. Der ›Wilhelm Meister‹ wird beendigt, ›Hermann und Dorothea‹ gleich hinterher entworfen und geschrieben, ›Cellini‹ übersetzt für die ›Horen‹, die ›Xenien‹ gemeinschaftlich gedichtet für Schillers ›Musenalmanach‹, an täglichen Berührungspunkten war kein Mangel. Dieses alles kam nun diesen Abend zur Sprache, und es fehlte Goethen nicht an Anlaß zu den interessantesten Äußerungen.

»›Hermann und Dorothea‹«, sagte er unter andern, »ist fast das einzige meiner größeren Gedichte, das mir noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen Anteil lesen. Besonders lieb ist es mir in der lateinischen Übersetzung, es kommt mir da vornehmer vor, als wäre es, der Form nach, zu seinem Ursprunge zurückgekehrt.«

Auch vom ›Wilhelm Meister‹ war wiederholt die Rede. »Schiller«, sagte er, »tadelte die Einflechtung des Tragischen, als welches nicht in den Roman gehöre. Er hatte jedoch unrecht, wie wir alle wissen. In seinen Briefen an mich sind über den ›Wilhelm Meister‹ die bedeutendsten Ansichten und Äußerungen. Es gehört dieses Werk übrigens zu den inkalkulabelsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt. Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unsern Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist. Will man aber dergleichen durchaus, so halte man sich an die Worte Friedrichs, die er am Ende an unsern Helden richtet, indem er sagt: ›Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.‹ Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.«

Der großen Kultur der mittleren Stände ward darauf gedacht, die sich seit den letzten funfzig Jahren über Deutschland verbreitet, und Goethe schrieb die Verdienste hierum weniger Lessingen zu als Herdern und Wieland. »Lessing«, sagte er, »war der höchste Verstand, und nur ein ebenso großer konnte von ihm wahrhaft lernen. Dem Halbvermögen war er gefährlich.« Er nannte einen Journalisten, der sich nach Lessing gebildet und am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Rolle, aber keine edle gespielt habe, weil er seinem großen Vorgänger so weit nachgestanden.

»Wielanden«, sagte Goethe, »verdankt das ganze obere Deutschland seinen Stil. Es hat viel von ihm gelernt, und die Fähigkeit, sich gehörig auszudrücken, ist nicht das geringste.«

Bei Erwähnung der ›Xenien‹ rühmte Goethe besonders die von Schiller, die er scharf und schlagend nannte, dagegen seine eigenen unschuldig und geringe. »Den ›Tierkreis‹,« sagte er, »welcher von Schiller ist, lese ich stets mit Bewunderung. Die guten Wirkungen, die sie zu ihrer Zeit auf die deutsche Literatur ausübten, sind gar nicht zu berechnen.« Viele Personen wurden bei dieser Gelegenheit genannt, gegen welche die ›Xenien‹ gerichtet waren; ihre Namen sind jedoch meinem Gedächtnis entgangen.

Nachdem nun so, von diesen und hundert andern interessanten Äußerungen und Einflechtungen Goethes unterbrochen, das gedachte Manuskript bis zu Ende des Jahres 1800 vorgelesen und besprochen war, legte Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem Ende des großen Tisches, an dem wir saßen, decken und ein kleines Abendessen bringen. Wir ließen es uns wohl sein; Goethe selbst rührte aber keinen Bissen an, wie ich ihn denn nie abends habe essen sehen. Er saß bei uns, schenkte uns ein, putzte die Lichter und erquickte uns überdies geistig mit den herrlichsten Worten. Das Andenken Schillers war in ihm so lebendig, daß die Gespräche dieser letzten Hälfte des Abends nur ihm gewidmet waren.

Riemer erinnerte an Schillers Persönlichkeit. »Der Bau seiner Glieder, sein Gang auf der Straße, jede seiner Bewegungen«, sagte er, »war stolz, nur die Augen waren sanft.« – »Ja,« sagte Goethe, »alles übrige an ihm war stolz und großartig, aber seine Augen waren sanft. Und wie sein Körper war sein Talent. Er griff in einen großen Gegenstand kühn hinein und betrachtete und wendete ihn hin und her, und sah ihn so an und so, und handhabte ihn so und so. Er sah seinen Gegenstand gleichsam nur von außen an, eine stille Entwickelung aus dem Innern war nicht seine Sache. Sein Talent war mehr desultorisch. Deshalb war er auch nie entschieden und konnte nie fertig werden. Er wechselte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.

Und wie er überall kühn zu Werke ging, so war er auch nicht für vieles Motivieren. Ich weiß, was ich mit ihm beim ›Tell‹ für Not hatte, wo er geradezu den Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf des Knaben schießen lassen wollte. Dies war nun ganz gegen meine Natur, und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, daß er Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt großtun lasse, indem er sagt, daß er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baum schieße. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorstellungen und Bitten nach und machte es so, wie ich ihm geraten.

Daß ich dagegen oft zu viel motivierte, entfernte meine Stücke vom Theater. Meine ›Eugenie‹ ist eine Kette von lauter Motiven, und dies kann auf der Bühne kein Glück machen.

Schillers Talent war recht fürs Theater geschaffen. Mit jedem Stück schritt er vor und ward er vollendeter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von den ›Räubern‹ her ein gewisser Sinn für das Grausame anklebte, der selbst in seiner schönsten Zeit ihn nie ganz verlassen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl, daß er im ›Egmont‹ in der Gefängnisszene, wo diesem das Urteil vorgelesen wird, den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehüllt im Hintergrunde erscheinen ließ, um sich an dem Effekt zu weiden, den das Todesurteil auf Egmont haben würde. Hiedurch sollte sich der Alba als unersättlich in Rache und Schadenfreude darstellen. Ich protestierte jedoch, und die Figur blieb weg. Er war ein wunderlicher großer Mensch.

Alle acht Tage war er ein anderer und ein vollendeterer; jedesmal wenn ich ihn wiedersah, erschien er mir vorgeschritten in Belesenheit, Gelehrsamkeit und Urteil. Seine Briefe sind das schönste Andenken, das ich von ihm besitze, und sie gehören mit zu dem Vortrefflichsten, was er geschrieben. Seinen letzten Brief bewahre ich als ein Heiligtum unter meinen Schätzen.« Goethe stand auf und holte ihn. »Da sehen und lesen Sie«, sagte er, indem er mir ihn zureichte.

Der Brief war schön und mit kühner Hand geschrieben. Er enthielt ein Urteil über Goethes Anmerkungen zu ›Rameaus Neffen‹, welche die französische Literatur jener Zeit darstellen, und die er Schillern in Manuskript zur Ansicht mitgeteilt hatte. Ich las den Brief Riemern vor. »Sie sehen,« sagte Goethe, »wie sein Urteil treffend und beisammen ist, und wie die Handschrift durchaus keine Spur irgendeiner Schwäche verrät. Er war ein prächtiger Mensch, und bei völligen Kräften ist er von uns gegangen. Dieser Brief ist vom 24. April 1805 – Schiller starb am 9. Mai.«

Wir betrachteten den Brief wechselweise und freuten uns des klaren Ausdrucks wie der schönen Handschrift, und Goethe widmete seinem Freunde noch manches Wort eines liebevollen Andenkens, bis es spät gegen eilf Uhr geworden war und wir gingen.

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