Donnerstag abend, den 29. [25.] Januar 1827

Begleitet von dem Manuskript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bei ihm in Gesprächen über die neue französische Literatur. Ich hörte mit Interesse zu, und es kam zur Sprache, daß die neuesten Talente hinsichtlich guter Verse sehr viel von Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen Genfer, das Deutsche nicht ganz geläufig war, Goethe aber im Französischen sich ziemlich bequem ausdrückt, so ging die Unterhaltung französisch, und nur an solchen Stellen deutsch, wo ich mich in das Gespräch mischte. Ich zog den Béranger aus der Tasche und überreichte ihn Goethe, der diese trefflichen Lieder von neuem zu lesen wünschte. Das den Gedichten vorstehende Porträt fand Herr Soret nicht ähnlich. Goethe freute sich, die zierliche Ausgabe in Händen zu halten. »Diese Lieder«, sagte er, »sind vollkommen und als das Beste in ihrer Art anzusehen, besonders wenn man sich das Gejodel des Refrains hinzudenkt, denn sonst sind sie als Lieder fast zu ernst, zu geistreich, zu epigrammatisch. Ich werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis erinnert, die beide auch über ihrer Zeit standen und die Sittenverderbnis spottend und spielend zur Sprache brachten. Béranger hat zu seiner Umgebung dieselbige Stellung. Weil er aber aus niederem Stande heraufgekommen, so ist ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt, und er behandelt es noch mit einer gewissen Neigung.«

Viel Ähnliches ward noch über Béranger und andere neuern Franzosen hin und her gesprochen, bis Herr Soret an den Hof ging und ich mit Goethe alleine blieb.

Ein versiegeltes Paket lag auf dem Tisch. Goethe legte seine Hand darauf. »Was ist das?« sagte er. »Es ist die ›Helena‹, die an Cotta zum Druck abgeht.« Ich empfand bei diesen Worten mehr, als ich sagen konnte, ich fühlte die Bedeutung des Augenblickes. Denn wie bei einem neuerbauten Schiff, das zuerst in die See geht und wovon man nicht weiß, welche Schicksale es erleben wird, so ist es auch mit dem Gedankenwerk eines großen Meisters, das zuerst in die Welt hinaustritt, um für viele Zeiten zu wirken und mannigfaltige Schicksale zu erzeugen und zu erleben. »Ich habe«, sagte Goethe, »bis jetzt immer noch Kleinigkeiten daran zu tun und nachzuhelfen gefunden. Endlich aber muß es genug sein, und ich bin nun froh, daß es zur Post geht und ich mich mit befreiter Seele zu etwas anderem wenden kann. Es mag nun seine Schicksale erleben! Was mich tröstet, ist, daß die Kultur in Deutschland doch jetzt unglaublich hoch steht und man also nicht zu fürchten hat, daß eine solche Produktion lange unverstanden und ohne Wirkung bleiben werde.«

»Es steckt ein ganzes Altertum darin«, sagte ich. – »Ja,« sagte Goethe, »die Philologen werden daran zu tun finden.« – »Für den antiken Teil«, sagte ich, »fürchte ich nicht, denn es ist da das große Detail, die gründlichste Entfaltung des einzelnen, wo jedes geradezu das sagt, was es sagen soll. Allein der moderne, romantische Teil ist sehr schwer, denn eine halbe Weltgeschichte steckt dahinter; die Behandlung ist bei so großem Stoff nur andeutend und macht sehr große Ansprüche an den Leser.« – »Aber doch«, sagte Goethe, »ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der ›Zauberflöte‹ und andern Dingen der Fall ist.«

»Es wird«, sagte ich, »auf der Bühne einen ungewohnten Eindruck machen, daß ein Stück als Tragödie anfängt und als Oper endigt. Doch es gehört etwas dazu, die Großheit dieser Personen darzustellen und die erhabenen Reden und Verse zu sprechen.« – »Der erste Teil«, sagte Goethe, »erfordert die ersten Künstler der Tragödie, sowie nachher im Teile der Oper die Rollen mit den ersten Sängern und Sängerinnen besetzt werden müssen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer, sondern sie muß von zwei großen Künstlerinnen gespielt werden; denn es ist ein seltener Fall, daß eine Sängerin zugleich als tragische Künstlerin von hinlänglicher Bedeutung ist.«

»Das Ganze«, sagte ich, »wird zu großer Pracht und Mannigfaltigkeit in Dekorationen und Garderobe Anlaß geben, und ich kann nicht leugnen, ich freue mich darauf, es auf der Bühne zu sehen. Wenn nur ein recht großer Komponist sich daran machte!« – »Es müßte einer sein,« sagte Goethe, »der wie Meyerbeer lange in Italien gelebt hat, so daß er seine deutsche Natur mit der italienischen Art und Weise verbände. Doch das wird sich schon finden, und ich habe keinen Zweifel; ich freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken, daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will, sondern auf der heiteren Oberfläche der Erde sich den Elementen zuwirft, tue ich mir wirklich etwas zugute.« – »Es ist eine neue Art von Unsterblichkeit«, sagte ich.

»Nun,« fuhr Goethe fort, »wie steht es mit der Novelle?« – »Ich habe sie mitgebracht«, sagte ich. »Nachdem ich sie nochmals gelesen, finde ich, daß Eure Exzellenz die intendierte Änderung nicht machen dürfen. Es tut gar gute Wirkung, wenn die Leute beim getöteten Tiger zuerst als durchaus fremde neue Wesen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und sich als Besitzer der Tiere ankündigen. Brächten Sie sie aber schon früher, in der Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe, »ich muß es lassen, wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz recht. Es muß auch beim ersten Entwurf in mir gelegen haben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendierte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.«

Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was,« sagte Goethe, »wir wollen es die ›Novelle‹ nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den ›Wahlverwandtschaften‹ vor.«

»Wenn man es recht bedenkt,« sagte ich, »so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das, was es ist, so daß man also glauben sollte, der Titel gehöre gar nicht zur Sache.« – »Er gehört auch nicht dazu,« sagte Goethe; »die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dies ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer späteren Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Notwendigkeit herbeigeführt, bei einer ausgebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und voneinander zu unterscheiden.

»Hier«, sagte Goethe, »haben Sie etwas Neues; lesen Sie.« Mit diesen Worten reichte er mir eine Übersetzung eines serbischen Gedichtes von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnügen, denn das Gedicht war sehr schön und die Übersetzung so einfach und klar, daß man im Anschauen des Gegenstandes nie gestört wurde. Das Gedicht führte den Titel ›Die Gefängnisschlüssel‹. Ich sage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indes kam mir abgerissen und ein wenig unbefriedigend vor.

»Das ist«, sagte Goethe, »eben das Schöne; denn dadurch läßt es einen Stachel im Herzen zurück, und die Phantasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen können. Der Schluß hinterläßt den Stoff zu einem ganzen Trauerspiele, allein er ist von der Art, wie schon vieles dagewesen ist. Dagegen das im Gedicht Dargestellte ist das eigentlich Neue und Schöne, und der Dichter verfuhr sehr weise, daß er nur dieses ausbildete und das andere dem Leser überließ. Ich teilte das Gedicht gerne in ›Kunst und Altertum‹ mit, allein es ist zu lang; dagegen habe ich mir diese drei gereimten von Gerhard ausgebeten, die ich im nächsten Heft werde abdrucken lassen. Was sagen Sie zu diesem? Hören Sie.«

Goethe las nun zuerst das Lied vom Alten, der ein junges Mädchen liebt, sodann das Trinklied der Weiber, und zuletzt das energische ›Tanz uns vor, Theodor‹. Jedes las er in einem anderen Tone und andern Schwunge, vortrefflich, so daß man nicht leicht etwas Vollkommneres hören konnte.

Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus glücklich und im Charakter gewählt und alles leicht und vollkommen ausgeführt hatte, so daß man nicht wußte, wie er es hätte besser machen sollen. »Da sieht man,« sagte Goethe, »was bei einem solchen Talent wie Gerhard die große technische Übung tut. Und dann kommt ihm zugute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier, sondern ein solches treibt, das ihn täglich aufs praktische Leben weiset. Auch hat er die vielen Reisen in England und andern Ländern gemacht, wodurch er denn bei seinem auf das Reale gehenden Sinn über unsere gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn er sich immer an gute Überlieferungen hält und nur diese bearbeitet, so wird er nicht leicht etwas Schlechtes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfordern sehr viel und sind eine schwere Sache.«

Hieran knüpften sich manche Betrachtungen über die Produktionen unserer neuesten jungen Dichter, und es ward bemerkt, daß fast keiner von ihnen mit einer guten Prosa aufgetreten.

»Die Sache ist sehr einfach,« sagte Goethe. »Um Prosa zu schreiben, muß man etwas zu sagen haben; wer aber nichts zu sagen hat, der kann doch Verse und Reime machen, wo denn ein Wort das andere gibt und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts ist, aber doch aussieht, als wäre es was.«

 


 

Mittwoch, den 31. Januar 1827

Bei Goethe zu Tisch. »In diesen Tagen, seit ich Sie nicht gesehen,« sagte er, »habe ich vieles und mancherlei gelesen, besonders auch einen chinesischen Roman, der mich noch beschäftiget und der mir im hohen Grade merkwürdig erscheint.« – »Chinesischen Roman?« sagte ich. »Der muß wohl sehr fremdartig aussehen.« – »Nicht so sehr, als man glauben sollte«, sagte Goethe. »Die Menschen denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir, und man fühlt sich sehr bald als ihresgleichen, – nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht. Es ist bei ihnen alles verständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und poetischen Schwung und hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem ›Hermann und Dorothea‹, sowie mit den englischen Romanen des Richardson. Es unterscheidet sich aber wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen singen immerfort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht wie der Tag selber. Und das Innere der Häuser so nett und zierlich wie ihre Bilder. Z. B.: ›Ich hörte die lieblichen Mädchen lachen, und als ich sie zu Gesichte bekam, saßen sie auf feinen Rohrstühlen.‹ Da haben Sie gleich die allerliebste Situation, denn Rohrstühle kann man sich gar nicht ohne die größte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Erzählung nebenher gehen und gleichsam sprichwörtlich angewendet werden. Z. B. von einem Mädchen, das so leicht und zierlich von Füßen war, daß sie auf einer Blume balancieren konnte, ohne die Blume zu knicken. Und von einem jungen Manne, der sich so sittlich und brav hielt, daß er in seinem dreißigsten Jahre die Ehre hatte, mit dem Kaiser zu reden. Und ferner von Liebespaaren, die in einem langen Umgange sich so enthaltsam bewiesen, daß, als sie einst genötigt waren, eine Nacht in einem Zimmer miteinander zuzubringen, sie in Gesprächen die Stunden durchwachten, ohne sich zu berühren. Und so unzählige von Legenden, die alle auf das Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch diese strenge Mäßigung in allem hat sich denn auch das Chinesische Reich seit Jahrtausenden erhalten und wird dadurch ferner bestehen.

Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem chinesischen Roman«, fuhr Goethe fort, »habe ich an den Liedern von Béranger, denen fast allen ein unsittlicher, liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im hohen Grade zuwider sein würden, wenn nicht ein so großes Talent wie Béranger die Gegenstände behandelt hätte, wodurch sie denn erträglich, ja sogar anmutig werden. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht höchst merkwürdig, daß die Stoffe des chinesischen Dichters so durchaus sittlich und diejenigen des jetzigen ersten Dichters von Frankreich ganz das Gegenteil sind?«

»Ein solches Talent wie Béranger«, sagte ich, »würde an sittlichen Stoffen nichts zu tun finden.« – »Sie haben recht,« sagte Goethe, »eben an den Verkehrtheiten der Zeit offenbart und entwickelt Béranger seine bessere Natur.« – »Aber«, sagte ich, »ist denn dieser chinesische Roman vielleicht einer ihrer vorzüglichsten?« – »Keineswegs,« sagte Goethe; »die Chinesen haben deren zu Tausenden und hatten ihrer schon, als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten.

Ich sehe immer mehr,« fuhr Goethe fort, »daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr von Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sei, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht ans dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.«

Ich freute mich, Goethe in einer Folge über einen so wichtigen Gegenstand reden zu hören. Das Geklingel vorbeifahrender Schlitten lockte uns zum Fenster, denn wir erwarteten, daß der große Zug, der diesen Morgen nach Belvedere vorbeiging, wieder zurückkommen würde. Goethe setzte indes seine lehrreichen Äußerungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede, und er erzählte mir, daß Graf Reinhard Herrn Manzoni vor nicht langer Zeit in Paris gesehen, wo er als ein junger Autor von Namen in der Gesellschaft wohl aufgenommen gewesen sei, und daß er jetzt wieder in der Nähe von Mailand auf seinem Landgute mit einer jungen Familie und seiner Mutter glücklich lebe.

»Manzoni«, fuhr Goethe fort, »fehlt weiter nichts, als daß er selbst nicht weiß, welch ein guter Poet er ist und welche Rechte ihm als solchem zustehen. Er hat gar zu viel Respekt vor der Geschichte und fügt aus diesem Grunde seinen Stücken immer gern einige Auseinandersetzungen hinzu, in denen er nachweiset, wie treu er den Einzelnheiten der Geschichte geblieben. Nun mögen seine Fakta historisch sein, aber seine Charaktere sind es doch nicht, so wenig es mein Thoas und meine Iphigenia sind. Kein Dichter hat je die historischen Charaktere gekannt, die er darstellte; hätte er sie aber gekannt, so hätte er sie schwerlich so gebrauchen können. Der Dichter muß wissen, welche Wirkungen er hervorbringen will, und danach die Natur seiner Charaktere einrichten. Hätte ich den Egmont so machen wollen, wie ihn die Geschichte meldet, als Vater von einem Dutzend Kindern, so würde sein leichtsinniges Handeln sehr absurd erschienen sein. Ich mußte also einen andern Egmont haben, wie er besser mit seinen Handlungen und meinen dichterischen Absichten in Harmonie stände; und dies ist, wie Klärchen sagt, mein Egmont.

Und wozu wären denn die Poeten, wenn sie bloß die Geschichte eines Historikers wiederholen wollten! Der Dichter muß weiter gehen und uns womöglich etwas Höheres und Besseres geben. Die Charaktere des Sophokles tragen alle etwas von der hohen Seele des großen Dichters, so wie Charaktere des Shakespeare von der seinigen. Und so ist es recht, und so soll man es machen. Ja Shakespeare geht noch weiter und macht seine Römer zu Engländern, und zwar wieder mit Recht, denn sonst hätte ihn seine Nation nicht verstanden.

Darin«, fuhr Goethe fort, »waren nun wieder die Griechen so groß, daß sie weniger auf die Treue eines historischen Faktums gingen, als darauf, wie es der Dichter behandelte. Zum Glück haben wir jetzt an den ›Philokteten‹ ein herrliches Beispiel, welches Sujet alle drei großen Tragiker behandelt haben, und Sophokles zuletzt und am besten. Dieses Dichters treffliches Stück ist glücklicherweise ganz auf uns gekommen; dagegen von den ›Philokteten‹ des Äschylus und Euripides hat man Bruchstücke aufgefunden, aus denen hinreichend zu sehen ist, wie sie ihren Gegenstand behandelt haben. Wollte es meine Zeit mir erlauben, so würde ich diese Stücke restaurieren, so wie ich es mit dem ›Phaëton‹ des Euripides getan, und es sollte mir keine unangenehme und unnütze Arbeit sein.

Bei diesem Sujet war die Aufgabe ganz einfach: nämlich den Philoktet nebst dem Bogen von der Insel Lemnos zu holen. Aber die Art, wie dieses geschieht, das war nun die Sache der Dichter, und darin konnte jeder die Kraft seiner Erfindung zeigen und einer es dem andern zuvortun. Der Ulyß soll ihn holen; aber soll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und wodurch soll er unkenntlich sein? Soll der Ulyß allein gehen, oder soll er Begleiter haben, und wer soll ihn begleiten? Beim Äschylus ist der Gefährte unbekannt, beim Euripides ist es der Diomed, beim Sophokles der Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zustande soll man den Philoktet finden? Soll die Insel bewohnt sein oder nicht, und wenn bewohnt, soll sich eine mitleidige Seele seiner angenommen haben oder nicht? Und so hundert andere Dinge, die alle in der Willkür der Dichter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine vor dem andern seine höhere Weisheit zeigen konnte. Hierin liegts, und so sollten es die jetzigen Dichter auch machen, und nicht immer fragen, ob ein Sujet schon behandelt worden oder nicht, wo sie denn immer in Süden und Norden nach unerhörten Begebenheiten suchen, die oft barbarisch genug sind und die dann auch bloß als Begebenheiten wirken. Aber freilich ein einfaches Sujet durch eine meisterhafte Behandlung zu etwas zu machen, erfordert Geist und großes Talent, und daran fehlt es.«

Vorbeifahrende Schlitten zogen uns wieder ans Fenster; der erwartete Zug von Belvedere war es aber wieder nicht. Wir sprachen und scherzten unbedeutende Dinge hin und her, dann fragte ich Goethe, wie es mit der Novelle stehe.

»Ich habe sie dieser Tage ruhen lassen,« sagte er, »aber eins muß doch noch in der Exposition geschehen. Der Löwe nämlich muß brüllen, wenn die Fürstin an der Bude vorbereitet, wobei ich denn einige gute Reflexionen über die Furchtbarkeit dieses gewaltigen Tieres anstellen lassen kann.«

»Dieser Gedanke ist sehr glücklich,« sagte ich, »denn dadurch entsteht eine Exposition, die nicht allein an sich, an ihrer Stelle, gut und notwendig ist, sondern wodurch auch alles Folgende eine größere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erschien der Löwe fast zu sanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit zeigte. Dadurch aber, daß er brüllet, läßt er uns wenigstens seine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er sodann später sanft der Flöte des Kindes folgt, so wird dieses eine desto größere Wirkung tun.«

»Diese Art zu ändern und zu bessern,« sagte Goethe, »ist nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes durch fortgesetzte Erfindungen zum Vollendeten steigert. Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und weiter zu treiben, wie z. B. Walter Scott mit meiner Mignon getan, die er außer ihren übrigen Eigenheiten noch taubstumm sein läßt: diese Art zu ändern kann ich nicht loben.«

 


 

Donnerstag abend, den 1. Februar 1827

Goethe erzählte mir von einem Besuch des Kronprinzen von Preußen in Begleitung des Großherzogs. »Auch die Prinzen Karl und Wilhelm von Preußen«, sagte er, »waren diesen Morgen bei mir. Der Kronprinz blieb mit dem Großherzog gegen drei Stunden, und es kam mancherlei zur Sprache, welches mir von dem Geist, Geschmack, den Kenntnissen und der Denkweise dieses jungen Fürsten eine hohe Meinung gab –«

Goethe hatte einen Band der ›Farbenlehre‹ vor sich liegen. »Ich bin«, sagte er, »Ihnen noch immer eine Antwort wegen des Phänomens der farbigen Schatten schuldig. Da dieses aber vieles voraussetzt und mit vielem andern zusammenhängt, so will ich Ihnen auch heute keine aus dem Ganzen herausgerissene Erklärung geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut sein würde, wenn wir die Abende, die wir zusammenkommen, die ganze ›Farbenlehre‹ miteinander durchlesen. Dadurch haben wir immer einen soliden Gegenstand der Unterhaltung, und Sie selbst werden sich die ganze Lehre zu eigen machen, so daß Sie kaum merken, wie Sie dazu kommen. Das Überlieferte fängt bei Ihnen an zu leben und wieder produktiv zu werden, wodurch ich denn voraussehen daß diese Wissenschaft sehr bald Ihr Eigentum sein wird. Nun lesen Sie den ersten Abschnitt.«

Mit diesen Worten legte Goethe mir das aufgeschlagene Buch vor. Ich fühlte mich sehr beglückt durch die gute Absicht, die er mit mir hatte. Ich las von den physiologischen Farben die ersten Paragraphen.

»Sie sehen,« sagte Goethe, »es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre, und wie die äußere Welt ihre Farben hat, so hat sie auch das Auge. Da es nun bei dieser Wissenschaft ganz vorzüglich auf scharfe Sonderung des Objektiven vom Subjektiven ankommt, so habe ich billig mit den Farben, die dem Auge gehören, den Anfang gemacht, damit wir bei allen Wahrnehmungen immer wohl unterscheiden, ob die Farbe auch wirklich außer uns existiere oder ob es eine bloße Scheinfarbe sei, die sich das Auge selbst erzeugt hat. Ich denke also, daß ich den Vortrag dieser Wissenschaft beim rechten Ende angefaßt habe, indem ich zunächst das Organ berichtige, durch welches alle Wahrnehmungen und Beobachtungen geschehen müssen.«

Ich las weiter bis zu den interessanten Paragraphen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß das Auge das Bedürfnis des Wechsels habe, indem es nie gerne bei derselbigen Farbe verweile, sondern sogleich eine andere fordere, und zwar so lebhaft, daß es sich solche selbst erzeuge, wenn es sie nicht wirklich vorfinde.

Dieses brachte ein großes Gesetz zur Sprache, das durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben und alle Freude des Lebens beruhet. »Es ist dieses«, sagte Goethe, »nicht allein mit allen anderen Sinnen so, sondern auch mit unserem höheren geistigen Wesen; aber weil das Auge ein so vorzüglicher Sinn ist, so tritt dieses Gesetz des geforderten Wechsels so auffallend bei den Farben hervor und wird uns bei ihnen so vor allen deutlich bewußt. Wir haben Tänze, die uns im hohen Grade wohlgefallen, weil Dur und Moll in ihnen wechselt, wogegen aber Tänze aus bloßem Dur oder bloßem Moll sogleich ermüden.«

»Dasselbe Gesetz«, sagte ich, »scheint einem guten Stil zum Grunde zu liegen, bei welchem wir gerne einen Klang vermeiden, der soeben gehört wurde. Auch beim Theater wäre mit diesem Gesetz viel zu machen, wenn man es gut anzuwenden wüßte. Stücke, besonders Trauerspiele, in denen ein einziger Ton ohne Wechsel durchgeht, haben etwas Lästiges und Ermüdendes, und wenn nun das Orchester bei einem traurigen Stück auch in den Zwischenakten traurige, niederschlagende Musik hören läßt, so wird man von einem unerträglichen Gefühl gepeinigt, dem man gern auf alle Weise entfliehen möchte.«

»Vielleicht«, sagte Goethe, »beruhen auch die eingeflochtenen heiteren Szenen in den Shakespearischen Trauerspielen auf diesem Gesetz des geforderten Wechsels; allein auf die höhere Tragödie der Griechen scheint es nicht anwendbar, vielmehr geht bei dieser ein gewisser Grundton durch das Ganze.«

»Die griechische Tragödie«, sagte ich, »ist auch nicht von solcher Länge, daß sie bei einem durchgehenden gleichen Ton ermüden könnte; und dann wechseln auch Chöre und Dialog, und der erhabene Sinn ist von solcher Art, daß er nicht lästig werden kann, indem immer eine gewisse tüchtige Realität zum Grunde liegt, die stets heiterer Natur ist.«

»Sie mögen recht haben,« sagte Goethe, »und es wäre wohl der Mühe wert, zu untersuchen, inwiefern auch die griechische Tragödie dem allgemeinen Gesetz des geforderten Wechsels unterworfen ist. Aber Sie sehen, wie alles aneinander hängt, und wie sogar ein Gesetz der Farbenlehre auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen kann. Nur muß man sich hüten, es mit einem solchen Gesetz zu weit treiben und es als Grundlage für vieles andere machen zu wollen; vielmehr geht man sicherer, wenn man es immer nur als ein Analogon, als ein Beispiel gebraucht und anwendet.«

Wir sprachen über die Art, wie Goethe seine Farbenlehre vorgetragen, daß er nämlich dabei alles aus großen Urgesetzen abgeleitet und die einzelnen Erscheinungen immer darauf zurückgeführt habe, woraus denn das Faßliche und ein großer Gewinn für den Geist hervorgehe.

»Dieses mag sein,« sagte Goethe, »und Sie mögen mich deshalb loben; aber diese Methode erfordert denn auch Schüler, die nicht in der Zerstreuung leben und die fähig sind, die Sache wieder im Grunde aufzufassen. Es sind einige recht hübsche Leute in meiner Farbenlehre heraufgekommen, allein das Unglück ist, sie bleiben nicht auf geradem Wege, sondern ehe ich es mir versehe, weichen sie ab und gehen einer Idee nach statt das Objekt immer gehörig im Auge zu behalten. Aber ein guter Kopf, dem es zugleich um die Wahrheit zu tun wäre, könnte noch immer viel leisten.«

Wir sprachen von Professoren, die, nachdem das Bessere gefunden, immer noch die Newtonische Lehre vortragen. »Dies ist nicht zu verwundern,« sagte Goethe; »solche Leute gehen im Irrtum fort, weil sie ihm ihre Existenz verdanken. Sie müßten umlernen, und das wäre eine sehr unbequeme Sache.« – »Aber«, sagte ich, »wie können ihre Experimente die Wahrheit beweisen, da der Grund ihrer Lehre falsch ist?« – »Sie beweisen auch die Wahrheit nicht,« sagte Goethe, »und das ist auch keineswegs ihre Absicht, sondern es liegt ihnen bloß daran, ihre Meinung zu beweisen. Deshalb verbergen sie auch alle solche Experimente, wodurch die Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit ihrer Lehre sich darlegen könnte.

Und dann, um von den Schülern zu reden, welchem von ihnen wäre es denn um die Wahrheit zu tun? Das sind auch Leute wie andere und völlig zufrieden, wenn sie über die Sache empirisch mitschwatzen können. Das ist alles. Die Menschen sind überhaupt eigener Natur; sobald ein See zugefroren ist, sind sie gleich zu Hunderten darauf und amüsieren sich auf der glatten Oberfläche: aber wem fällt es ein, zu untersuchen, wie tief er ist und welche Arten von Fischen unter dem Eise hin und her schwimmen? Niebuhr hat jetzt einen Handelstraktat zwischen Rom und Karthago entdeckt aus einer sehr frühen Zeit, woraus es erwiesen ist, daß alle Geschichte des Livius vom frühen Zustande des römischen Volkes nichts als Fabeln sind, indem aus jenem Traktat ersichtlich, daß Rom schon sehr früh in einem weit höheren Zustande der Kultur sich befunden, als aus dem Livius hervorgeht. Aber wenn Sie nun glauben, daß dieser entdeckte Traktat in der bisherigen Lehrart der römischen Geschichte eine große Reform hervorbringen werde, so sind Sie im Irrtum. Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; so sind die Leute, ich habe sie kennen gelernt, so sind sie und nicht anders.«

»Aber doch«, sagte ich, »kann es Ihnen nicht gereuen, daß Sie die ›Farbenlehre‹ geschrieben; denn nicht allein, daß Sie dadurch ein festes Gebäude dieser trefflichen Wissenschaft gegründet, sondern Sie haben auch darin ein Muster wissenschaftlicher Behandlung aufgestellt, woran man sich bei Behandlung ähnlicher Gegenstände immer halten kann.«

»Es gereut mich auch keineswegs,« sagte Goethe, »obgleich ich die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt habe. Ich hätte vielleicht ein halb Dutzend Trauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, und dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden.

Aber Sie haben recht, ich denke auch, die Behandlung wäre gut; es ist Methode darin. In derselbigen Art habe ich auch eine Tonlehre geschrieben, so wie auch meine ›Metamorphose der Pflanzen‹ auf derselbigen Anschauungs- und Ableitungsweise beruhet.

Mit meiner ›Metamorphose der Pflanzen‹ ging es mir eigen; ich kam dazu wie Herschel zu seinen Entdeckungen. Herschel nämlich war so arm, daß er sich kein Fernrohr anschaffen konnte, sondern daß er genötiget war, sich selber eins zu machen. Aber dies war sein Glück; denn dieses selbstfabrizierte war besser als alle anderen, und er machte damit seine großen Entdeckungen. In die Botanik war ich auf empirischem Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut, daß mir bei der Bildung der Geschlechter die Lehre zu weitläufig wurde, als daß ich den Mut hatte, sie zu fassen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem Wege nachzuspüren und dasjenige zu finden, was allen Pflanzen ohne Unterschied gemein wäre, und so entdeckte ich das Gesetz der Metamorphose.

Der Botanik nun im einzelnen weiter nachzugehen, liegt gar nicht in meinem Wege, das überlasse ich andern, die es mir auch darin weit zuvortun. Mir lag bloß daran, die einzelnen Erscheinungen auf ein allgemeines Grundgesetz zurückzuführen.

So auch hat die Mineralogie nur in einer doppelten Hinsicht Interesse für mich gehabt: zunächst nämlich ihres großen praktischen Nutzens wegen, und dann, um darin ein Dokument über die Bildung der Urwelt zu finden, wozu die Wernersche Lehre Hoffnung machte. Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode in dieser Wissenschaft das Oberste zu unterst kehrt, gehe ich in diesem Fache öffentlich nicht weiter mit, sondern halte mich im stillen in meiner Überzeugung fort.

In der ›Farbenlehre‹ steht mir nun noch die Entwickelung des Regenbogens bevor, woran ich zunächst gehen werde. Es ist dieses eine äußerst schwierige Aufgabe, die ich jedoch zu lösen hoffe. Es ist mir aus diesem Grunde lieb, jetzt mit Ihnen die ›Farbenlehre‹ wieder durchzugehen, wodurch sich denn, zumal bei Ihrem Interesse für die Sache, alles wieder anfrischet.

Ich habe mich«, fuhr Goethe fort, »in den Naturwissenschaften ziemlich nach allen Seiten hin versucht; jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf solche Gegenstände, die mich irdisch umgaben und die unmittelbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten; weshalb ich mich denn auch nie mit Astronomie beschäftiget habe, weil hiebei die Sinne nicht mehr ausreichen, sondern weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache waren.

Wenn ich aber in denen Gegenständen, die in meinem Wege lagen, etwas geleistet, so kam mir dabei zugute, daß mein Leben in eine Zeit fiel, die an großen Entdeckungen in der Natur reicher war als irgendeine andere. Schon als Kind begegnete mir Franklins Lehre von der Elektrizität, welches Gesetz er damals soeben gefunden hatte. Und so folgte durch mein ganzes Leben, bis zu dieser Stunde, eine große Entdeckung der andern; wodurch ich denn nicht allein früh auf die Natur hingeleitet, sondern auch später immer fort in der bedeutendsten Anregung gehalten wurde.

Jetzt werden Vorschritte getan, auch auf den Wegen, die ich einleitete, wie ich sie nicht ahnden konnte, und es ist mir wie einem, der der Morgenröte entgegengeht und über den Glanz der Sonne erstaunt, wenn diese hervorleuchtet.« Unter den Deutschen nannte Goethe bei dieser Gelegenheit die Namen Carus, D'Alton, Meyer in Königsberg mit Bewunderung.

»Wenn nur die Menschen«, fuhr Goethe fort, »das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es täte der Menschheit ein Positives not, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und Wahre wäre. In dieser Hinsicht sollte es mich freuen, wenn man in den Naturwissenschaften aufs Reine käme und sodann im Rechten beharrte, und nicht wieder transzendierte, nachdem im Faßlichen alles getan worden. Aber die Menschen können keine Ruhe halten, und ehe man es sich versieht, ist die Verwirrung wieder oben auf.

So rütteln sie jetzt an den fünf Büchern Moses, und wenn die vernichtende Kritik irgend schädlich ist, so ist sie es in Religionssachen; denn hiebei beruht alles auf dem Glauben, zu welchem man nicht zurückkehren kann, wenn man ihn einmal verloren hat.

In der Poesie ist die vernichtende Kritik nicht so schädlich. Wolf hat den Homer zerstört, doch dem Gedicht hat er nichts anhaben können; denn dieses Gedicht hat die Wunderkraft wie die Helden Walhallas, die sich des Morgens in Stücke hauen und mittags sich wieder mit heilen Gliedern zu Tische setzen.«

Goethe war in der besten Laune, und ich war glücklich, ihn abermals über so bedeutende Dinge reden zu hören. »Wir wollen uns nur«, sagte er, »im stillen auf dem rechten Wege forthalten und die übrigen gehen lassen; das ist das Beste.«

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