Sonnabend, den 11. Oktober 1828

Das gedachte ›Foreign Review‹ des Herrn Fraser enthielt unter vielen bedeutenden und interessanten Gegenständen auch einen höchst würdigen Aufsatz über Goethe von Carlyle, den ich diesen Morgen studierte. Ich ging mittags ein wenig früher zu Tisch, um vor der Ankunft der übrigen Gäste mich mit Goethe darüber zu bereden.

Ich fand ihn, wie ich wünschte, noch allein, in Erwartung der Gesellschaft. Er trug seinen schwarzen Frack und Stern, worin ich ihn so gerne sehe; er schien heute besonders jugendlich heiter, und wir fingen sogleich an, von unserm gemeinsamen Interesse zu reden. Goethe sagte mir, daß er Carlyles Aufsatz über ihn gleichfalls diesen Morgen betrachtet, und so waren wir denn imstande, über die Bestrebungen der Ausländer manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen.

»Es ist eine Freude, zu sehen,« sagte Goethe, »wie die frühere Pedanterie der Schotten sich in Ernst und Gründlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie die Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen behandelt haben, und ich jetzt dagegen Carlyles Verdienste um die deutsche Literatur erwäge, so ist es auffallend, welch ein bedeutender Vorschritt zum Besseren geschehen ist.«

»An Carlyle«, sagte ich, »muß ich vor allem den Geist und Charakter verehren, der seinen Richtungen zum Grunde liegt. Es ist ihm um die Kultur seiner Nation zu tun, und da fragt er denn bei den literarischen Erzeugnissen des Auslandes, womit er seine Landsleute bekannt zu machen wünscht, weniger nach Künsten des Talents als nach der Höhe sittlicher Bildung, die aus solchen Werken zu gewinnen.«

»Ja,« sagte Goethe, »die Gesinnung, aus der er handelt, ist besonders schätzbar. Und wie ist es ihm Ernst! und wie hat er uns Deutsche studiert! Er ist in unserer Literatur fast besser zu Hause als wir selbst; zum wenigsten können wir mit ihm in unsern Bemühungen um das Englische nicht wetteifern.«

»Der Aufsatz«, sagte ich, »ist mit einem Feuer und Nachdruck geschrieben, daß man ihm wohl anmerkt, daß in England noch viele Vorurteile und Widersprüche zu bekämpfen sind. Den ›Wilhelm Meister‹ zumal scheinen übelwollende Kritiker und schlechte Übersetzer in kein günstiges Licht gebracht zu haben. Dagegen benimmt sich nun Carlyle sehr gut. Der dummen Nachrede, daß keine wahre Edelfrau den ›Meister‹ lesen dürfe, widerspricht er sehr heiter mit dem Beispiele der letzten Königin von Preußen, die sich mit dem Buche vertraut gemacht und die doch mit Recht für eine der ersten Frauen ihrer Zeit gelte.«

Verschiedene Tischgäste traten herein, die Goethe begrüßte. Er wendete seine Aufmerksamkeit mir wieder zu, und ich fuhr fort.

»Freilich«, sagte ich, »hat Carlyle den ›Meister‹ studiert, und so durchdrungen von dem Wert des Buches wie er ist, möchte er gerne, daß es sich allgemein verbreitete; er möchte gerne, daß jeder Gebildete davon gleichen Gewinn und Genuß hätte.«

Goethe zog mich an ein Fenster, um mir zu antworten.

»Liebes Kind,« sagte er, »ich will Ihnen etwas vertrauen, das Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute kommen soll. Meine Sachen können nicht popular werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.« Er wollte weiterreden; eine junge Dame trat heran, ihn unterbrechend und ihn in ein Gespräch ziehend. Ich wendete mich zu anderen, worauf wir uns bald zu Tisch setzten.

Von dem, was gesprochen wurde, wüßte ich nichts zu sagen; Goethes Worte lagen mir im Sinn und beschäftigten ganz mein Inneres.

Freilich, dachte ich, ein Schriftsteller wie er, ein Geist von solcher Höhe, eine Natur von so unendlichem Umfang, wie soll der popular werden! Kann doch kaum ein kleiner Teil von ihm popular werden! Kaum ein Lied, das lustige Brüder und verliebte Mädchen singen und das für andere wiederum nicht da ist!

Und, recht besehen, ist es nicht mit allen außerordentlichen Dingen so? Ist denn Mozart popular? Und ist es denn Raffael? Und verhält sich nicht die Welt gegen so große Quellen überschwenglichen geistigen Lebens überall nur wie Naschende, die froh sind, hin und wieder ein weniges zu erhaschen, das ihnen eine Weile eine höhere Nahrung gewähre?

Ja, fuhr ich in meinen Gedanken fort, Goethe hat recht. Er kann seinem Umfange nach nicht popular werden, und seine Werke sind nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches suchen und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.

Sie sind im ganzen für betrachtende Naturen, die in die Tiefen der Welt und Menschheit zu dringen wünschen und seinen Pfaden nachgehen. Sie sind im einzelnen für leidenschaftlich Genießende, die des Herzens Wonne und Weh im Dichter suchen. Sie sind für junge Poeten, die lernen wollen, wie man sich ausdrücke und wie man einen Gegenstand kunstgemäß behandele. Sie sind für Kritiker, die darin ein Muster empfangen, nach welchen Maximen man urteilen solle, und wie man auch eine Rezension interessant und anmutig mache, so daß man sie mit Freuden lese. Seine Werke sind für den Künstler, weil sie ihm im allgemeinen den Geist aufklären und er im besonderen aus ihnen lernt, welche Gegenstände eine kunstgemäße Bedeutung haben, und was er demnach darstellen solle und was nicht. Sie sind für den Naturforscher, nicht allein, weil gefundene große Gesetze ihm überliefert werden, sondern auch vorzüglich, weil er darin eine Methode empfängt, wie ein guter Geist mit der Natur verfahren müsse, damit sie ihm ihre Geheimnisse offenbare.

Und so gehen denn alle wissenschaftlich und künstlerisch Strebenden bei den reichbesetzten Tafeln seiner Werke zu Gaste, und in ihren Wirkungen zeugen sie von der allgemeinen Quelle eines großen Lichtes und Lebens, aus der sie geschöpft haben.

Diese und ähnliche Gedanken gingen mir bei Tisch durch den Kopf. Ich dachte an einzelne Personen, an manchen wackeren deutschen Künstler, Naturforscher, Dichter und Kritiker, die einen großen Teil ihrer Bildung Goethen zu danken haben. Ich dachte an geistreiche Italiener, Franzosen und Engländer, die auf ihn ihre Augen richten und die in seinem Sinne handeln.

Unterdessen hatte man um mich her heiter gescherzt und gesprochen und es sich an guten Gerichten wohl sein lassen. Ich hatte auch mitunter ein Wörtchen mit dreingeredet, aber alles, ohne eigentlich bei der Sache zu sein. Eine Dame hatte eine Frage an mich gerichtet, worauf ich vielleicht nicht die beste Antwort mochte gegeben haben. Ich wurde geneckt.

»Laßt nur den Eckermann,« sagte Goethe, »er ist immer abwesend, außer wenn er im Theater sitzt.«

Man lachte auf meine Kosten; doch war es mir nicht unlieb. Ich war heute in meinem Gemüt besonders glücklich. Ich segnete mein Geschick, das mich nach manchen wunderlichen Fügungen den wenigen zugesellet hatte, die den Umgang und das nähere Vertrauen eines Mannes genießen, dessen Größe mir noch vor wenig Augenblicken lebhaft durch die Seele gegangen war, und den ich nun in seiner vollen Liebenswürdigkeit persönlich vor Augen hatte.

Biskuit und schöne Trauben wurden zum Nachtisch aufgetragen. Letztere waren aus der Ferne gesendet, und Goethe tat geheimnisvoll, woher sie gekommen. Er verteilte sie und reichte mir eine sehr reife über den Tisch. »Hier, mein Guter,« sagte er, »essen Sie von diesen Süßigkeiten und sei'n Sie vergnügt.« Ich ließ mir die Traube aus Goethes Händen wohlschmecken und war nun mit Leib und Seele völlig in seiner Nähe.

Man sprach vom Theater, von Wolffs Verdiensten, und wie viel Gutes von diesem trefflichen Künstler ausgegangen.

»Ich weiß sehr wohl,« sagte Goethe, »daß unsere hiesigen älteren Schauspieler manches von mir gelernt haben, aber im eigentlichen Sinne kann ich doch nur Wolff meinen Schüler nennen. Wie sehr er in meine Maximen eingedrungen war und wie er in meinem Sinne handelte, davon will ich einen Fall erzählen, den ich gerne wiederhole.

Ich war einst gewisser anderer Ursachen wegen auf Wolff sehr böse. Er hatte abends zu spielen, und ich saß in meiner Loge. Jetzt, dachte ich, sollst du ihm doch einmal recht aufpassen; es ist doch heute nicht die Spur einer Neigung in dir, die für ihn sprechen und ihn entschuldigen könnte. – Wolff spielte, und ich wendete mein geschärftes Auge nicht von ihm! Aber wie spielte er! wie war er sicher! wie war er fest! – Es war mir unmöglich, ihm nur den Schein eines Verstoßes gegen die Regeln abzulisten, die ich ihm eingepflanzt hatte, und ich konnte nicht umhin, ich mußte ihm wieder gut sein.«

 


 

Montag, den 20. Oktober 1828

Oberbergrat Noeggerath aus Bonn, von dem Verein der Naturforscher aus Berlin zurückkehrend, war heute an Goethes Tisch ein sehr willkommener Gast. Über Mineralogie ward viel verhandelt; der werte Fremde gab besonders gründliche Auskunft über die mineralogischen Vorkommen und Verhältnisse in der Nähe von Bonn.

Nach aufgehobener Tafel traten wir in das Zimmer mit der kolossalen Büste der Juno. Goethe zeigte den Gästen einen langen Papierstreifen mit Konturen des Frieses vom Tempel zu Phigalia. Man betrachtete das Blatt und wollte bemerken, daß die Griechen bei ihren Darstellungen von Tieren sich weniger an die Natur gehalten, als daß sie dabei nach einer gewissen Konvenienz verfahren. Man wollte gefunden haben, daß sie in Darstellungen dieser Art hinter der Natur zurückgeblieben, und daß Widder, Opferstiere und Pferde, wie sie auf Basreliefs vorkommen, häufig sehr steife, unförmliche und unvollkommene Geschöpfe seien.

»Ich will darüber nicht streiten,« sagte Goethe, »aber vor allen Dingen muß man unterscheiden, aus welcher Zeit und von welchem Künstler solche Werke herrühren. Denn so ließen sich wohl Musterstücke in Menge vorlegen, wo griechische Künstler in ihren Darstellungen von Tieren die Natur nicht allein erreicht, sondern sogar weit übertroffen haben. Die Engländer, die ersten Pferdekenner der Welt, müssen doch jetzt von zwei antiken Pferdeköpfen gestehen, daß sie in ihren Formen so vollkommen befunden werden, wie jetzt gar keine Rassen mehr auf der Erde existieren. Es sind diese Köpfe aus der besten griechischen Zeit; und wenn uns nun solche Werke in Erstaunen setzen, so haben wir nicht sowohl anzunehmen, daß jene Künstler nach einer mehr vollkommenen Natur gearbeitet haben, wie die jetzige ist, als vielmehr, daß sie im Fortschritte der Zeit und Kunst selber etwas geworden waren, so daß sie sich mit persönlicher Großheit an die Natur wandten.«

Während dieses gesprochen wurde, stand ich mit einer Dame seitwärts an einem Tisch, um ein Kupferwerk zu betrachten, und ich konnte zu Goethes Worten nur ein halbes Ohr wenden; desto tiefer aber ergriff ich sie mit meiner Seele.

Die Gesellschaft war nach und nach gegangen und ich mit Goethe allein gelassen, der sich zum Ofen stellte. Ich trat in seine Nähe.

»Euer Exzellenz«, sagte ich, »haben vorhin in der Äußerung, daß die Griechen sich mit persönlicher Großheit an die Natur gewandt, ein gutes Wort gesprochen, und ich halte dafür, daß man sich von diesem Satz nicht tief genug durchdringen könne.«

»Ja, mein Guter,« sagte Goethe, »hierauf kommt alles an. Man muß etwas sein, um etwas zu machen. Dante erscheint uns groß, aber er hatte eine Kultur von Jahrhunderten hinter sich; das Haus Rothschild ist reich, aber es hat mehr als ein Menschenalter gekostet, um zu solchen Schätzen zu gelangen. Diese Dinge liegen alle tiefer, als man denkt. Unsere guten altdeutschelnden Künstler wissen davon nichts, sie wenden sich mit persönlicher Schwäche und künstlerischem Unvermögen zur Nachahmung der Natur und meinen, es wäre was. Sie stehen unter der Natur. Wer aber etwas Großes machen will, muß seine Bildung so gesteigert haben, daß er gleich den Griechen imstande sei, die geringere reale Natur zu der Höhe seines Geistes heranzuheben und dasjenige wirklich zu machen, was in natürlichen Erscheinungen, aus innerer Schwäche oder aus äußerem Hindernis, nur Intention geblieben ist.«

 


 

Mittwoch, den 22. Oktober 1828

Heute war bei Tisch von den Frauen die Rede, und Goethe äußerte sich darüber sehr schön. »Die Frauen«, sagte er, »sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen. Meine Idee von den Frauen ist nicht von den Erscheinungen der Wirklichkeit abstrahiert, sondern sie ist mir angeboren, oder in mir entstanden, Gott weiß wie. Meine dargestellten Frauencharaktere sind daher auch alle gut weggekommen, sie sind alle besser, als sie in der Wirklichkeit anzutreffen sind.«

 


 

Dienstag, den 18. November 1828

Goethe sprach von einem neuen Stück des ›Edinburgh Review‹. »Es ist eine Freude, zu sehen,« sagte er, »zu welcher Höhe und Tüchtigkeit die englischen Kritiker sich jetzt erheben. Von der früheren Pedanterie ist keine Spur mehr, und große Eigenschaften sind an deren Stelle getreten. In dem letzten Stück, in einem Aufsatz über deutsche Literatur, finden Sie folgende Äußerung: ›Es gibt Leute unter den Poeten, deren Neigung es ist, immer in solchen Dingen zu verkehren, die ein anderer sich gerne aus dem Sinne schlägt.‹ Nun, was sagen Sie? Da wissen wir mit einem Male, woran wir sind, und wissen, wohin wir eine große Zahl unserer neuesten Literatoren zu klassifizieren haben.«

 


 

Dienstag, den 16. Dezember 1828

Ich war heute mit Goethe in seiner Arbeitsstube allein zu Tisch; wir sprachen über verschiedene literarische Dinge. »Die Deutschen«, sagte er, »können die Philisterei nicht loswerden. Da quengeln und streiten sie jetzt über verschiedene Distichen, die sich bei Schiller gedruckt finden und auch bei mir, und sie meinen, es wäre von Wichtigkeit, entschieden herauszubringen, welche denn wirklich Schillern gehören und welche mir. Als ob etwas darauf ankäme, als ob etwas damit gewonnen würde, und als ob es nicht genug wäre, daß die Sachen da sind!

Freunde wie Schiller und ich, jahrelang verbunden, mit gleichen Interessen, in täglicher Berührung und gegenseitigem Austausch, lebten sich ineinander so sehr hinein, daß überhaupt bei einzelnen Gedanken gar nicht die Rede und Frage sein konnte, ob sie dem einen gehörten oder dem andern. Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede sein! Man muß wirklich selbst noch tief in der Philisterei stecken, wenn man auf die Entscheidung solcher Zweifel nur die mindeste Wichtigkeit legen wollte.«

»Etwas Ähnliches«, sagte ich, »kommt in der literarischen Welt häufig vor, indem man z. B. an dieses oder jenes berühmten Mannes Originalität zweifelt und die Quellen auszuspüren sucht, woher er seine Kultur hat.«

»Das ist sehr lächerlich,« sagte Goethe »man könnte ebensogut einen wohlgenährten Mann nach den Ochsen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwickelung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns aneignen, was wir können und was uns gemäß ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shakespeare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig geworden. Allein damit sind die Quellen meiner Kultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nötig. Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt und die es aufnimmt, wo sie es findet.

Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im einzelnen vor mir dasselbige gefunden und gesagt; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder sagte und daß ich dafür strebte, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen, das ist mein Verdienst.

Und denn, man muß das Wahre immer wiederholen, weil auch der Irrtum um uns her immer wieder geprediget wird, und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse. In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten, überall ist der Irrtum obenauf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist.

Oft lehret man auch Wahrheit und Irrtum zugleich, und hält sich an letzteren. So las ich vor einigen Tagen in einer englischen Enzyklopädie die Lehre von der Entstehung des Blauen. Obenan stand die wahre Ansicht von Leonardo da Vinci; mit der größten Ruhe aber folgte zugleich der Newtonische Irrtum, und zwar mit dem Bemerken, daß man sich an diesen zu halten habe, weil er das allgemein Angenommene sei.«

Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieses hörte. »Jede Wachskerze,« sagte ich, »jeder erleuchtete Küchenrauch, der etwas Dunkeles hinter sich hat, jeder duftige Morgennebel, wenn er vor schattigen Stellen liegt, überzeugen mich täglich von der Entstehung der blauen Farbe und lehren mich die Bläue des Himmels begreifen. Was aber die Newtonischen Schüler sich dabei denken mögen, daß die Luft die Eigenschaft besitze, alle übrigen Farben zu verschlucken und nur die blaue zurückzuwerfen, dieses ist mir völlig unbegreiflich, und ich sehe nicht ein, welchen Nutzen und welche Freude man an einer Lehre haben kann, wobei jeder Gedanke völlig stille steht und jede gesunde Anschauung durchaus verschwindet.«

»Gute Seele,« sagte Goethe, »um Gedanken und Anschauungen ist es den Leuten auch gar nicht zu tun. Sie sind zufrieden, wenn sie nur Worte haben, womit sie verkehren, welches schon mein Mephistopheles gewußt und nicht übel ausgesprochen hat:

Vor allem haltet euch an Worte!
Dann geht ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein;
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.«

Goethe rezitierte diese Stelle lachend und schien überall in der besten Laune. »Es ist nur gut«, sagte er, »daß schon alles gedruckt steht; und so will ich fortfahren, ferner drucken zu lassen, was ich gegen falsche Lehren und deren Verbreiter noch auf dem Herzen habe.

Treffliche Menschen«, fuhr er nach einer Pause fort, »kommen jetzt in den Naturwissenschaften heran, und ich sehe ihnen mit Freuden zu. Andere fangen gut an, aber sie halten sich nicht; ihr vorwaltendes Subjektive führt sie in die Irre. Wiederum andere halten zu sehr auf Fakta und sammeln deren zu einer Unzahl, wodurch nichts bewiesen wird. Im ganzen fehlt der theoretische Geist, der fähig wäre, zu Urphänomenen durchzudringen und der einzelnen Erscheinungen Herr zu werden.«

Ein kurzer Besuch unterbrach unsere Unterhaltung; bald aber wieder allein gelassen, lenkte sich das Gespräch auf die Poesie, und ich erzählte Goethen, daß ich dieser Tage seine kleinen Gedichte wieder betrachtet und besonders bei zweien verweilet habe, bei der Ballade nämlich von den Kindern und dem Alten, und bei den ›Glücklichen Gatten‹.

»Ich halte auf diese beiden Gedichte selber etwas,« sagte Goethe, »wiewohl das deutsche Publikum bis jetzt nicht viel daraus hat machen können.«

»In der Ballade«, sagte ich, »ist ein sehr reicher Gegenstand in große Enge zusammengebracht, mittels aller poetischen Formen und Künste und Kunstgriffe, worunter ich besonders den hochschätze, daß das Vergangene der Geschichte den Kindern von dem Alten bis zu dem Punkt erzählt wird, wo die Gegenwart eintritt und das übrige sich vor unsern Augen entwickelte

»Ich habe die Ballade lange mit mir herumgetragen,« sagte Goethe, »ehe ich sie niederschrieb; es stecken Jahre von Nachdenken darin, und ich habe sie drei- bis viermal versucht, ehe sie mir so gelingen wollte, wie sie jetzt ist.«

»Das Gedicht von den ›Glücklichen Gatten‹«, fuhr ich fort, »ist gleichfalls sehr reich an Motiven; es erscheinen darin ganze Landschaften und Menschenleben, durchwärmt von dem Sonnenschein eines anmutigen Frühlingshimmels, der sich über dem Ganzen ausbreitet.«

»Ich habe das Gedicht immer lieb gehabt,« sagte Goethe, »und es freut mich, daß Sie ihm ein besonderes Interesse schenken. Und daß der Spaß zuletzt noch auf eine Doppelkindtaufe hinausgeht, dächte ich, wäre doch artig genug.«

Wir kamen sodann auf den ›Bürgergeneral‹, wovon ich erzählte, daß ich dieses heitere Stück in diesen Tagen mit einem Engländer gelesen, und daß in uns beiden der lebhafte Wunsch entstanden, es auf dem Theater zu sehen. »Dem Geiste nach«, sagte ich, »ist darin nichts veraltet, und im einzelnen der dramatischen Entwickelung ist darin kein Zug, der nicht für die Bühne gedacht wäre.«

»Es war zu seiner Zeit ein sehr gutes Stück,« sagte Goethe, »und es hat uns manchen heiteren Abend gemacht. Freilich, es war trefflich besetzt und so vortrefflich einstudiert, daß der Dialog Schlag auf Schlag ging, im völligsten Leben. Malkolmi spielte den Märten, man konnte nichts Vollkommneres sehen.«

»Die Rolle des Schnaps«, sagte ich, »erscheint mir nicht weniger glücklich; ich dächte, das Repertoire hätte nicht viele aufzuweisen, die dankbarer und besser wären. Es ist in dieser Figur wie im ganzen Stück eine Deutlichkeit, eine Gegenwart, wie sie das Theater nur wünschen kann. Die Szene, wo er mit dem Felleisen kommt und nacheinander die Sachen hervorbringt, wo er Märten den Schnurrbart anklebt und sich selbst mit Freiheitsmütze, Uniform und Degen bekleidet, gehört zu den vorzüglichsten.«

»Diese Szene«, sagte Goethe, »hat in früherer Zeit auf unserm Theater immer viel Glück gemacht. Es kam dazu noch der Umstand, daß das Felleisen mit den Sachen ein wirklich historisches war. Ich fand es nämlich zur Zeit der Revolution auf meiner Reise an der französischen Grenze, wo die Flucht der Emigrierten durchgegangen war, und wo es einer mochte verloren oder weggeworfen haben. Die Sachen, so wie sie im Stück vorkommen, waren alle darin, ich schrieb danach die Szene, und das Felleisen mit allem Zubehör spielte nachher, zu nicht geringem Vergnügen unserer Schauspieler, immer mit, sooft das Stück gegeben wurde.«

Die Frage, ob man den ›Bürgergeneral‹ noch jetzt mit Interesse und Nutzen sehen könne, machte noch eine Weile den Gegenstand unserer Unterhaltung.

Goethe erkundigte sich sodann nach meinen Fortschritten in der französischen Literatur, und ich erzählte ihm, daß ich mich abwechselnd noch immer mit Voltaire beschäftige, und daß das große Talent dieses Mannes mir das reinste Glück gewähre. »Ich kenne immer noch nur wenig von ihm,« sagte ich; »ich halte mich noch immer in dem Kreise seiner kleinen Gedichte an Personen, die ich lese und immer wieder lese und von denen ich mich nicht trennen kann.«

»Eigentlich«, sagte Goethe, »ist alles gut, was ein so großes Talent wie Voltaire schreibt, wiewohl ich nicht alle seine Frechheiten gelten lassen möchte. Aber Sie haben nicht unrecht, wenn Sie so lange bei seinen kleinen Gedichten an Personen verweilen; sie gehören ohne Frage zu den liebenswürdigsten Sachen, die er geschrieben. Es ist darin keine Zeile, die nicht voller Geist, Klarheit, Heiterkeit und Anmut wäre.«

»Und man sieht darin«, sagte ich, »seine Verhältnisse zu allen Großen und Mächtigen der Erde und bemerkt mit Freuden, welche vornehme Figur Voltaire selber spielt, indem er sich den Höchsten gleich zu empfinden scheint, und man ihm nie anmerkt, daß irgendeine Majestät seinen freien Geist nur einen Augenblick hat genieren können.«

»Ja,« sagte Goethe, »vornehm war er. Und bei all seiner Freiheit und Verwegenheit hat er sich immer in den Grenzen des Schicklichen zu halten gewußt, welches fast noch mehr sagen will. Ich kann wohl die Kaiserin von Österreich als eine Autorität in solchen Dingen anführen, die sehr oft gegen mich wiederholt hat, daß in Voltaires Gedichten an fürstliche Personen keine Spur sei, daß er je die Linie der Konvenienz überschritten habe.«

»Erinnern sich Euer Exzellenz«, sagte ich, »des kleinen Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen Königin von Schweden, die artige Liebeserklärung macht, indem er sagt, daß er sich im Traum zum Rang der Könige habe erhoben gesehen?«

»Es ist eins seiner vorzüglichsten«, sagte Goethe, indem er rezitierte:

»Je vous aimais, princesse, et j'osais vous le dire.
Les Dieux à mon réveil ne m'ont pas tout ôté,
Je n'ai perdu que mon empire.

Ja, das ist artig! Und dann«, fuhr Goethe fort, »hat es wohl nie einen Poeten gegeben, dem sein Talent jeden Augenblick so zur Hand war wie Voltaire. Ich erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum Besuch bei seiner Freundin Du Chatelet gewesen war und in dem Augenblick der Abreise, als schon der Wagen vor der Tür steht, einen Brief von einer großen Anzahl junger Mädchen eines benachbarten Klosters erhält, die zum Geburtstag ihrer Äbtissin den ›Tod Julius Cäsars‹ aufführen wollen und ihn um einen Prolog bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn ablehnen konnte; schnell läßt er sich daher Feder und Papier geben und schreibt stehend auf dem Rande eines Kamins das Verlangte. Es ist ein Gedicht von etwa zwanzig Versen, durchaus durchdacht und vollendet, ganz für den gegebenen Fall passend, genug, von der besten Sorte.«

»Ich hin sehr begierig, es zu lesen«, sagte ich.

»Ich zweifle,« sagte Goethe, »daß es in Ihrer Sammlung steht, es ist erst kürzlich zum Vorschein gekommen, wie er denn solche Gedichte zu Hunderten gemacht hat, von denen noch manche hie und dort im Privatbesitz verborgen sein mögen.«

»Ich fand dieser Tage eine Stelle in Lord Byron,« sagte ich, »woraus zu meiner Freude hervorging, welche außerordentliche Achtung auch Byron vor Voltaire gehabt. Auch sieht man es ihm wohl an, wie sehr er Voltaire mag gelesen, studiert und benutzt haben.«

»Byron«, sagte Goethe, »wußte zu gut, wo etwas zu holen war, und er war zu gescheit, als daß er aus dieser allgemeinen Quelle des Lichts nicht auch hätte schöpfen sollen.«

Das Gespräch wendete sich hiernächst ganz auf Byron und einzelne seiner Werke, wobei Goethe häufigen Anlaß fand, manche seiner früheren Äußerungen von Anerkennung und Bewunderung jenes großen Talentes zu wiederholen.

»In alles, was Euer Exzellenz über Byron sagen,« erwiderte ich, »stimme ich von Herzen bei; allein wie bedeutend und groß jener Dichter als Talent auch sein mag, so möchte ich doch sehr zweifeln, daß aus seinen Schriften für reine Menschenbildung ein entschiedener Gewinn zu schöpfen.«

»Da muß ich Ihnen widersprechen«, sagte Goethe. »Byrons Kühnheit, Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? – Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. – Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden.«

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