Mittwoch, den 8. April 1829

Goethe saß schon am gedeckten Tisch, als ich hereintrat, er empfing mich sehr heiter. »Ich habe einen Brief erhalten,« sagte er, »woher? – Von Rom! Aber von wem? – Vom König von Bayern!«

»Ich teile Ihre Freude«, sagte ich. »Aber ist es nicht eigen, ich habe mich seit einer Stunde auf einem Spaziergange sehr lebhaft mit dem Könige von Bayern in Gedanken beschäftigt, und nun erfahre ich diese angenehme Nachricht.«

»Es kündigt sich oft etwas in unserm Innern an«, sagte Goethe. »Dort liegt der Brief, nehmen Sie, setzen Sie sich zu mir her und lesen Sie!«

Ich nahm den Brief, Goethe nahm die Zeitung, und so las ich denn ganz ungestört die königlichen Worte. Der Brief war datiert: Rom, den 26. März 1829, und mit einer stattlichen Hand sehr deutlich geschrieben. Der König meldete Goethen, daß er sich in Rom ein Besitztum gekauft, und zwar die Villa di Malta mit anliegenden Gärten, in der Nähe der Villa Ludovisi, am nordwestlichen Ende der Stadt, auf einem Hügel gelegen, so daß er das ganze Rom überschauen könne und gegen Nordost einen freien Anblick von Sankt Peter habe. »Es ist eine Aussicht,« schreibt er, »welche zu genießen man weit reisen würde, und die ich nun bequem zu jeder Stunde des Tages aus den Fenstern meines Eigentums habe.« Er fährt fort, sich glücklich zu preisen, nun in Rom auf eine so schöne Weise ansässig zu sein. »Ich hatte Rom in zwölf Jahren nicht gesehen,« schreibt er, »ich sehnte mich danach, wie man sich nach einer Geliebten sehnt; von nun an aber werde ich mit der beruhigten Empfindung zurückkehren, wie man zu einer geliebten Freundin geht.« Von den erhabenen Kunstschätzen und Gebäuden spricht er sodann mit der Begeisterung eines Kenners, dem das wahrhaft Schöne und dessen Förderung am Herzen liegt, und der jede Abweichung vom guten Geschmack lebhaft empfindet. Überall war der Brief durchweg so schön und menschlich empfunden und ausgedrückt, wie man es von so hohen Personen nicht erwartet. Ich äußerte meine Freude darüber gegen Goethe.

»Da sehen Sie einen Monarchen,« sagte er, »der neben der königlichen Majestät seine angeborene schöne Menschennatur gerettet hat. Es ist eine seltene Erscheinung und deshalb um so erfreulicher.« Ich sah wieder in den Brief und fand noch einige treffliche Stellen. »Hier in Rom«, schreibt der König, »erhole ich mich von den Sorgen des Thrones; die Kunst, die Natur sind meine täglichen Genüsse, Künstler meine Tischgenossen.« Er schreibt auch, wie er oft an dem Hause vorbeigehe, wo Goethe gewohnt, und wie er dabei seiner gedenke. Aus den ›Römischen Elegien‹ sind einige Stellen angeführt, woraus man sieht, daß der König sie gut im Gedächtnis hat und sie in Rom, an Ort und Stelle, von Zeit zu Zeit wieder lesen mag.

»Ja,« sagte Goethe, »die ›Elegien‹ liebt er besonders; er hat mich hier viel damit geplagt, ich sollte ihm sagen, was an dem Faktum sei, weil es in den Gedichten so anmutig erscheint, als wäre wirklich was Rechtes daran gewesen. Man bedenkt aber selten, daß der Poet meistens aus geringen Anlässen was Gutes zu machen weiß.

Ich wollte nur,« fuhr Goethe fort, »daß des Königs ›Gedichte‹ jetzt da wären, damit ich in meiner Antwort etwas darüber sagen könnte. Nach dem wenigen zu schließen, was ich von ihm gelesen, werden die Gedichte gut sein. In der Form und Behandlung hat er viel von Schiller, und wenn er nun, in so prächtigem Gefäß, uns den Gehalt eines hohen Gemütes zu geben hat, so läßt sich mit Recht viel Treffliches erwarten.

Indessen freue ich mich, daß der König sich in Rom so hübsch angekauft hat. Ich kenne die Villa, die Lage ist sehr schön, und die deutschen Künstler wohnen alle in der Nähe.«

Der Bediente wechselte die Teller, und Goethe sagte ihm, daß er den großen Kupferstich von Rom im Deckenzimmer am Boden ausbreiten möge. »Ich will Ihnen doch zeigen, an welch einem schönen Platz der König sich angekauft hat, damit Sie sich die Lokalität gehörig denken mögen.« Ich fühlte mich Goethen sehr verbunden.

»Gestern abend«, versetzte ich, »habe ich die ›Claudine von Villa Bella‹ gelesen und mich sehr daran erbauet. Es ist so gründlich in der Anlage und so verwegen, locker, frech und froh in der Erscheinung, daß ich den lebhaften Wunsch fühle, es auf dem Theater zu sehen.«

»Wenn es gut gespielt wird,« sagte Goethe, »macht es sich gar nicht schlecht.«

»Ich habe schon in Gedanken das Stück besetzt«, sagte ich, »und die Rollen verteilt. Herr Genast müßte den Rugantino machen, er ist für die Rolle wie geschaffen; Herr Franke den Don Pedro, denn er ist von einem ähnlichen Wuchs, und es ist gut, wenn zwei Brüder sich ein wenig gleich sind; Herr La Roche den Basko, der dieser Rolle durch treffliche Maske und Kunst den wilden Anstrich geben würde, dessen sie bedarf.«

»Madame Eberwein«, fuhr Goethe fort, »dächte ich, wäre eine sehr gute Lucinde, und Demoiselle Schmidt machte die Claudine.«

»Zum Alonzo«, sagte ich, »müßten wir eine stattliche Figur haben, mehr einen guten Schauspieler als Sänger, und ich dächte, Herr Oels oder Herr Graff würden da am Platze sein. Von wem ist denn die Oper komponiert, und wie ist die Musik?«

»Von Reichardt,« antwortete Goethe, »und zwar ist die Musik vortrefflich. Nur ist die Instrumentierung, dem Geschmack der früheren Zeit gemäß, ein wenig schwach. Man müßte jetzt in dieser Hinsicht etwas nachhelfen und die Instrumentierung ein wenig stärker und voller machen. Unser Lied: ›Cupido, loser, eigensinniger Knabe‹ ist dem Komponisten ganz besonders gelungen.«

»Es ist eigen an diesem Liede,« sagte ich, »daß es in eine Art behagliche träumerische Stimmung versetzt, wenn man es sich rezitiert.«

»Es ist aus einer solchen Stimmung hervorgegangen,« sagte Goethe, »und da ist denn auch mit Recht die Wirkung eine solche.«

Wir hatten abgespeist. Friedrich kam und meldete, daß er den Kupferstich von Rom im Deckenzimmer ausgebreitet habe. Wir gingen ihn zu betrachten.

Das Bild der großen Weltstadt lag vor uns; Goethe fand sehr bald die Villa Ludovisi und in der Nähe den neuen Besitz des Königs, die Villa di Malta. »Sehen Sie,« sagte Goethe, »was das für eine Lage ist! Das ganze Rom streckt sich ausgebreitet vor Ihnen hin, der Hügel ist so hoch, daß Sie gegen Mittag und Morgen über die Stadt hinaussehen. Ich bin in dieser Villa gewesen und habe oft den Anblick aus diesen Fenstern genossen. Hier, wo die Stadt jenseit der Tiber gegen Nordost spitz ausläuft, liegt Sankt Peter, und hier der Vatikan in der Nähe. Sie sehen, der König hat aus den Fenstern seiner Villa den Fluß herüber eine freie Ansicht dieser Gebäude. Der lange Weg hier, von Norden herein zur Stadt, kommt aus Deutschland das ist die Porta del Popolo; in einer dieser ersten Straßen zum Tor herein wohnte ich, in einem Eckhause. Man zeigt jetzt ein anderes Gebäude in Rom, wo ich gewohnt haben soll, es ist aber nicht das rechte. Aber es tut nichts; solche Dinge sind im Grunde gleichgültig, und man muß der Tradition ihren Lauf lassen.«

Wir gingen wieder in unser Zimmer zurück. – »Der Kanzler«, sagte ich, »wird sich über den Brief des Königs freuen.«

»Er soll ihn sehen«, sagte Goethe. »Wenn ich in den Nachrichten von Paris die Reden und Debatten in den Kammern lese,« fuhr Goethe fort, »muß ich immer an den Kanzler denken, und zwar, daß er dort recht in seinem Element und an seinem Platz sein würde. Denn es gehört zu einer solchen Stelle nicht allein, daß man gescheit sei, sondern daß man auch den Trieb und die Lust zu reden habe, welches sich doch beides in unserm Kanzler vereinigt. Napoleon hatte auch diesen Trieb zu reden, und wenn er nicht reden konnte, mußte er schreiben oder diktieren. Auch bei Blücher finden wir, daß er gerne redete, und zwar gut und mit Nachdruck, welches Talent er in der Loge ausgebildet hatte. Auch unser Großherzog redete gerne, obgleich er lakonischer Natur war, und wenn er nicht reden konnte, so schrieb er. Er hat manche Abhandlung, manches Gesetz abgefaßt, und zwar meistenteils gut. Nur hat ein Fürst nicht die Zeit und die Ruhe, sich in allen Dingen die nötige Kenntnis des Details zu verschaffen. So hatte er in seiner letzten Zeit noch eine Ordnung gemacht, wie man restaurierte Gemälde bezahlen solle. Der Fall war sehr artig. Denn wie die Fürsten sind, so hatte er die Beurteilung der Restaurationskosten mathematisch auf Maß und Zahlen festgesetzt. Die Restauration, hatte er verordnet, soll fußweise bezahlt werden. Hält ein restauriertes Gemälde zwölf Quadratfuß, so sind zwölf Taler zu zahlen; hält es vier, so zahlet vier. Dies war fürstlich verordnet, aber nicht künstlerisch. Denn ein Gemälde von zwölf Quadratfuß kann in einem Zustande sein, daß es mit geringer Mühe an einem Tage zu restaurieren wäre; ein anderes aber von vier kann sich derart befinden, daß zu dessen Restauration kaum der Fleiß und die Mühe einer ganzen Woche hinreichen. Aber die Fürsten lieben als gute Militärs mathematische Bestimmungen und gehen gerne nach Maß und Zahl großartig zu Werke.«

Ich freute mich dieser Anekdote. Sodann sprachen wir noch manches über Kunst und derartige Gegenstände.

»Ich besitze Handzeichnungen«, sagte Goethe, »nach Gemälden von Raffael und Dominichin, worüber Meyer eine merkwürdige Äußerung gemacht hat, die ich Ihnen doch mitteilen will.

›Die Zeichnungen‹, sagte Meyer, ›haben etwas Ungeübtes, aber man sieht, daß derjenige, der sie machte, ein zartes richtiges Gefühl von den Bildern hatte, die vor ihm waren, welches denn in die Zeichnungen übergegangen ist, so daß sie uns das Original sehr treu vor die Seele rufen. Würde ein jetziger Künstler jene Bilder kopieren, so würde er alles weit besser und vielleicht auch richtiger zeichnen; aber es ist vorauszusagen, daß ihm jene treue Empfindung des Originals fehlen, und daß also seine bessere Zeichnung weit entfernt sein würde, uns von Raffael und Dominichin einen so reinen vollkommenen Begriff zu geben.‹

Ist das nicht ein sehr artiger Fall?« sagte Goethe. »Es könnte ein Ähnliches bei Übersetzungen stattfinden. Voß hat z. B. sicher eine treffliche Übersetzung vom Homer gemacht: aber es wäre zu denken, daß jemand eine naivere, wahrere Empfindung des Originals hätte besitzen und auch wiedergeben können, ohne im ganzen ein so meisterhafter Übersetzer wie Voß zu sein.«

Ich fand dieses alles sehr gut und wahr und stimmte vollkommen bei. Da das Wetter schön und die Sonne noch hoch am Himmel war, so gingen wir ein wenig in den Garten hinab, wo Goethe zunächst einige Baumzweige in die Höhe binden ließ, die zu tief in die Wege herabhingen.

Die gelben Krokus blühten sehr kräftig. Wir blickten auf die Blumen und dann auf den Weg, wo wir denn vollkommen violette Bilder hatten. »Sie meinten neulich,« sagte Goethe, »daß das Grüne und Rote sich gegenseitig besser hervorrufe als das Gelbe und Blaue, indem jene Farben auf einer höheren Stufe ständen und deshalb vollkommener, gesättigter und wirksamer wären als diese. Ich kann das nicht zugeben. Jede Farbe, sobald sie sich dem Auge entschieden darstellt, wirkt zur Hervorrufung der geforderten gleich kräftig; es kommt bloß darauf an, daß unser Auge in der rechten Stimmung, daß ein zu helles Sonnenlicht nicht hindere, und daß der Boden zur Aufnahme des geforderten Bildes nicht ungünstig sei. Überhaupt muß man sich hüten, bei den Farben zu zarte Unterscheidungen und Bestimmungen zu machen, indem man gar zu leicht der Gefahr ausgesetzt wird, vom Wesentlichen ins Unwesentliche, vom Wahren in die Irre und vom Einfachen in die Verwickelung geführt zu werden.«

Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre in meinen Studien. Indessen war die Zeit des Theaters herangerückt, und ich schickte mich an zu gehen. »Sehen Sie zu,« sagte Goethe lachend, indem er mich entließ, »daß Sie die Schrecknisse der ›Dreißig Jahre aus dem Leben eines Spielers‹ heute gut überstehen.«

 


 

Freitag, den 10. April 1829

»In Erwartung der Suppe will ich Ihnen indes eine Erquickung der Augen geben.« Mit diesen freundlichen Worten legte Goethe mir einen Band vor mit Landschaften von Claude Lorrain.

Es waren die ersten, die ich von diesem großen Meister gesehen. Der Eindruck war außerordentlich, und mein Erstaunen und Entzücken stieg, sowie ich ein folgendes und abermals ein folgendes Blatt umwendete. Die Gewalt der schattigen Massen hüben und drüben, nicht weniger das mächtige Sonnenlicht aus dem Hintergrunde hervor in der Luft und dessen Widerglanz im Wasser, woraus denn immer die große Klarheit und Entschiedenheit des Eindrucks hervorging, empfand ich als stets wiederkehrende Kunstmaxime des großen Meisters. So auch hatte ich mit Freude zu bewundern, wie jedes Bild durch und durch eine kleine Welt für sich ausmachte, in der nichts existierte, was nicht der herrschenden Stimmung gemäß war und sie beförderte. War es ein Seehafen mit ruhenden Schiffen, tätigen Fischern und dem Wasser angrenzenden Prachtgebäuden; war es eine einsame dürftige Hügelgegend mit naschenden Ziegen, kleinem Bach und Brücke, etwas Buschwerk und schattigem Baum, worunter ein ruhender Hirte die Schalmei bläst; oder war es eine tiefer liegende Bruchgegend mit stagnierendem Wasser, das bei mächtiger Sommerwärme die Empfindung behaglicher Kühle gibt; immer war das Bild durch und durch eins, nirgends die Spur von etwas Fremdem, das nicht zu diesem Element gehörte.

»Da sehen Sie einmal einen vollkommenen Menschen,« sagte Goethe, »der schön gedacht und empfunden hat und in dessen Gemüt eine Welt lag, wie man sie nicht leicht irgendwo draußen antrifft. Die Bilder haben die höchste Wahrheit, aber keine Spur von Wirklichkeit. Claude Lorrain kannte die reale Welt bis ins kleinste Detail auswendig, und er gebrauchte sie als Mittel, um die Welt seiner schönen Seele auszudrücken. Und das ist eben die wahre Idealität, die sich realer Mittel so zu bedienen weiß, daß das erscheinende Wahre eine Täuschung hervorbringt als sei es wirklich.«

»Ich dächte,« sagte ich, »das wäre ein gutes Wort, und zwar ebenso gültig in der Poesie wie in den bildenden Künsten.«

»Ich sollte meinen«, sagte Goethe.

»Indessen«, fuhr er fort, »wäre es wohl besser, Sie sparten sich den ferneren Genuß des trefflichen Claude zum Nachtisch, denn die Bilder sind wirklich zu gut, um viele davon hintereinander zu sehen.«

»Ich fühle so,« sagte ich, »denn mich wandelt jedesmal eine gewisse Furcht an, wenn ich das folgende Blatt umwenden will. Es ist eine Furcht eigener Art, die ich vor diesem Schönen empfinde, so wie es uns wohl mit einem trefflichen Buche geht, wo gehäufte kostbare Stellen uns nötigen innezuhalten und wir nur mit einem gewissen Zaudern weiter gehen.«

»Ich habe dem König von Bayern geantwortet,« versetzte Goethe nach einer Pause, »und Sie sollen den Brief lesen.«

»Das wird sehr lehrreich für mich sein,« sagte ich, »und ich freue mich dazu.«

»Indes«, sagte Goethe, »steht hier in der ›Allgemeinen Zeitung‹ ein Gedicht an den König, das der Kanzler mir gestern vorlas und das Sie doch auch sehen müssen.«

Goethe gab mir das Blatt, und ich las das Gedicht im stillen.

»Nun, was sagen Sie dazu?« sagte Goethe.

»Es sind die Empfindungen eines Dilettanten,« sagte ich, »der mehr guten Willen als Talent hat und dem die Höhe der Literatur eine gemachte Sprache überliefert, die für ihn tönet und reimet, während er selber zu reden glaubt.«

»Sie haben vollkommen recht,« sagte Goethe, »ich halte das Gedicht auch für ein sehr schwaches Produkt; es gibt nicht die Spur von äußerer Anschauung, es ist bloß mental, und das nicht im rechten Sinne.«

»Um ein Gedicht gut zu machen,« sagte ich, »dazu gehören bekanntlich große Kenntnisse der Dinge, von denen man redet, und wem nicht, wie Claude Lorrain, eine ganze Welt zu Gebote steht, der wird, bei den besten ideellen Richtungen, selten etwas Gutes zutage bringen.«

»Und das Eigene ist,« sagte Goethe, »daß nur das geborene Talent eigentlich weiß, worauf es ankommt, und daß alle übrigen mehr oder weniger in der Irre gehen.«

»Das beweisen die Ästhetiker,« sagte ich, »von denen fast keiner weiß, was eigentlich gelehrt werden sollte, und welche die Verwirrung der jungen Poeten vollkommen machen. Statt vom Realen zu handeln, handeln sie vom Idealen, und statt den jungen Dichter darauf hinzuweisen, was er nicht hat, verwirren sie ihm das, was er besitzt. Wem z. B. von Haus aus einiger Witz und Humor angeboren wäre, wird sicher mit diesen Kräften am besten wirken, wenn er kaum weiß, daß er damit begabt ist; wer aber die gepriesenen Abhandlungen über so hohe Eigenschaften sich zu Gemüte führte, würde sogleich in dem unschuldigen Gebrauch dieser Kräfte gestört und gehindert werden, das Bewußtsein würde diese Kräfte paralysieren, und er würde, statt einer gehofften Förderung, sich unsäglich gehindert sehen.«

»Sie haben vollkommen recht, und es wäre über dieses Kapitel vieles zu sagen.

Ich habe indes«, fuhr er fort, »das neue Epos von Egon Ebert gelesen, und Sie sollen es auch tun, damit wir ihm vielleicht von hier aus ein wenig nachhelfen. Das ist nun wirklich ein recht erfreuliches Talent, aber diesem neuen Gedicht mangelt die eigentliche poetische Grundlage, die Grundlage des Realen. Landschaften, Sonnenauf- und -untergänge, Stellen, wo die äußere Welt die seinige war, sind vollkommen gut und nicht besser zu machen. Das übrige aber, was in vergangenen Jahrhunderten hinauslag, was der Sage angehörte, ist nicht in der gehörigen Wahrheit erschienen, und es mangelt diesem der eigentliche Kern. Die Amazonen und ihr Leben und Handeln sind ins Allgemeine gezogen, in das, was junge Leute für poetisch und romantisch halten und was dafür in der ästhetischen Welt gewöhnlich passiert.«

»Es ist ein Fehler,« sagte ich, »der durch die ganze jetzige Literatur geht. Man vermeidet das spezielle Wahre, aus Furcht, es sei nicht poetisch, und verfällt dadurch in Gemeinplätze.«

»Egon Ebert«, sagte Goethe, »hätte sich sollen an die Überlieferung der Chronik halten, da hätte aus seinem Gedicht etwas werden können. Wenn ich bedenke, wie Schiller die Überlieferung studierte, was er sich für Mühe mit der Schweiz gab, als er seinen ›Tell‹ schrieb, und wie Shakespeare die Chroniken benutzte und ganze Stellen daraus wörtlich in seine Stücke aufgenommen hat, so könnte man einem jetzigen jungen Dichter auch wohl dergleichen zumuten. In meinem ›Clavigo‹ habe ich aus den Memoiren des Beaumarchais ganze Stellen.«

»Es ist aber so verarbeitet,« sagte ich, »daß man es nicht merkt, es ist nicht stoffartig geblieben.«

»So ist es recht,« sagte Goethe, »wenn es so ist.«

Goethe erzählte mir sodann einige Züge von Beaumarchais. »Er war ein toller Christ,« sagte er, »und Sie müssen seine Memoiren lesen. Prozesse waren sein Element, worin es ihm erst eigentlich wohl wurde. Es existieren noch Reden von Advokaten aus einem seiner Prozesse, die zu dem Merkwürdigsten, Talentreichsten und Verwegensten gehören, was je in dieser Art verhandelt worden. Eben diesen berühmten Prozeß verlor Beaumarchais. Als er die Treppe des Gerichtshofes hinabging, begegnete ihm der Kanzler, der hinauf wollte. Beaumarchais sollte ihm ausweichen, allein dieser weigerte sich und bestand darauf, daß jeder zur Hälfte Platz machen müsse. Der Kanzler, in seiner Würde beleidigt, befahl den Leuten seines Gefolges, Beaumarchais auf die Seite zu schieben, welches geschah; worauf denn Beaumarchais auf der Stelle wieder in den Gerichtssaal zurückging und einen Prozeß gegen den Kanzler anhängig machte, den er gewann.«

Ich freute mich über diese Anekdote, und wir unterhielten uns bei Tisch heiter fort über verschiedene Dinge.

»Ich habe meinen ›Zweiten Aufenthalt in Rom‹ wieder vorgenommen,« sagte Goethe, »damit ich ihn endlich los werde und an etwas anderes gehen kann. Meine gedruckte ›Italienische Reise‹ habe ich, wie Sie wissen, ganz aus Briefen redigiert. Die Briefe aber, die ich während meines zweiten Aufenthaltes in Rom geschrieben, sind nicht der Art, um davon vorzüglichen Gebrauch machen zu können; sie enthalten zu viele Bezüge nach Haus, auf meine weimarischen Verhältnisse, und zeigen zu wenig von meinem italienischen Leben. Aber es finden sich darin manche Äußerungen, die meinen damaligen inneren Zustand ausdrücken. Nun habe ich den Plan, solche Stellen auszuziehen und einzeln übereinander zu setzen, und sie so meiner Erzählung einzuschalten, auf welche dadurch eine Art von Ton und Stimmung übergehen wird.« Ich fand dieses vollkommen gut und bestätigte Goethe in dem Vorsatz.

»Man hat zu allen Zeiten gesagt und wiederholt,« fuhr Goethe fort, »man solle trachten, sich selber zu kennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bis jetzt niemand genüget hat und der eigentlich auch niemand genügen soll. Der Mensch ist mit allem seinem Sinnen und Trachten aufs Äußere angewiesen, auf die Welt um ihn her, und er hat zu tun, diese insoweit zu kennen und sich insoweit dienstbar zu machen, als er es zu seinen Zwecken bedarf. Von sich selber weiß er bloß, wenn er genießt oder leidet, und so wird er auch bloß durch Leiden und Freuden über sich belehrt, was er zu suchen oder zu meiden hat. Übrigens aber ist der Mensch ein dunkeles Wesen, er weiß nicht, woher er kommt noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt und am wenigsten von sich selber. Ich kenne mich auch nicht, und Gott soll mich auch davor behüten. Was ich aber sagen wollte, ist dieses, daß ich in Italien in meinem vierzigsten Jahre klug genug war, um mich selber insoweit zu kennen, daß ich kein Talent zur bildenden Kunst habe, und daß diese meine Tendenz eine falsche sei. Wenn ich etwas zeichnete, so fehlte es mir an genugsamem Trieb für das Körperliche; ich hatte eine gewisse Furcht, die Gegenstände auf mich eindringend zu machen, vielmehr war das Schwächere, das Mäßige nach meinem Sinn. Machte ich eine Landschaft und kam ich aus den schwachen Fernen durch die Mittelgründe heran, so fürchtete ich immer, dem Vordergrund die gehörige Kraft zu geben, und so tat denn mein Bild nie die rechte Wirkung. Auch machte ich keine Fortschritte, ohne mich zu üben, und ich mußte immer wieder von vorne anfangen, wenn ich eine Zeitlang ausgesetzt hatte. Ganz ohne Talent war ich jedoch nicht, besonders zu Landschaften, und Hackert sagte sehr oft: ›Wenn Sie achtzehn Monate bei mir bleiben wollen, so sollen Sie etwas machen, woran Sie und andere Freude haben.‹«

Ich hörte dieses mit großem Interesse. »Wie aber«, sagte ich, »soll man erkennen, daß einer zur bildenden Kunst ein wahrhaftes Talent habe?«

»Das wirkliche Talent«, sagte Goethe, »besitzt einen angeborenen Sinn für die Gestalt, die Verhältnisse und die Farbe, so daß es alles dieses unter weniger Anleitung sehr bald und richtig macht. Besonders hat es den Sinn für das Körperliche, und den Trieb, es durch die Beleuchtung handgreiflich zu machen. Auch in den Zwischenpausen der Übung schreitet es fort und wächst im Innern. Ein solches Talent ist nicht schwer zu erkennen, am besten aber erkennt es der Meister.

Ich habe diesen Morgen das Fürstenhaus besucht,« fuhr Goethe sehr heiter fort; »die Zimmer der Großherzogin sind höchst geschmackvoll geraten, und Coudray hat mit seinen Italienern neue Proben großer Geschicklichkeit abgelegt. Die Maler waren an den Wänden noch beschäftigt; es sind ein paar Mailänder; ich redete sie gleich italienisch an und merkte, daß ich die Sprache nicht vergessen hatte. Sie erzählten mir, daß sie zuletzt das Schloß des Königs von Württemberg gemalt, daß sie sodann nach Gotha verschrieben worden, wo sie indes nicht hätten einig werden können; man habe aber zur selben Zeit in Weimar von ihnen erfahren und sie hieher berufen, um die Zimmer der Großherzogin zu dekorieren. Ich hörte und sprach das Italienische einmal wieder gern, denn die Sprache bringt doch eine Art von Atmosphäre des Landes mit. Die guten Menschen sind seit drei Jahren aus Italien heraus; sie wollen aber wie sie sagten, von hier direkt nach Hause eilen, nachdem sie zuvor im Auftrag des Herrn von Spiegel noch eine Dekoration für unser Theater gemalt haben, worüber Ihr wahrscheinlich nicht böse sein werdet. Es sind sehr geschickte Leute; der eine ist ein Schüler des ersten Dekorationsmalers in Mailand, und Ihr könnt also eine gute Dekoration hoffen.«

Nachdem Friedrich den Tisch abgeräumt hatte, ließ Goethe sich einen kleinen Plan von Rom vorlegen. »Für uns andere«, sagte er, »wäre Rom auf die Länge kein Aufenthalt; wer dort bleiben und sich ansiedeln will, muß heiraten und katholisch werden, sonst hält er es nicht aus und hat eine schlechte Existenz. Hackert tat sich nicht wenig darauf zugute, daß er sich als Protestant so lange dort erhalten.«

Goethe zeigte mir sodann auch auf diesem Grundriß die merkwürdigsten Gebäude und Plätze. »Dies«, sagte er, »ist der Farnesische Garten.«

»War es nicht hier,« sagte ich, »wo Sie die Hexenszene des ›Faust‹ geschrieben?«

»Nein,« sagte er, »das war im Garten Borghese.«

Ich erquickte mich darauf ferner an den Landschaften von Claude Lorrain, und wir sprachen noch manches über diesen großen Meister. »Sollte ein jetziger junger Künstler«, sagte ich, »sich nicht nach ihm bilden können?«

»Wer ein ähnliches Gemüt hätte,« antwortete Goethe, »würde ohne Frage sich an Claude Lorrain auf das trefflichste entwickeln. Allein wen die Natur mit ähnlichen Gaben der Seele im Stiche gelassen, würde diesem Meister höchstens nur Einzelnheiten absehen und sich deren nur als Phrase bedienen.«

 


 

Sonnabend, den 11. April 1829

Ich fand heute den Tisch im langen Saale gedeckt, und zwar für mehrere Personen. Goethe und Frau von Goethe empfingen mich sehr freundlich. Es traten nach und nach herein: Madame Schopenhauer, der junge Graf Reinhard von der französischen Gesandtschaft, dessen Schwager Herr von D., auf einer Durchreise begriffen, um gegen die Türken in russische Dienste zu gehen; Fräulein Ulrike und zuletzt Hofrat Vogel.

Goethe war in besonders heiterer Stimmung; er unterhielt die Anwesenden, ehe man sich zu Tisch setzte, mit einigen guten Frankfurter Späßen, besonders zwischen Rothschild und Bethmann, wie der eine dem andern die Spekulationen verdorben.

Graf Reinhard ging an Hof, wir andern setzten uns zu Tisch. Die Unterhaltung war anmutig belebt, man sprach von Reisen, von Bädern, und Madame Schopenhauer interessierte besonders für die Einrichtung ihres neuen Besitzes am Rhein, in der Nähe der Insel Nonnenwerth.

Zum Nachtisch erschien Graf Reinhard wieder, der wegen seiner Schnelle gelobt wurde, womit er während der kurzen Zeit nicht allein bei Hofe gespeist, sondern sich auch zweimal umgekleidet hatte.

Er brachte uns die Nachricht, daß der neue Papst gewählet sei, und zwar ein Castiglione, und Goethe erzählte der Gesellschaft die Förmlichkeiten, die man bei der Wahl herkömmlich beobachtet.

Graf Reinhard der den Winter in Paris gelebt, konnte manche erwünschte Auskunft über bekannte Staatsmänner, Literatoren und Poeten geben. Man sprach über Chateaubriand, Guizot, Salvandy, Béranger, Mérimée und andere.

Nach Tisch und als jedermann gegangen war, nahm Goethe mich in seine Arbeitsstube und zeigte mir zwei höchst merkwürdige Skripta, worüber ich große Freude hatte. Es waren zwei Briefe aus Goethes Jugendzeit, im Jahre 1770 aus Straßburg an seinen Freund Dr. Horn in Frankfurt geschrieben, der eine im Juli, der andere im Dezember. In beiden sprach sich ein junger Mensch aus, der von großen Dingen eine Ahndung hat, die ihm bevorstehen. In dem letzteren zeigten sich schon Spuren vom ›Werther‹; das Verhältnis in Sesenheim ist angeknüpft, und der glückliche Jüngling scheint sich in dem Taumel der süßesten Empfindungen zu wiegen und seine Tage halb träumerisch hinzuschlendern. Die Handschrift der Briefe war ruhig, rein und zierlich, und schon zu dem Charakter entschieden, den Goethes Hand später immer behalten hat. Ich konnte nicht aufhören, die liebenswürdigen Briefe wiederholt zu lesen, und verließ Goethe in der glücklichsten, dankbarsten Empfindung.

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