Sonntag, den 5. April 1829

Goethe erzählte mir, daß er vor Tisch nach Belvedere gefahren sei, um Coudrays neue Treppe im Schloß in Augenschein zu nehmen, die er vortrefflich gefunden. Auch sagte er mir, daß ein großer versteinerter Klotz angekommen, den er mir zeigen wolle.

»Solche versteinerte Stämme«, sagte er, »finden sich unter dem einundfunfzigsten Grade ganz herum bis nach Amerika, wie ein Erdgürtel. Man muß immer mehr erstaunen. Von der früheren Organisation der Erde hat man gar keinen Begriff, und ich kann es Herrn von Buch nicht verdenken, wenn er die Menschen endoktriniert, um seine Hypothesen zu verbreiten. Er weiß nichts, aber niemand weiß mehr, und da ist es denn am Ende einerlei, was gelehrt wird, wenn es nur einigermaßen einen Anschein von Vernunft hat.«

Von Zelter grüßte mich Goethe, welches mir Freude machte. Dann sprachen wir von seiner italienischen Reise, und er sagte mir, daß er in einem seiner Briefe aus Italien ein Lied gefunden, das er mir zeigen wolle. Er bat mich, ihm ein Paket Schriften zu reichen. das mir gegenüber auf dem Pulte lag. Ich gab es ihm, es waren seine Briefe aus Italien; er suchte das Gedicht und las:

Cupido, loser, eigensinniger Knabe!
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden.
Wie viele Tag' und Nächte bist du geblieben!
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden.

Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz ich an der Erde, Nächte gequälet.
Dein Mutwill schüret Flamm' auf Flamme des Herdes,
Verbrennet den Vorrat des Winters und senget mich Armen.

Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben.
Ich such und bin wie blind und irre geworden;
Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte.

Ich freute mich sehr über dies Gedicht, das mir vollkommen neu erschien. »Es kann Ihnen nicht fremd sein,« sagte Goethe, »denn es steht in der ›Claudina von Villa-Bella‹, wo es der Rugantino singt. Ich habe es jedoch dort zerstückelt, so daß man darüber hinauslieset und niemand merkt, was es heißen will. Ich dächte aber, es wäre gut. Es drückt den Zustand artig aus und bleibt hübsch im Gleichnis; es ist in Art der Anakreontischen. Eigentlich hätten wir dieses Lied und ähnliche andere aus meinen Opern unter den ›Gedichten‹ wieder sollen abdrucken lassen, damit der Komponist doch die Lieder beisammen hätte.« Ich fand dieses gut und vernünftig und merkte es mir für die Folge.

Goethe hatte das Gedicht sehr schön gelesen – ich brachte es nicht wieder aus dem Sinne, und auch ihm schien es ferner im Kopfe zu liegen. Die letzten Verse:

Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um dir zu entfliehn, und räumet die Hütte –

sprach er noch mitunter wie im Traume vor sich hin.

Er erzählte mir sodann von einem neuerschienenen Buch über Napoleon, das von einem Jugendbekannten des Helden verfaßt sei und worin man die merkwürdigsten Aufschlüsse erhalte. »Das Buch«, sagte er, »ist ganz nüchtern, ohne Enthusiasmus geschrieben, aber man sieht dabei, welchen großartigen Charakter das Wahre hat, wenn es einer zu sagen wagt.«

Auch von einem Trauerspiele eines jungen Dichters erzählte mir Goethe. »Es ist ein pathologisches Produkt«, sagte er; »die Säfte sind Teilen überflüssig zugeleitet, die sie nicht haben wollen, und andern, die sie bedurft hätten, sind sie entzogen. Das Sujet war gut, sehr gut, aber die Szenen, die ich erwartete, waren nicht da, und andere, die ich nicht erwartete, waren mit Fleiß und Liebe behandelt. Ich dächte, das wäre pathologisch oder auch romantisch, wenn Sie nach unserer neuen Theorie lieber wollen.«

Wir waren darauf noch eine Weile heiter beisammen, und Goethe bewirtete mich zuletzt noch mit vielem Honig, auch mit einigen Datteln, die ich mitnahm.

 


 

Montag, den 6. April 1829

Goethe gab mir einen Brief von Egon Ebert, den ich bei Tische las und der mir Freude machte. Wir sprachen viel Löbliches von Egon Ebert und Böhmen, und gedachten auch des Professors Zauper mit Liebe.

»Das Böhmen ist ein eigenes Land,« sagte Goethe, »ich bin dort immer gerne gewesen. Die Bildung der Literatoren hat noch etwas Reines, welches im nördlichen Deutschland schon anfängt selten zu werden, indem hier jeder Lump schreibt, bei dem an ein sittliches Fundament und eine höhere Absicht nicht zu denken ist.«

Goethe sprach sodann von Egon Eberts neuestem epischen Gedicht, desgleichen von der früheren Weiberherrschaft in Böhmen, und woher die Sage von den Amazonen entstanden.

Dies brachte die Unterhaltung auf das Epos eines anderen Dichters, der sich viel Mühe gegeben, sein Werk in öffentlichen Blättern günstig beurteilt zu sehen. »Solche Urteile«, sagte Goethe, »sind denn auch hier und dort erschienen. Nun aber ist die ›Hallesche Literaturzeitung‹ dahinter gekommen und hat geradezu ausgesprochen, was von dem Gedicht eigentlich zu halten, wodurch denn alle günstigen Redensarten der übrigen Blätter vernichtet worden. Wer jetzt nicht das Rechte will, ist bald entdeckt; es ist nicht mehr die Zeit, das Publikum zum besten zu haben und es in die Irre zu führen.«

»Ich bewundere,« sagte ich, »daß die Menschen um ein wenig Namen es sich so sauer werden lassen, so daß sie selbst zu falschen Mitteln ihre Zuflucht nehmen.«

»Liebes Kind,« sagte Goethe, »ein Name ist nichts Geringes. Hat doch Napoleon eines großen Namens wegen fast die halbe Welt in Stücke geschlagen!«

Es entstand eine kleine Pause im Gespräch. Dann aber erzählte Goethe mir Ferneres von dem neuen Buche über Napoleon. »Die Gewalt des Wahren ist groß«, sagte er. »Aller Nimbus, alle Illusion, die Journalisten, Geschichtsschreiber und Poeten über Napoleon gebracht haben, verschwindet vor der entsetzlichen Realität dieses Buchs; aber der Held wird dadurch nicht kleiner, vielmehr wächst er, so wie er an Wahrheit zunimmt.«

»Eine eigene Zaubergewalt«, sagte ich, »mußte er in seiner Persönlichkeit haben, daß die Menschen ihm sogleich zufielen und anhingen und sich von ihm leiten ließen.«

»Allerdings«, sagte Goethe, »war seine Persönlichkeit eine überlegene. Die Hauptsache aber bestand darin, daß die Menschen gewiß waren, ihre Zwecke unter ihm zu erreichen. Deshalb fielen sie ihm zu, so wie sie es jedem tun, der ihnen eine ähnliche Gewißheit einflößt. Fallen doch die Schauspieler einem neuen Regisseur zu, von dem sie glauben, daß er sie in gute Rollen bringen werde. Dies ist ein altes Märchen, das sich immer wiederholt; die menschliche Natur ist einmal so eingerichtet. Niemand dienet einem andern aus freien Stücken; weiß er aber, daß er damit sich selber dient, so tut er es gerne. Napoleon kannte die Menschen zu gut, und er wußte von ihren Schwächen den gehörigen Gebrauch zu machen.«

Das Gespräch wendete sich auf Zelter. »Sie wissen,« sagte Goethe, »daß Zelter den preußischen Orden bekommen. Nun hatte er aber noch kein Wappen; aber eine große Nachkommenschaft ist da, und somit die Hoffnung auf eine weit hinaus dauernde Familie. Er mußte also ein Wappen haben, damit eine ehrenvolle Grundlage sei, und ich habe den lustigen Einfall gehabt, ihm eins zu machen. Ich schrieb an ihn, und er war es zufrieden; aber ein Pferd wollte er haben. Gut, sagte ich, ein Pferd sollst du haben, aber eins mit Flügeln. Sehen Sie sich einmal um, hinter Ihnen liegt ein Papier, ich habe darauf mit einer Bleifeder den Entwurf gemacht.«

Ich nahm das Blatt und betrachtete die Zeichnung. Das Wappen sah sehr stattlich aus, und die Erfindung mußte ich loben. Das untere Feld zeigte die Turmzinne einer Stadtmauer, um anzudeuten, daß Zelter in früherer Zeit ein tüchtiger Maurer gewesen. Ein geflügeltes Pferd hebt sich dahinter hervor, nach höheren Regionen strebend, wodurch sein Genius und Aufschwung zum Höheren ausgesprochen war. Dem Wappenschilde oben fügte sich eine Lyra auf, über welcher ein Stern leuchtete, als ein Symbol der Kunst, wodurch der treffliche Freund unter dem Einfluß und Schutz günstiger Gestirne sich Ruhm erworben. Unten, dem Wappen an, hing der Orden, womit sein König ihn beglückt und geehrt als Zeichen gerechter Anerkennung großer Verdienste.

»Ich habe es von Facius stechen lassen,« sagte Goethe, »und Sie sollen einen Abdruck sehen. Ist es aber nicht artig, daß ein Freund dem andern ein Wappen macht und ihm dadurch gleichsam den Adel gibt?« Wir freuten uns über den heiteren Gedanken, und Goethe schickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu lassen.

Wir saßen noch eine Weile am Tisch, indem wir zu gutem Biskuit einige Gläser alten Rheinwein tranken. Goethe summte Undeutliches vor sich hin. Mir kam das Gedicht von gestern wieder in den Kopf, ich rezitierte:

Du hast mir mein Gerät verstellt und verschoben;
Ich such und bin wie blind und irre geworden –

»Ich kann das Gedicht nicht wieder loswerden,« sagte ich, »es ist durchaus eigenartig und drückt die Unordnung so gut aus, die durch die Liebe in unser Leben gebracht wird.«

»Es bringt uns einen düsteren Zustand vor Augen«, sagte Goethe.

»Es macht mir den Eindruck eines Bildes,« sagte ich, »eines niederländischen.«

»Es hat so etwas von ›Good man und good wife‹«, sagte Goethe.

»Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,« sagte ich, »denn ich habe schon fortwährend an jenes Schottische denken müssen, und das Bild von Ostade war mir vor Augen.«

»Aber wunderlich ist es,« sagte Goethe, »daß sich beide Gedichte nicht malen lassen; sie geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine ähnliche Stimmung, aber gemalt wären sie nichts.«

»Es sind dieses schöne Beispiele,« sagte ich, »wo die Poesie der Malerei so nahe als möglich tritt, ohne aus ihrer eigentlichen Sphäre zu gehen. Solche Gedichte sind mir die liebsten, indem sie Anschauung und Empfindung zugleich gewähren. Wie Sie aber zu dem Gefühl eines solchen Zustandes gekommen sind, begreife ich kaum; das Gedicht ist wie aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt.«

»Ich werde es auch nicht zum zweiten Male machen,« sagte Goethe, »und wüßte auch nicht zu sagen, wie ich dazu gekommen bin; wie uns denn dieses sehr oft geschieht.«

»Noch etwas Eigenes«, sagte ich, »hat das Gedicht. Es ist mir immer, als wäre es gereimt, und doch ist es nicht so. Woher kommt das?«

»Es liegt im Rhythmus«, sagte Goethe. »Die Verse beginnen mit einem Vorschlag, gehen trochäisch fort, wo denn der Daktylus gegen das Ende eintritt, welcher eigenartig wirkt und wodurch es einen düster klagenden Charakter bekommt.« Goethe nahm eine Bleifeder und teilte so ab:

  –   ◡  –   ◡  –   ◡  –   ◡   ◡  –   ◡ 
Von   |   meinem   |   breiten   |   Lager   |   bin ich ver   |   trieben.

Wir sprachen über Rhythmus im allgemeinen und kamen darin überein, daß sich über solche Dinge nicht denken lasse. »Der Takt«, sagte Goethe, »kommt aus der poetischen Stimmung, wie unbewußt. Wollte man darüber denken, wenn man ein Gedicht macht, man würde verrückt und brächte nichts Gescheites zustande.«

Ich wartete auf den Abdruck des Siegels. Goethe fing an über Guizot zu reden. »Ich gehe in seinen Vorlesungen fort,« sagte er, »und sie halten sich trefflich. Die diesjährigen gehen etwa bis ins achte Jahrhundert. Er besitzt einen Tiefblick und Durchblick, wie er mir bei keinem Geschichtsschreiber größer vorgekommen. Dinge, woran man nicht denkt, erhalten in seinen Augen die größte Wichtigkeit, als Quellen bedeutender Ereignisse. Welchen Einfluß z. B. das Vorwalten gewisser religiöser Meinungen auf die Geschichte gehabt, wie die Lehre von der Erbsünde, von der Gnade, von guten Werken gewissen Epochen eine solche und eine andere Gestalt gegeben, sehen wir deutlich hergeleitet und nachgewiesen. Auch das römische Recht, als ein fortlebendes, das gleich einer untertauchenden Ente sich zwar von Zeit zu Zeit verbirgt, aber nie ganz verloren geht und immer einmal wieder lebendig hervortritt, sehen wir sehr gut behandelt, bei welcher Gelegenheit denn auch unserm trefflichen Savigny volle Anerkennung zuteil wird.

Wie Guizot von den Einflüssen redet, welche die Gallier in früher Zeit von fremden Nationen empfangen, ist mir besonders merkwürdig gewesen, was er von den Deutschen sagt. ›Die Germanen‹, sagt er, ›brachten uns die Idee der persönlichen Freiheit, welche diesem Volke vor allem eigen war.‹ Ist das nicht sehr artig und hat er nicht vollkommen recht, und ist nicht diese Idee noch bis auf den heutigen Tag unter uns wirksam? Die Reformation kam aus dieser Quelle wie die Burschenverschwörung auf der Wartburg, Gescheites wie Dummes. Auch das Buntscheckige unserer Literatur, die Sucht unserer Poeten nach Originalität, und daß jeder glaubt, eine neue Bahn machen zu müssen, sowie die Absonderung und Verisolierung unserer Gelehrten, wo jeder für sich steht und von seinem Punkte aus sein Wesen treibt: alles kommt daher. Franzosen und Engländer dagegen halten weit mehr zusammen und richten sich nacheinander. In Kleidung und Betragen haben sie etwas Übereinstimmendes. Sie fürchten, voneinander abzuweichen, um sich nicht auffallend oder gar lächerlich zu machen. Die Deutschen aber gehen jeder seinem Kopfe nach, jeder sucht sich selber genug zu tun er fragt nicht nach dem andern, denn in jedem lebt, wie Guizot richtig gefunden hat, die Idee der persönlichen Freiheit, woraus denn, wie gesagt, viel Treffliches hervorgeht, aber auch viel Absurdes.«

 


 

Dienstag, den 7. April 1829

Ich fand, als ich hereintrat, Hofrat Meyer, der einige Zeit unpäßlich gewesen, mit Goethe am Tisch sitzen und freute mich, ihn wieder so weit hergestellt zu sehen. Sie sprachen von Kunstsachen, von Peel, der einen Claude Lorrain für viertausend Pfund gekauft, wodurch Peel sich denn besonders in Meyers Gunst gesetzt hatte. Die Zeitungen wurden gebracht, worein wir uns teilten, in Erwartung der Suppe.

Als an der Tagesordnung kam die Emanzipation der Irländer sehr bald zur Erwähnung. »Das Lehrreiche für uns dabei ist,« sagte Goethe, »daß bei dieser Gelegenheit Dinge an den Tag kommen, woran niemand gedacht hat, und die ohne diese Veranlassung nie wären zur Sprache gebracht worden. Recht klar über den irländischen Zustand werden wir aber doch nicht, denn die Sache ist zu verwickelt. So viel aber sieht man, daß dieses Land an Übeln leidet, die durch kein Mittel und also auch nicht durch die Emanzipation gehoben werden können. War es bis jetzt ein Unglück, daß Irland seine Übel alleine trug, so ist es jetzt ein Unglück, daß England mit hineingezogen wird. Das ist die Sache. Und den Katholiken ist gar nicht zu trauen. Man sieht, welchen schlimmen Stand die zwei Millionen Protestanten gegen die Übermacht der fünf Millionen Katholiken bisher in Irland gehabt haben, und wie z. B. arme protestantische Pächter gedrückt, schikaniert und gequält worden, die von katholischen Nachbarn umgeben waren. Die Katholiken vertragen sich unter sich nicht, aber sie halten immer zusammen, wenn es gegen einen Protestanten geht. Sie sind einer Meute Hunden gleich, die sich untereinander beißen, aber, sobald sich ein Hirsch zeigt, sogleich einig sind und in Masse auf ihn losgehen.«

Von den Irländern wendete sich das Gespräch zu den Händeln in der Türkei. Man wunderte sich, wie die Russen, bei ihrer Übermacht, im vorjährigen Feldzuge nicht weiter gekommen. »Die Sache ist die,« sagte Goethe, »die Mittel waren unzulänglich, und deshalb machte man zu große Anforderungen an einzelne, wodurch denn persönliche Großtaten und Aufopferungen geschahen, ohne die Angelegenheit im ganzen zu fördern.«

»Es mag auch ein verwünschtes Lokal sein,« sagte Meyer; »man sieht in den ältesten Zeiten, daß es in dieser Gegend, wenn ein Feind von der Donau her zu dem nördlichen Gebirg eindringen wollte, immer Händel setzte, daß er immer den hartnäckigsten Widerstand gefunden und daß er fast nie hereingekommen ist. Wenn die Russen sich nur die Seeseite offen halten, um sich von dorther mit Proviant versehen zu können!«

»Das ist zu hoffen«, sagte Goethe.

»Ich lese jetzt ›Napoleons Feldzug in Ägypten‹, und zwar was der tägliche Begleiter des Helden, was Bourrienne davon sagt, wo denn das Abenteuerliche von vielen Dingen verschwindet und die Fakta in ihrer nackten erhabenen Wahrheit dastehen. Man sieht, er hatte bloß diesen Zug unternommen, um eine Epoche auszufüllen, wo er in Frankreich nichts tun konnte, um sich zum Herrn zu machen. Er war anfänglich unschlüssig, was zu tun sei; er besuchte alle französischen Häfen an der Küste des Atlantischen Meeres hinunter, um den Zustand der Schiffe zu sehen und sich zu überzeugen, ob eine Expedition nach England möglich oder nicht. Er fand aber, daß es nicht geraten sei, und entschloß sich daher zu dem Zuge nach Ägypten.«

»Ich muß bewundern,« sagte ich, »wie Napoleon bei solcher Jugend mit den großen Angelegenheiten der Welt so leicht und sicher zu spielen wußte, als wäre eine vieljährige Praxis und Erfahrung vorangegangen.«

»Liebes Kind,« sagte Goethe, »das ist das Angeborene des großen Talents. Napoleon behandelte die Welt wie Hummel seinen Flügel; beides erscheint uns wunderbar, wir begreifen das eine so wenig wie das andere, und doch ist es so und geschieht vor unsern Augen. Napoleon war darin besonders groß, daß er zu jeder Stunde derselbige war. Vor einer Schlacht, während einer Schlacht, nach einem Siege, nach einer Niederlage, er stand immer auf festen Füßen und war immer klar und entschieden, was zu tun sei. Er war immer in seinem Element und jedem Augenblick und jedem Zustande gewachsen, so wie es Hummeln gleichviel ist, ob er ein Adagio oder ein Allegro, ob er im Baß oder im Diskant spielt. Das ist die Fazilität, die sich überall findet, wo ein wirkliches Talent vorhanden ist, in Künsten des Friedens wie des Krieges, am Klavier wie hinter den Kanonen.«

Man sieht aber an diesem Buch,« fuhr Goethe fort, »wie viele Märchen uns von seinem ägyptischen Feldzuge erzählet worden. Manches bestätiget sich zwar, allein vieles gar nicht, und das meiste ist anders.

Daß er die achthundert türkischen Gefangenen hat erschießen lassen, ist wahr; aber es erscheint als reifer Beschluß eines langen Kriegsrates, indem nach Erwägung aller Umstände kein Mittel gewesen ist, sie zu retten.

Daß er in die Pyramiden soll hinabgestiegen sein, ist ein Märchen. Er ist hübsch außerhalb stehen geblieben und hat sich von den andern erzählen lassen, was sie unten gesehen.

So auch verhält sich die Sage, daß er orientalisches Kostüm angelegt, ein wenig anders. Er hat bloß ein einziges Mal im Hause diese Maskerade gespielt und ist so unter den Seinigen erschienen, zu sehen, wie es ihn kleide. Aber der Turban hat ihm nicht gestanden, wie er denn allen länglichen Köpfen nicht steht, und so hat er dieses Kostüm nie wieder angelegt. Die Pestkranken aber hat er wirklich besucht, und zwar um ein Beispiel zu geben, daß man die Pest überwinden könne, wenn man die Furcht zu überwinden fähig sei. Und er hat recht! Ich kann aus meinem eigenen Leben ein Faktum erzählen, wo ich bei einem Faulfieber der Ansteckung unvermeidlich ausgesetzt war und wo ich bloß durch einen entschiedenen Willen die Krankheit von mir abwehrte. Es ist unglaublich, was in solchen Fällen der moralische Wille vermag. Er durchdringt gleichsam den Körper und setzt ihn in einen aktiven Zustand, der alle schädlichen Einflüsse zurückschlägt. Die Furcht dagegen ist ein Zustand träger Schwäche und Empfänglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns Besitz zu nehmen. Das kannte Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte, seiner Armee ein imposantes Beispiel zu geben.

Aber«, fuhr Goethe sehr heiter scherzend fort, »habt Respekt! Napoleon hatte in seiner Feldbibliothek was für ein Buch? – meinen ›Werther‹!«

»Daß er ihn gut studiert gehabt,« sagte ich, »sieht man bei seinem Lever in Erfurt.«

»Er hatte ihn studiert wie ein Kriminalrichter seine Akten,« sagte Goethe, »und in diesem Sinne sprach er auch mit mir darüber.

Es findet sich in dem Werke des Herrn Bourrienne eine Liste der Bücher, die Napoleon in Ägypten bei sich geführt, worunter denn auch der ›Werther‹ steht. Das Merkwürdige an dieser Liste aber ist, wie die Bücher unter verschiedenen Rubriken klassifiziert werden. Unter der Aufschrift ›Politique‹ z. B. finden wir aufgeführt: ›Le vieux testament‹, ›Le nouveau testament‹, ›Le coran‹ woraus man sieht, aus welchem Gesichtspunkt Napoleon die religiösen Dinge angesehen.«

Goethe erzählte uns noch manches Interessante aus dem Buche, das ihn beschäftigte. Unter andern auch kam zur Sprache, wie Napoleon mit der Armee an der Spitze des Roten Meeres zur Zeit der Ebbe durch einen Teil des trockenen Meerbettes gegangen, aber von der Flut eingeholt worden sei, so daß die letzte Mannschaft bis unter die Arme im Wasser habe waten müssen und es also mit diesem Wagestück fast ein pharaonisches Ende genommen hätte. Bei dieser Gelegenheit sagte Goethe manches Neue über das Herankommen der Flut. Er verglich es mit den Wolken, die uns nicht aus weiter Ferne kommen, sondern die an allen Orten zugleich entstehen und sich überall gleichmäßig fortschieben.

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