Montag, den 1. März 1830

Bei Goethe zu Tisch mit Hofrat Voigt aus Jena. Die Unterhaltung geht um lauter naturhistorische Gegenstände, wobei Hofrat Voigt die vielseitigsten Kenntnisse entwickelt. Goethe erzählt, daß er einen Brief erhalten mit der Einwendung, daß die Kotyledonen keine Blätter seien, und zwar, weil sie kein Auge hinter sich hätten. Wir überzeugen uns aber an verschiedenen Pflanzen, daß die Kotyledonen allerdings Augen hinter sich haben, so gut wie jedes folgende Blatt. Voigt sagt, daß das Aperçu von der Metamorphose der Pflanze eine der fruchtbarsten Entdeckungen sei, welche die neuere Zeit im Fache der Naturforschung erfahren.

Wir reden über Sammlungen ausgestopfter Vögel, wobei Goethe erzählt, daß ein Engländer mehrere Hunderte lebendiger Vögel in großen Behältern gefüttert habe. Von diesen seien einige gestorben, und er habe sie ausstopfen lassen. Diese ausgestopften hätten ihm nun so gefallen, daß ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht besser sei, sie alle totschlagen und ausstopfen zu lassen; welchen Gedanken er denn auch alsobald ausgeführt habe.

Hofrat Voigt erzählt, daß er im Begriff sei, Cuviers ›Naturgeschichte‹ in fünf Bänden zu übersetzen und mit Ergänzungen und Erweiterungen herauszugeben.

Nach Tische, als Voigt gegangen war, zeigt Goethe mir das Manuskript seiner ›Walpurgisnacht‹, und ich bin erstaunt über die Stärke, zu der es in den wenigen Wochen herangewachsen.

 


 

Mittwoch, den 3. März 1830

Mit Goethe vor Tisch spazieren gefahren. Er spricht günstig über mein Gedicht in bezug auf den König von Bayern, indem er bemerkt, daß Lord Byron vorteilhaft auf mich gewirkt. Mir fehle jedoch noch dasjenige, was man Konvenienz heiße, worin Voltaire so groß gewesen. Diesen wolle er mir zum Muster vorschlagen.

Darauf bei Tisch reden wir viel über Wieland, besonders über den ›Oberon‹, und Goethe ist der Meinung, daß das Fundament schwach sei und der Plan vor der Ausführung nicht gehörig gegründet worden. Daß zur Herbeischaffung der Barthaare und Backenzähne ein Geist benutzt werde, sei gar nicht wohl erfunden, besonders weil der Held sich dabei ganz untätig verhalte. Die anmutige, sinnliche und geistreiche Ausführung des großen Dichters aber mache das Buch dem Leser so angenehm, daß er an das eigentliche Fundament nicht weiter denke und darüber hinauslese.

Wir reden fort über viele Dinge, und so kommen wir auch wieder auf die Entelechie. »Die Hartnäckigkeit des Individuums, und daß der Mensch abschüttelt, was ihm nicht gemäß ist,« sagte Goethe, »ist mir ein Beweis, daß so etwas existiere.« Ich hatte seit einigen Minuten dasselbige gedacht und sagen wollen, und so war es mir doppelt lieb, daß Goethe es aussprach. »Leibniz«, fuhr er fort, »hat ähnliche Gedanken über solche selbständige Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.«

Ich nahm mir vor, das Weitere darüber in Leibniz an Ort und Stelle nachzulesen.

 


 

Sonntag, den 7. März 1830

Um zwölf Uhr zu Goethe, den ich heute besonders frisch und kräftig fand. Er eröffnete mir, daß er seine ›Klassische Walpurgisnacht‹ habe zurücklegen müssen, um die letzte Lieferung fertig zu machen. »Hiebei aber«, sagte er, »bin ich klug gewesen, daß ich aufgehört habe, wo ich noch in gutem Zuge war und noch viel bereits Erfundenes zu sagen hatte. Auf diese Weise läßt sich viel leichter wieder anknüpfen, als wenn ich so lange fortgeschrieben hätte, bis es stockte.« Ich merkte mir dieses als eine gute Lehre.

Es war die Absicht gewesen, vor Tisch eine Spazierfahrt zu machen; allein wir fanden es beiderseits so angenehm im Zimmer, daß die Pferde abbestellt wurden.

Unterdessen hatte der Bediente Friedrich eine große von Paris angekommene Kiste ausgepackt. Es war eine Sendung vom Bildhauer David, in Gips abgegossene Porträts, Basreliefs, von siebenundfunfzig berühmten Personen. Friedrich trug die Abgüsse in verschiedenen Schiebläden herein, und es gab große Unterhaltung, alle die interessanten Persönlichkeiten zu betrachten. Besonders erwartungsvoll war ich auf Mérimée; der Kopf erschien so kräftig und verwegen wie sein Talent, und Goethe bemerkte, daß er etwas Humoristisches habe. Victor Hugo, Alfred de Vigny, Emile Deschamps zeigten sich als reine, freie, heitere Köpfe. Auch erfreuten uns die Porträts der Demoiselle Gay, der Madame Tastu und anderer junger Schriftstellerinnen. Das kräftige Bild von Fabvier erinnerte an Menschen früherer Jahrhunderte, und wir hatten Genuß, es wiederholt zu betrachten. So gingen wir von einer bedeutenden Person zur andern, und Goethe konnte nicht umhin, wiederholt zu äußern, daß er durch diese Sendung von David einen Schatz besitze, wofür er dem trefflichen Künstler nicht genug danken könne. Er werde nicht unterlassen, diese Sammlung Durchreisenden vorzuzeigen und sich mündlich über einzelne ihm noch unbekannte Personen unterrichten zu lassen.

Auch Bücher waren in der Kiste verpackt gewesen, die er in die vorderen Zimmer tragen ließ, wohin wir folgten und uns zu Tisch setzten. Wir waren heiter und sprachen von Arbeiten und Vorsätzen hin und her. »Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei,« sagte Goethe, »und besonders nicht, daß er alleine arbeite; vielmehr bedarf er der Teilnahme und Anregung, wenn etwas gelingen soll. Ich verdanke Schillern die ›Achilleïs‹ und viele meiner Balladen, wozu er mich getrieben, und Sie können es sich zurechnen, wenn ich den zweiten Teil des ›Faust‹ zustande bringe. Ich habe es Ihnen schon oft gesagt, aber ich muß es wiederholen, damit Sie es wissen.« Ich freute mich dieser Worte, im Gefühl, daß daran viel Wahres sein möge.

Beim Nachtisch öffnete Goethe eins der Pakete. Es waren die Gedichte von Emile Deschamps, begleitet von einem Brief, den Goethe mir zu lesen gab. Hier sah ich nun zu meiner Freude, welcher Einfluß Goethen auf das neue Leben der französischen Literatur zugestanden wird, und wie die jungen Dichter ihn als ihr geistiges überhaupt verehren und lieben. So hatte in Goethes Jugend Shakespeare gewirkt. Von Voltaire läßt sich nicht sagen, daß er auf junge Poeten des Auslandes einen Einfluß der Art gehabt, daß sie sich in seinem Geist versammelten und ihn als ihren Herrn und Meister erkannten. Überall war der Brief von Emile Deschamps mit sehr liebenswürdiger herzlicher Freiheit geschrieben. »Man blickt in den Frühling eines schönen Gemüts«, sagte Goethe.

Ferner befand sich unter der Sendung von David ein Blatt mit dem Hute Napoleons in den verschiedensten Stellungen. »Das ist etwas für meinen Sohn«, sagte Goethe, und sendete das Blatt schnell hinauf. Es verfehlte auch seine Wirkung nicht, indem der junge Goethe sehr bald herunterkam und voller Freude diese Hüte seines Helden für das Nonplusultra seiner Sammlung erklärte. Ehe fünf Minuten vergingen, befand sich das Bild unter Glas und Rahmen und an seinem Ort, unter den übrigen Attributen und Denkmälern des Helden.

 


 

Dienstag, den 16. März 1830

Morgens besucht mich Herr von Goethe und eröffnet mir, daß seine lange beabsichtigte Reise nach Italien entschieden, daß von seinem Vater die nötigen Gelder bewilligt worden, und daß er wünsche, daß ich mitgehe. Wir freuen uns gemeinschaftlich über diese Nachricht und bereden viel wegen der Vorbereitung.

Als ich darauf gegen Mittag bei Goethes Hause vorbeigehe, winkt Goethe mir am Fenster, und ich bin schnell zu ihm hinauf. Er ist in den vorderen Zimmern und sehr heiter und frisch. Er fängt sogleich an, von der Reise seines Sohnes zu reden, daß er sie billige, sie vernünftig finde und sich freue, daß ich mitgehe. »Es wird für euch beide gut sein,« sagte er, »und Ihre Kultur insbesondere wird sich nicht schlecht dabei befinden.«

Er zeigt mir sodann einen Christus mit zwölf Aposteln, und wir reden über das Geistlose solcher Figuren als Gegenstände der Darstellung für den Bildhauer. »Der eine Apostel«, sagte Goethe, »ist immer ungefähr wie der andere, und die wenigsten haben Leben und Taten hinter sich, um ihnen Charakter und Bedeutung zu geben. Ich habe mir bei dieser Gelegenheit den Spaß gemacht, einen Zyklus von zwölf biblischen Figuren zu erfinden, wo jede bedeutend, jede anders, und daher jede ein dankbarer Gegenstand für den Künstler ist.

Zuerst Adam, der schönste Mann, so vollkommen, wie man sich ihn nur zu denken fähig ist. Er mag die eine Hand auf einen Spaten legen, als ein Symbol, daß der Mensch berufen sei, die Erde zu bauen.

Nach ihm Noah, womit wieder eine neue Schöpfung angeht. Er kultiviert den Weinstock, und man kann dieser Figur etwas von einem indischen Bacchus geben.

Nächst diesem Moses, als ersten Gesetzgeber.

Sodann David, als Krieger und König.

Auf diesen Jesaias, ein Fürst und Prophet.

Daniel sodann, der auf Christus, den künftigen, hindeutet.

Christus.

Ihm zunächst Johannes, der den gegenwärtigen liebt. Und so wäre denn Christus von zwei jugendlichen Figuren eingeschlossen, von denen der eine (Daniel) sanft und mit langen Haaren zu bilden wäre, der andere (Johannes) leidenschaftlich, mit kurzem Lockenhaar. Nun, auf den Johannes, wer kommt?

Der Hauptmann von Kapernaum, als Repräsentant der Gläubigen, eine unmittelbare Hülfe Erwartenden.

Auf diesen die Magdalena, als Symbol der reuigen, der Vergebung bedürfenden, der Besserung sich zuwendenden Menschheit. In welchen beiden Figuren der Inbegriff des Christentums enthalten wäre.

Dann mag Paulus folgen, welcher die Lehre am kräftigsten verbreitet hat.

Auf diesen Jakobus, der zu den entferntesten Völkern ging und die Missionäre repräsentiert.

Petrus machte den Schluß. Der Künstler müßte ihn in die Nähe der Tür stellen und ihm einen Ausdruck geben, als ob er die Hereintretenden forschend betrachte, ob sie denn auch wert seien, das Heiligtum zu betreten.

Was sagen Sie zu diesem Zyklus? Ich dächte, er wäre reicher als die zwölf Apostel, wo jeder aussieht wie der andere. Den Moses und die Magdalene würde ich sitzend bilden.«

Ich war sehr glücklich, dieses alles zu hören, und bat Goethe, daß er es zu Papier bringen möge, welches er mir versprach. »Ich will es noch alles durchdenken«, sagte er, »und es dann nebst andern neuesten Dingen Ihnen zum neununddreißigsten Band geben.«

 


 

Mittwoch, den 17. März 1830

Mit Goethe zu Tisch. Ich sprach mit ihm über eine Stelle in seinen Gedichten, ob es heißen müsse: »Wie es dein Priester Horaz in der Entzückung verhieß«, wie in allen älteren Ausgaben steht; oder: »Wie es dein Priester Properz etc.« welches die neue Ausgabe hat.

»Zu dieser letzteren Lesart«, sagte Goethe, »habe ich mich durch Göttling verleiten lassen. Priester Properz klingt zudem schlecht, und ich bin daher für die frühere Lesart.«

»So«, sagte ich, »stand auch in dem Manuskript Ihrer ›Helena‹, daß Theseus sie entführet als ein zehenjährig schlankes Reh. Auf Göttlings Einwendungen dagegen haben Sie nun drucken lassen: ein siebenjährig schlankes Reh, welches gar zu jung ist, sowohl für das schöne Mädchen als für die Zwillingsbrüder Kastor und Pollux, die sie befreien. Das Ganze liegt ja so in der Fabelzeit, daß niemand sagen kann, wie alt sie eigentlich war, und zudem ist die ganze Mythologie so versatil, daß man die Dinge brauchen kann, wie es am bequemsten und hübschesten ist.«

»Sie haben recht,« sagte Goethe; »ich bin auch dafür, daß sie zehn Jahr alt gewesen sei, als Theseus sie entführet, und ich habe daher auch später geschrieben: vom zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt. In der künftigen Ausgabe mögt Ihr daher aus dem siebenjährigen Reh immer wieder ein zehnjähriges machen.«

Zum Nachtisch zeigte Goethe mir zwei frische Hefte von Neureuther, nach seinen Balladen, und wir bewunderten vor allem den freien heitern Geist des liebenswürdigen Künstlers.

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