Dienstag, den 15. März 1831

Ich beschäftige mich den ganzen Morgen mit dem Manuskript des vierten Bandes von ›Wahrheit und Dichtung‹ und schreibe darüber folgende Notiz an Goethe:

Das zweite, vierte und fünfte Buch sind als vollendet anzusehen, bis auf einige Kleinigkeiten, die bei einer letzten Durchsicht sehr leicht werden abzutun sein.

Über das erste und dritte Buch folgen hier einige Bemerkungen.

 
Erstes Buch

Die Erzählung von Junos verunglückter Augenkur ist von so ernster Bedeutung, daß es die Menschen auf innere tiefe Betrachtungen führt und daß, wenn in Gesellschaft erzählt, darauf sicherlich eine Pause im Gespräch entstehen würde. Ich rate daher, das erste Buch damit zu schließen, damit auch auf solche Weise eine Art von Pause eintrete.

Die artigen Anekdoten vom Feuer in der Judengasse und Schlittschuhlaufen im roten Sammetpelz der Mutter, die jetzt am Ende des ersten Buches liegen und da nicht an passender Stelle sind, würden sehr schicklich dort zu verknüpfen sein, wo von dem bewußtlosen, ganz unvorbedachten poetischen Produzieren die Rede ist. Denn jene Fälle deuten auf einen ähnlichen glücklichen Zustand des Gemüts, das auch handelnd sich nicht lange fragt und besinnt, was zu tun sei, sondern schon getan hat, ehe noch der Gedanke kommt.

Drittes Buch

Dieses würde nach der Verabredung dasjenige aufnehmen, was über den äußeren politischen Zustand von 1775 sowie über den inneren von Deutschland, die Bildung des Adels usw., noch zu diktieren sein möchte.

Was über ›Hanswursts Hochzeit‹ sowie über andere zustande gekommene und nicht zustande gekommene poetische Unternehmungen zu sagen wäre, könnte, im Fall es sich in dem bereits sehr starken vierten Buche nicht besser anschlösse oder vielleicht gar dort den sehr gut verknüpften Zusammenhang unterbräche, sich gleichfalls diesem dritten Buche anfügen.

Ich habe alle Schemata und Fragmente zu diesem Zweck im dritten Buche zusammengelegt und wünsche nun Glück und Neigung, auch dieses noch Fehlende mit frischem Geist und gewohnter Anmut zu diktieren.

E.

 

Mittags zu Tisch mit dem Prinzen und Herrn Soret. Wir reden viel über Courier und sodann über den Schluß von Goethes Novelle, wobei ich die Bemerkung mache, daß Gehalt und Kunst darin viel zu hoch stehen, als daß die Menschen wüßten, was sie damit anzufangen haben. Man will immer wieder hören und wieder sehen, was man schon einmal gehört und gesehen hat; und wie man gewohnt ist, die Blume Poesie in durchaus poetischen Gefilden anzutreffen, so ist man in diesem Falle erstaunt, sie aus einem durchaus realen Boden hervorwachsen zu sehen. In der poetischen Region läßt man sich alles gefallen und ist kein Wunder zu unerhört, als daß man es nicht glauben möchte, hier aber in diesem hellen Lichte des wirklichen Tages macht uns das Geringste stutzen, was nur ein weniges vom gewöhnlichen Gange der Dinge abweicht, und von tausend Wundern umgeben, an die wir gewohnt sind, ist uns ein einziges unbequem, das uns bis jetzt neu war. Auch fällt es dem Menschen durchaus nicht schwer, an Wunder einer früheren Zeit zu glauben; allein einem Wunder, das heute geschieht, eine Art von Realität zu geben und es neben dem sichtbar Wirklichen als eine höhere Wirklichkeit zu verehren, dieses scheint nicht mehr im Menschen zu liegen, oder wenn es in ihm liegt, durch Erziehung ausgetrieben zu werden. Unser Jahrhundert wird daher auch immer prosaischer werden, und es wird, mit der Abnahme des Verkehrs und Glaubens an das Übersinnliche, alle Poesie auch immer mehr verschwinden.

Zu dem Schluß von Goethes Novelle wird im Grunde weiter nichts verlangt als die Empfindung, daß der Mensch von höheren Wesen nicht ganz verlassen sei, daß sie ihn vielmehr im Auge haben, an ihm teilnehmen und in der Not ihm helfend zur Seite sind.

Dieser Glaube ist etwas so Natürliches, daß er zum Menschen gehört, daß er einen Bestandteil seines Wesens ausmacht und, als das Fundament aller Religion, allen Völkern angeboren ist. In den ersten menschlichen Anfängen zeigt er sich stark; er weicht aber auch der höchsten Kultur nicht, so daß wir ihn unter den Griechen noch groß in Plato sehen und zuletzt noch ebenso glänzend in dem Verfasser von ›Daphnis und Chloe‹. In diesem liebenswürdigen Gedicht waltet das Göttliche unter der Form von Pan und den Nymphen, die an frommen Hirten und Liebenden teilnehmen, welche sie am Tage schützen und retten, und denen sie nachts im Traum erscheinen und ihnen sagen, was zu tun sei. In Goethes Novelle ist dieses behütende Unsichtbare unter der Form des Ewigen und der Engel gedacht, die einst in der Grube unter grimmigen Löwen den Propheten bewahrten und die hier in der Nähe eines ähnlichen Ungeheuers ein gutes Kind schützend umgeben. Der Löwe zerreißt den Knaben nicht, er zeigt sich vielmehr sanft und willig; denn die in alle Ewigkeit fort tätigen höheren Wesen sind vermittelnd im Spiele.

Damit aber dieses einem ungläubigen neunzehnten Jahrhundert nicht zu wunderbar erscheine, so benutzt der Dichter noch ein zweites mächtiges Motiv, nämlich das der Musik, deren magische Gewalt die Menschen von den ältesten Zeiten her empfunden haben, und von der auch wir uns noch täglich beherrschen lassen, ohne zu wissen, wie uns geschieht.

Und wie nun Orpheus durch eine solche Magie alle Tiere des Waldes zu sich heranzog, und in dem letzten griechischen Dichter ein junger Hirt mit seiner Flöte die Ziegen leitet, so daß sie auf verschiedene Melodien sich zerstreuen und versammeln, vor dem Feind fliehen und ruhig hinweiden, so übt auch in Goethes Novelle die Musik auf den Löwen ihre Macht aus, indem das gewaltige Tier den Melodien der süßen Flöte nachgeht und überall folget, wohin die Unschuld des Knaben ihn leiten will.

Indem ich nun über so unerklärliche Dinge mit verschiedenen Leuten gesprochen, habe ich die Bemerkung gemacht, daß der Mensch von seinen trefflichen Vorzügen so sehr eingenommen ist, daß er sie den Göttern beizulegen gar kein Bedenken trägt, allein den Tieren daran einen Anteil zu vergönnen sich nicht gerne entschließen mag.

 


 

Mittwoch, den 16. März 1831

Mit Goethe zu Tisch, dem ich das Manuskript vom vierten Band seines ›Lebens‹ zurückbringe und darüber mancherlei Gespräche habe.

Wir reden auch über den Schluß des ›Tell‹, und ich gebe mein Verwundern zu erkennen, wie Schiller den Fehler habe machen können, seinen Helden durch das unedle Benehmen gegen den flüchtigen Herzog von Schwaben so herabsinken zu lassen, indem er über diesen ein hartes Gericht hält, während er sich selbst mit seiner eigenen Tat brüstet.

»Es ist kaum begreiflich,« sagte Goethe; »allein Schiller war dem Einfluß von Frauen unterworfen wie andere auch, und wenn er in diesem Fall so fehlen konnte, so geschah es mehr aus solchen Einwirkungen als aus seiner eigenen guten Natur.«

 


 

Freitag, den 18. März 1831

Mit Goethe zu Tisch. Ich bringe ihm ›Daphnis und Chloe‹, welches er einmal wieder zu lesen wünscht.

Wir reden über höhere Maximen, und ob es gut und ob es möglich sei, sie anderen Menschen zu überliefern. »Die Anlage, das Höhere aufzunehmen,« sagte Goethe, »ist sehr selten, und man tut daher im Gewöhnlichen Leben immer wohl, solche Dinge für sich zu behalten und davon nur so viel hervorzukehren, als nötig ist, um gegen die andern in einiger Avantage zu sein.«

Wir berühren sodann den Punkt, daß viele Menschen, besonders Kritiker und Poeten, das eigentlich Große ganz ignorieren und dagegen auf das Mittlere einen außerordentlichen Wert legen.

»Der Mensch«, sagte Goethe, »erkennet nur das an und preiset nur das, was er selber zu machen fähig ist; und da nun gewisse Leute in dem Mittleren ihre eigentliche Existenz haben, so gebrauchen sie den Pfiff, daß sie das wirklich Tadelnswürdige in der Literatur, was jedoch immer einiges Gute haben mag, durchaus schelten und ganz tief herabsetzen, damit das Mittlere, was sie anpreisen, auf einer desto größeren Höhe erscheine.«

Ich merke mir dieses, damit ich wissen möchte, was ich von dergleichen Verfahren künftig zu denken.

Wir sprachen sodann von der ›Farbenlehre‹, und daß gewisse deutsche Professoren noch immer fortfahren, ihre Schüler davor als vor einem großen Irrtum zu warnen.

»Es tut mir nur um manchen guten Schüler leid,« sagte Goethe; »mir selbst aber kann es völlig einerlei sein, denn meine Farbenlehre ist so alt wie die Welt und wird auf die Länge nicht zu verleugnen und beiseite zu bringen sein.«

Goethe erzählte mir sodann, daß er mit seiner neuen Ausgabe der ›Metamorphose der Pflanzen‹ und Sorets immer besser gelingenden Übersetzung gut fortschreite. »Es wird ein merkwürdiges Buch werden,« sagte er, »indem darin die verschiedensten Elemente zu einem Ganzen verarbeitet werden. Ich lasse darin einige Stellen von bedeutenden jungen Naturforschern eintreten, wobei es erfreulich ist zu sehen, daß sich jetzt in Deutschland unter den Besseren ein so guter Stil gebildet hat, daß man nicht mehr weiß, ob der eine redet oder der andere. Das Buch macht mir indes mehr Mühe, als ich dachte; auch bin ich anfangs fast wider Willen in das Unternehmen hereingezogen, allein es herrschte dabei etwas Dämonisches ob, dem nicht zu widerstehen war.«

»Sie haben wohl getan,« sagte ich, »solchen Einwirkungen nachzugeben, denn das Dämonische scheint so mächtiger Natur zu sein, daß es am Ende doch recht behält.«

»Nur muß der Mensch«, versetzte Goethe, »auch wiederum gegen das Dämonische recht zu behalten suchen, und ich muß in gegenwärtigem Fall dahin trachten, durch allen Fleiß und Mühe meine Arbeit so gut zu machen, als in meinen Kräften steht und die Umstände es mir anbieten. Es ist in solchen Dingen wie mit dem Spiel, was die Franzosen Codille nennen, wobei zwar die geworfenen Würfel viel entscheiden, allein wo es der Klugheit des Spielenden überlassen bleibt, nun auch die Steine im Brett geschickt zu setzen.«

Ich verehrte dieses gute Wort und nahm es als eine treffliche Lehre an mein Herz, um danach zu handeln.

 


 

Sonntag, den 20. März 1831

Goethe erzählte mir bei Tisch, daß er in diesen Tagen ›Daphnis und Chloe‹ gelesen.

»Das Gedicht ist so schön,« sagte er, »daß man den Eindruck davon, bei den schlechten Zuständen, in denen man lebt, nicht in sich behalten kann und daß man immer von neuem erstaunt, wenn man es wieder liest. Es ist darin der helleste Tag, und man glaubt lauter herkulanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hülfe kommen.«

»Mir hat«, sagte ich, »eine gewisse Abgeschlossenheit sehr wohl getan, worin alles gehalten ist. Es kommt kaum eine fremde Anspielung vor, die uns aus dem glücklichen Kreise herausführte. Von Gottheiten sind bloß Pan und Nymphen wirksam, eine andere wird kaum genannt, und man sieht auch, daß das Bedürfnis der Hirten an diesen Gottheiten genug hat.«

»Und doch, bei aller mäßigen Abgeschlossenheit«, sagte Goethe, »ist darin eine vollständige Welt entwickelt. Wir sehen Hirten aller Art, Feldbautreibende, Gärtner, Winzer, Schiffer, Räuber, Krieger und vornehme Städter, große Herren und Leibeigene.«

»Auch erblicken wir darin«, sagte ich, »den Menschen auf allen seinen Lebensstufen, von der Geburt herauf bis ins Alter; auch alle häuslichen Zustände, wie die wechselnden Jahreszeiten sie mit sich führen, gehen an unseren Augen vorüber.«

»Und nun die Landschaft!« sagte Goethe, »die mit wenigen Strichen so entschieden gezeichnet ist, daß wir in der Höhe hinter den Personen Weinberge, Äcker und Obstgärten sehen, unten die Weideplätze mit dem Fluß und ein wenig Waldung, sowie das ausgedehnte Meer in der Ferne. Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste reinste Himmel, die anmutigste Luft und ein beständig trockener Boden, so daß man sich überall nackend hinlegen möchte.

Das ganze Gedicht«, fuhr Goethe fort, »verrät die höchste Kunst und Kultur. Es ist so durchdacht, daß darin kein Motiv fehlt und alle von der gründlichsten besten Art sind, wie z. B. das von dem Schatz bei dem stinkenden Delphin am Meeresufer. Und ein Geschmack und eine Vollkommenheit und Delikatesse der Empfindung, die sich dem Besten gleichstellt, das je gemacht worden! Alles Widerwärtige, was von außen in die glücklichen Zustände des Gedichts störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg, ist immer auf das schnellste abgetan und hinterläßt kaum eine Spur. Sodann das Laster erscheint im Gefolg der Städter, und zwar auch dort nicht in den Hauptpersonen, sondern in einer Nebenfigur, in einem Untergebenen. Das ist alles von der ersten Schönheit.«

»Und dann«, sagte ich, »hat mir so wohl gefallen, wie das Verhältnis der Herren und Diener sich ausspricht. In ersteren die humanste Behandlung, und in letzteren, bei aller naiven Freiheit, doch der große Respekt und das Bestreben, sich bei dem Herrn auf alle Weise in Gunst zu setzen. So sucht denn auch der junge Städter, der sich dem Daphnis durch das Ansinnen einer unnatürlichen Liebe verhaßt gemacht hat, sich bei diesem, da er als Sohn des Herrn erkannt ist, wieder in Gnade zu bringen, indem er den Ochsenhirten die geraubte Chloe auf eine kühne Weise wieder abjagt und zu Daphnis zurückführt.«

»In allen diesen Dingen«, sagte Goethe, »ist ein großer Verstand; so auch, daß Chloe gegen den beiderseitigen Willen der Liebenden, die nichts Besseres kennen, als nackt nebeneinander zu ruhen, durch den ganzen Roman bis ans Ende ihre Jungfrauschaft behält, ist gleichfalls vortrefflich und so schön motiviert, daß dabei die größten menschlichen Dinge zur Sprache kommen.

Man müßte ein ganzes Buch schreiben, um alle großen Verdienste dieses Gedichts nach Würden zu schätzen. Man tut wohl, es alle Jahr einmal zu lesen, um immer wieder daran zu lernen und den Eindruck seiner großen Schönheit aufs neue zu empfinden.«

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