Montag, den 21. März 1831

Wir sprachen über politische Dinge, über die noch immer fortwährenden Unruhen in Paris und den Wahn der jungen Leute, in die höchsten Angelegenheiten des Staates mit einwirken zu wollen.

»Auch in England«, sagte ich, »haben die Studenten vor einigen Jahren bei Entscheidung der katholischen Frage durch Einreichung von Bittschriften einen Einfluß zu erlangen versucht, allein man hat sie ausgelacht und nicht weiter davon Notiz genommen.«

»Das Beispiel von Napoleon«, sagte Goethe, »hat besonders in den jungen Leuten von Frankreich, die unter jenem Helden heraufwuchsen, den Egoismus aufgeregt, und sie werden nicht eher ruhen, als bis wieder ein großer Despot unter ihnen aufsteht, in welchem sie das auf der höchsten Stufe sehen, was sie selber zu sein wünschen. Es ist nur das Schlimme, daß ein Mann wie Napoleon nicht so bald wieder geboren wird, und ich fürchte fast, daß noch einige hunderttausend Menschen darauf gehen, ehe die Welt wieder zur Ruhe kommt.

An literarische Wirkung ist auf einige Jahre gar nicht zu denken, und man kann jetzt weiter nichts tun, als für eine friedlichere Zukunft im Stillen manches Gute vorzubereiten.«

Nach diesem wenigen Politischen waren wir bald wieder in Gesprächen über ›Daphnis und Chloe‹. Goethe lobte die Übersetzung von Courier als ganz vollkommen. »Courier hat wohl getan,« sagte er, »die alte Übersetzung von Amyot zu respektieren und beizubehalten und sie nur an einigen Stellen zu verbessern und zu reinigen und näher an das Original hinanzutreiben. Dieses alte Französisch ist so naiv und paßt so durchaus für diesen Gegenstand, daß man nicht leicht eine vollkommnere Übersetzung in irgendeiner anderen Sprache von diesem Buche machen wird.«

Wir redeten sodann von Couriers eigenen Werken, von seinen kleinen Flugschriften und der Verteidigung des berüchtigten Tintenflecks auf dem Manuskript zu Florenz.

»Courier ist ein großes Naturtalent,« sagte Goethe, »das Züge von Byron hat, sowie von Beaumarchais und Diderot. Er hat von Byron die große Gegenwart aller Dinge, die ihm als Argument dienen; von Beaumarchais die große advokatische Gewandtheit, von Diderot das Dialektische; und zudem ist er so geistreich, daß man es nicht in höherem Grade sein kann. Von der Beschuldigung des Tintenflecks scheint er sich indes nicht ganz zu reinigen; auch ist er in seiner ganzen Richtung nicht positiv genug, als daß man ihn durchaus loben könnte. Er liegt mit der ganzen Welt im Streit, und es ist nicht wohl anzunehmen, daß nicht auch etwas Schuld und etwas Unrecht an ihm selber sein sollte.«

Wir redeten sodann über den Unterschied des deutschen Begriffes von Geist und des französischen esprit. »Das französische esprit«, sagte Goethe, »kommt dem nahe, was wir Deutschen Witz nennen. Unser Geist würden die Franzosen vielleicht durch esprit und âme ausdrücken; es liegt darin zugleich der Begriff von Produktivität, welchen das französische esprit nicht hat.«

»Voltaire«, sagte ich, »hat doch nach deutschen Begriffen dasjenige, was wir Geist nennen. Und da nun das französische esprit nicht hinreicht, was sagen nun die Franzosen?«

»In diesem hohen Falle«, sagte Goethe, »drücken sie es durch génie aus.«

»Ich lese jetzt einen Band von Diderot«, sagte ich, »und bin erstaunt über das außerordentliche Talent dieses Mannes. Und welche Kenntnisse, und welche Gewalt der Rede! Man sieht in eine große bewegte Welt, wo einer dem andern zu schaffen machte und Geist und Charakter so in beständiger Übung erhalten wurden, daß beide gewandt und stark werden mußten. Was aber die Franzosen im vorigen Jahrhundert in der Literatur für Männer hatten, erscheint ganz außerordentlich. Ich muß schon erstaunen, wie ich nur eben hineinblicke.«

»Es war die Metamorphose einer hundertjährigen Literatur,« sagte Goethe, »die seit Ludwig dem Vierzehnten heranwuchs und zuletzt in voller Blüte stand. Voltaire hetzte aber eigentlich Geister wie Diderot, d'Alembert, Beaumarchais und andere herauf, denn um neben ihm nur etwas zu sein, mußte man viel sein, und es galt kein Feiern.«

Goethe erzählte mir sodann von einem jungen Professor der orientalischen Sprache und Literatur in Jena, der eine Zeitlang in Paris gelebt und eine so schöne Bildung habe, daß er wünsche, ich möchte ihn kennen lernen. Als ich ging, gab er mir einen Aufsatz von Schrön über den zunächst kommenden Kometen, damit ich in solchen Dingen nicht ganz fremd sein möchte.

 


 

Dienstag, den 22. März 1831

Goethe las mir zum Nachtisch Stellen aus einem Briefe eines jungen Freundes aus Rom. Einige deutsche Künstler erscheinen darin mit langen Haaren, Schnurrbärten, übergeklappten Hemdkragen auf altdeutschen Röcken, Tabakspfeifen und Bullenbeißern. Der großen Meister wegen und um etwas zu lernen, scheinen sie nicht nach Rom gekommen zu sein. Raffael dünkt ihnen schwach, und Tizian bloß ein guter Kolorist.

»Niebuhr hat recht gehabt,« sagte Goethe, »wenn er eine barbarische Zeit kommen sah. Sie ist schon da, wir sind schon mitten darinne; denn worin besteht die Barbarei anders als darin, daß man das Vortreffliche nicht anerkennt.«

Der junge Freund erzählt sodann vom Karneval, von der Wahl des neuen Papstes und der gleich hintendrein ausbrechenden Revolution.

Wir sehen Horace Vernet, welcher sich ritterlich verschanzet; einige deutsche Künstler dagegen sich ruhig zu Hause halten und ihre Bärte abschneiden, woraus zu bemerken, daß sie sich bei den Römern durch ihr Betragen nicht eben sehr beliebt mögen gemacht haben.

Es kommt zur Sprache, ob die Verirrung, wie sie an einigen jungen deutschen Künstlern wahrzunehmen, von einzelnen Personen ausgegangen sei und sich als eine geistige Ansteckung verbreitet habe, oder ob sie in der ganzen Zeit ihren Ursprung gehabt.

»Sie ist von wenigen einzelnen ausgegangen«, sagte Goethe, »und wirkt nun schon seit vierzig Jahren fort. Die Lehre war: der Künstler brauche vorzüglich Frömmigkeit und Genie, um es den Besten gleichzutun. Eine solche Lehre war sehr einschmeichelnd, und man ergriff sie mit beiden Händen. Denn um fromm zu sein, brauchte man nichts zu lernen, und das eigene Genie brachte jeder schon von seiner Frau Mutter. Man kann nur etwas aussprechen, was dem Eigendünkel und der Bequemlichkeit schmeichelt, um eines großen Anhanges in der mittelmäßigen Menge gewiß zu sein!«

 


 

Freitag, den 25. März 1831

Goethe zeigte mir einen eleganten grünen Lehnstuhl, den er dieser Tage in einer Auktion sich hatte kaufen lassen.

»Ich werde ihn jedoch wenig oder gar nicht gebrauchen,« sagte er, »denn alle Arten von Bequemlichkeit sind eigentlich ganz gegen meine Natur. Sie sehen in meinem Zimmer kein Sofa; ich sitze immer in meinem alten hölzernen Stuhl und habe erst seit einigen Wochen eine Art von Lehne für den Kopf anfügen lassen. Eine Umgebung von bequemen geschmackvollen Meublen hebt mein Denken auf und versetzt mich in einen behaglichen passiven Zustand. Ausgenommen, daß man von Jugend auf daran gewöhnt sei, sind prächtige Zimmer und elegantes Hausgeräte etwas für Leute, die keine Gedanken haben und haben mögen.«

 


 

Sonntag, den 27. März 1831

Das heiterste Frühlingswetter ist nach langem Erwarten endlich eingetreten; am durchaus blauen Himmel schwebt nur hin und wieder ein weißes Wölkchen, und es ist warm genug, um wieder in Sommerkleidern zu gehen.

Goethe ließ in einem Pavillon am Garten decken, und so aßen wir denn heute wieder im Freien. Wir sprachen über die Großfürstin, wie sie im stillen überall hinwirke und Gutes tue und sich die Herzen aller Untertanen zu eigen mache.

»Die Großherzogin«, sagte Goethe, »hat so viel Geist und Güte als guten Willen; sie ist ein wahrer Segen für das Land. Und wie nun der Mensch überhaupt bald empfindet, woher ihm Gutes kommt, und wie er die Sonne verehrt und die übrigen wohltätigen Elemente, so wundert es mich auch nicht, daß alle Herzen sich ihr mit Liebe zuwenden und daß sie schnell erkannt wird, wie sie es verdient.«

Ich sagte, daß ich mit dem Prinzen ›Minna von Barnhelm‹ angefangen, und wie vortrefflich mir dieses Stück erscheine. »Man hat von Lessing behauptet,« sagte ich, »er sei ein kalter Verstandesmensch; ich finde aber in diesem Stück so viel Gemüt, liebenswürdige Natürlichkeit, Herz und freie Weltbildung eines heiteren frischen Lebemenschen, als man nur wünschen kann.«

»Sie mögen denken,« sagte Goethe, »wie das Stück auf uns jungen Leute wirkte, als es in jener dunkelen Zeit hervortrat! Es war wirklich ein glänzendes Meteor. Es machte uns aufmerksam, daß noch etwas Höheres existiere, als wovon die damalige schwache literarische Epoche einen Begriff hatte. Die beiden ersten Akte sind wirklich ein Meisterstück von Exposition, wovon man viel lernte und wovon man noch immer lernen kann.

Heutzutage will freilich niemand mehr etwas von Exposition wissen; die Wirkung, die man sonst im dritten Akt erwartete, will man jetzt schon in der ersten Szene haben, und man bedenkt nicht, daß es mit der Poesie wie mit dem Seefahren ist, wo man erst vom Ufer stoßen und erst auf einer gewissen Höhe sein muß, bevor man mit vollen Segeln gehen kann.«

Goethe ließ etwas trefflichen Rheinwein kommen, womit Frankfurter Freunde ihm zu seinem letzten Geburtstag ein Geschenk gemacht. Er erzählte mir dabei einige Anekdoten von Merck, der dem verstorbenen Großherzog nicht habe verzeihen können, daß er in der Ruhl bei Eisenach eines Tages einen mittelmäßigen Wein vortrefflich gefunden.

»Merck und ich«, fuhr Goethe fort, »waren immer miteinander wie Faust und Mephistopheles. So mokierte er sich über einen Brief meines Vaters aus Italien, worin dieser sich über die schlechte Lebensweise, das ungewohnte Essen, den schweren Wein und die Moskitos beklagt, und er konnte ihm nicht verzeihen, daß in dem herrlichen Lande und der prächtigen Umgebung ihn so kleine Dinge wie Essen, Trinken und Fliegen hätten inkommodieren können.

Alle solche Neckereien gingen bei Merck unstreitig aus dem Fundament einer hohen Kultur hervor; allein da er nicht produktiv war, sondern im Gegenteil eine entschieden negative Richtung hatte, so war er immer weniger zum Lobe bereit, als zum Tadel, und er suchte unwillkürlich alles hervor, um solchem Kitzel zu genügen.«

Wir sprachen über Vogel und seine administrativen Talente, sowie über Gille und dessen Persönlichkeit. »Gille«, sagte Goethe, »ist ein Mann für sich, den man mit keinem andern vergleichen kann. Er war der einzige, der mit mir gegen den Unfug der Preßfreiheit stimmte; er steht fest, man kann sich an ihm halten, er wird immer auf der Seite des Gesetzlichen sein.«

Wir gingen nach Tisch ein wenig im Garten auf und ab und hatten unsere Freude an den blühenden weißen Schneeglöckchen und gelben Krokus. Auch die Tulpen kamen hervor, und wir sprachen über die Pracht und Kostbarkeit der holländischen Gewächse solcher Art. »Ein großer Blumenmaler«, sagte Goethe, »ist gar nicht mehr denkbar; es wird jetzt zu große wissenschaftliche Wahrheit verlangt und der Botaniker zählt dem Künstler die Staubfäden nach, während er für malerische Gruppierung und Beleuchtung kein Auge hat.«

 


 

Montag, den 28. März 1831

Ich verlebte heute mit Goethe wieder sehr schöne Stunden. »Mit meiner ›Metamorphose der Pflanzen‹«, sagte er, »habe ich so gut wie abgeschlossen. Dasjenige, was ich über die Spirale und Herrn von Martius noch zu sagen hatte, ist auch so gut wie fertig, und ich habe mich diesen Morgen schon wieder dem vierten Bande meiner Biographie zugewendet und ein Schema von dem geschrieben, was noch zu tun ist. Ich kann es gewissermaßen beneidenswürdig nennen, daß mir noch in meinem hohen Alter vergönnt ist, die Geschichte meiner Jugend zu schreiben, und zwar eine Epoche, die in mancher Hinsicht von großer Bedeutung ist.«

Wir sprachen die einzelnen Teile durch, die mir wie ihm vollkommen gegenwärtig waren.

»Bei dem dargestellten Liebesverhältnis mit Lili«, sagte ich, »vermißt man Ihre Jugend keineswegs, vielmehr haben solche Szenen den vollkommenen Hauch der frühen Jahre.«

»Das kommt daher,« sagte Goethe, »weil solche Szenen poetisch sind und ich durch die Kraft der Poesie das mangelnde Liebesgefühl der Jugend mag ersetzt haben.«

Wir gedachten sodann der merkwürdigen Stelle, wo Goethe über den Zustand seiner Schwester redet. »Dieses Kapitel«, sagte er, »wird von gebildeten Frauen mit Interesse gelesen werden; denn es werden viele sein, die meiner Schwester darin gleichen, daß sie bei vorzüglichen geistigen und sittlichen Eigenschaften nicht zugleich das Glück eines schönen Körpers empfinden.«

»Daß sie«, sagte ich, »bei bevorstehenden Festlichkeiten und Bällen gewöhnlich von einem Ausschlag im Gesicht heimgesucht wurde, ist etwas so Wunderliches, daß man es der Einwirkung von etwas Dämonischem zuschreiben möchte.«

»Sie war ein merkwürdiges Wesen,« sagte Goethe, »sie stand sittlich sehr hoch und hatte nicht die Spur von etwas Sinnlichem. Der Gedanke, sich einem Manne hinzugeben, war ihr widerwärtig, und man mag denken, daß aus dieser Eigenheit in der Ehe manche unangenehme Stunde hervorging. Frauen, die eine gleiche Abneigung haben oder ihre Männer nicht lieben, werden empfinden, was dieses sagen will. Ich konnte daher meine Schwester auch nie als verheiratet denken, vielmehr wäre sie als Äbtissin in einem Kloster recht eigentlich an ihrem Platze gewesen.

Und da sie nun, obgleich mit einem der bravsten Männer verheiratet, in der Ehe nicht glücklich war, so widerriet sie so leidenschaftlich meine beabsichtigten Verbindung mit Lili«

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