Sonntag, den 15. Mai 1831

Mit Goethe in seiner Arbeitsstube alleine zu Tisch. Nach manchen heiteren Unterhaltungen brachte er zuletzt das Gespräch auf seine persönlichen Angelegenheiten, indem er aufstand und von seinem Pulte ein beschriebenes Papier nahm.

»Wenn einer, wie ich, über die achtzig hinaus ist,« sagte er, »hat er kaum noch ein Recht zu leben; er muß jeden Tag darauf gefaßt sein, abgerufen zu werden, und daran denken, sein Haus zu bestellen. Ich habe, wie ich Ihnen schon neulich eröffnete, Sie in meinem Testament zum Herausgeber meines literarischen Nachlasses ernannt und habe diesen Morgen, als eine Art von Kontrakt, eine kleine Schrift aufgesetzt, die Sie mit mir unterzeichnen sollen.«

Mit diesen Worten legte Goethe mir den Aufsatz vor, worin ich die nach seinem Tode herauszugebenden, teils vollendeten, teils noch nicht vollendeten Schriften namentlich aufgeführt und überhaupt die näheren Bestimmungen und Bedingungen ausgesprochen fand. Ich war im wesentlichen einverstanden, und wir unterzeichneten darauf beiderseitig.

Das benannte Material, mit dessen Redaktion ich mich bisher schon von Zeit zu Zeit beschäftigt hatte, schätzte ich zu etwa funfzehn Bänden; wir besprachen darauf einzelne noch nicht ganz entschiedene Punkte.

»Es könnte der Fall eintreten,« sagte Goethe, »daß der Verleger über eine gewisse Bogenzahl hinauszugehen Bedenken trüge, und daß demnach von dem mitteilbaren Material verschiedenes zurückbleiben müßte. In diesem Fall könnten Sie etwa den polemischen Teil der ›Farbenlehre‹ weglassen. Meine eigentliche Lehre ist in dem theoretischen Teile enthalten, und da nun auch schon der historische vielfach polemischer Art ist, so daß die Hauptirrtümer der Newtonischen Lehre darin zur Sprache kommen, so wäre des Polemischen damit fast genug. Ich desavouiere meine etwas scharfe Zergliederung der Newtonischen Sätze zwar keineswegs, sie war zu ihrer Zeit notwendig und wird auch in der Folge ihren Wert behalten; allein im Grunde ist alles polemische Wirken gegen meine eigentliche Natur, und ich habe daran wenig Freude.«

Ein zweiter Punkt, der von uns näher besprochen wurde, waren die Maximen und Reflexionen, die am Ende des zweiten und dritten Teiles der ›Wanderjahre‹ abgedruckt stehen.

Bei der begonnenen Umarbeitung und Vervollständigung dieses früher in einem Bande erschienen Romans hatte Goethe nämlich seinen Anschlag auf zwei Bände gemacht, wie auch in der Ankündigung der neuen Ausgabe der sämtlichen Werke gedruckt steht. Im Fortgange der Arbeit jedoch wuchs ihm das Manuskript über die Erwartung, und da sein Schreiber etwas weitläufig geschrieben, so täuschte sich Goethe und glaubte, statt zu zwei Bänden zu dreien genug zu haben, und das Manuskript ging in drei Bänden an die Verlagshandlung ab. Als nun aber der Druck bis zu einem gewissen Punkte gediehen war, fand es sich, daß Goethe sich verrechnet hatte, und daß besonders die beiden letzten Bände zu klein ausfielen. Man bat um weiteres Manuskript, und da nun in dem Gang des Romans nichts mehr geändert, auch in dem Drange der Zeit keine neue Novelle mehr erfunden, geschrieben und eingeschaltet werden konnte, so befand sich Goethe wirklich in einiger Verlegenheit.

Unter diesen Umständen ließ er mich rufen; er erzählte mir den Hergang und eröffnete mir zugleich, wie er sich zu helfen gedenke, indem er mir zwei starke Manuskriptbündel vorlegte, die er zu diesem Zweck hatte herbeiholen lassen.

»In diesen beiden Paketen«, sagte er, »werden Sie verschiedene bisher ungedruckte Schriften finden, Einzelnheiten, vollendete und unvollendete Sachen, Aussprüche über Naturforschung, Kunst, Literatur und Leben, alles durcheinander. Wie wäre es nun, wenn Sie davon sechs bis acht gedruckte Bogen zusammenredigierten, um damit vorläufig die Lücke der ›Wanderjahre‹ zu füllen. Genau genommen gehört es zwar nicht dahin, allein es läßt sich damit rechtfertigen, daß bei Makarien von einem Archiv gesprochen wird, worin sich dergleichen Einzelnheiten befinden. Wir kommen dadurch für den Augenblick über eine große Verlegenheit hinaus und haben zugleich den Vorteil, durch dieses Vehikel eine Masse sehr bedeutender Dinge schicklich in die Welt zu bringen.«

Ich billigte den Vorschlag und machte mich sogleich an die Arbeit und vollendete die Redaktion solcher Einzelnheiten in weniger Zeit. Goethe schien sehr zufrieden. Ich hatte das Ganze in zwei Hauptmassen zusammengestellt; wir gaben der einen den Titel »Aus Makariens Archiv«, und der anderen die Aufschrift »Im Sinne der Wanderer«, und da Goethe gerade zu dieser Zeit zwei bedeutende Gedichte vollendet hatte, eins »Auf Schillers Schädel«, und ein anderes: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen«, so hatte er den Wunsch, auch diese Gedichte sogleich in die Welt zu bringen, und wir fügten sie also dem Schlusse der beiden Abteilungen an.

Als nun aber die ›Wanderjahre‹ erschienen, wußte niemand. wie ihm geschah. Den Gang des Romans sah man durch eine Menge rätselhafter Sprüche unterbrochen, deren Lösung nur von Männern vom Fach, d. h. von Künstlern, Naturforschern und Literatoren zu erwarten war, und die allen übrigen Lesern, zumal Leserinnen, sehr unbequem fallen mußten. Auch wurden die beiden Gedichte so wenig verstanden, als es geahnet werden konnte, wie sie nur möchten an solche Stellen gekommen sein.

Goethe lachte dazu. »Es ist nun einmal geschehen,« sagte er heute, »und es bleibt jetzt weiter nichts, als daß Sie bei Herausgabe meines Nachlasses diese einzelnen Sachen dahin stellen, wohin sie gehören; damit sie, bei einem abermaligen Abdruck meiner Werke, schon an ihrem Orte verteilt stehen, und die ›Wanderjahre‹ sodann, ohne die Einzelnheiten und die beiden Gedichte, in zwei Bänden zusammenrücken mögen, wie anfänglich die Intention war.«

Wir wurden einig, daß ich alle auf Kunst bezüglichen Aphorismen in einen Band über Kunstgegenstände, alle auf die Natur bezüglichen in einen Band über Naturwissenschaften im allgemeinen, sowie alles Ethische und Literarische in einen gleichfalls passenden Band dereinst zu verteilen habe.

 


 

Mittwoch, den 25. [Montag, den 23.] Mai 1831

Wir sprachen über ›Wallensteins Lager‹. Ich hatte nämlich häufig erwähnen hören, daß Goethe an diesem Stücke teilgehabt, und daß besonders die Kapuzinerpredigt von ihm herrühre. Ich fragte ihn deshalb heute bei Tisch, und er gab mir folgende Antwort.

»Im Grunde«, sagte er, »ist alles Schillers eigene Arbeit. Da wir jedoch in so engem Verhältnis miteinander lebten, und Schiller mir nicht allein den Plan mitteilte und mit mir durchsprach, sondern auch die Ausführung, so wie sie täglich heranwuchs, kommunizierte und meine Bemerkungen hörte und nutzte, so mag ich auch wohl daran einigen Teil haben. Zu der Kapuzinerpredigt schickte ich ihm die Reden des Abraham a Sancta Clara, woraus er denn sogleich jene Predigt mit großem Geiste zusammenstellte.

Daß einzelne Stellen von mir herrühren, erinnere ich mich kaum, außer jenen zwei Versen:

Ein Hauptmann, den ein andrer erstach,
Ließ mir ein paar glückliche Würfel nach.

Denn da ich gerne motiviert wissen wollte, wie der Bauer zu den falschen Würfeln gekommen, so schrieb ich diese Verse eigenhändig in das Manuskript hinein. Schiller hatte daran nicht gedacht, sondern in seiner kühnen Art dem Bauer geradezu die Würfel gegeben, ohne viel zu fragen, wie er dazu gekommen. Ein sorgfältiges Motivieren war, wie ich schon gesagt, nicht seine Sache, woher denn auch die größere Theaterwirkung seiner Stücke kommen mag.«

 


 

Sonntag, den 29. Mai 1831

Goethe erzählte mir von einem Knaben, der sich über einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhigen können.

»Es war mir nicht lieb, dieses zu bemerken,« sagte er, »denn es zeugt von einem zu zarten Gewissen, welches das eigene moralische Selbst so hoch schätzet, daß es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen macht hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch eine große Tätigkeit balanciert wird.«

Man hatte mir in diesen Tagen ein Nest junger Grasemücken gebracht, nebst einem der Alten, den man in Leimruten gefangen. Nun hatte ich zu bewundern, wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr seine Jungen zu füttern, sondern wie er sogar, aus dem Fenster freigelassen, wieder zu den Jungen zurückkehrte. Eine solche, Gefahr und Gefangenschaft überwindende, elterliche Liebe rührte mich innig, und ich äußerte mein Erstaunen darüber heute gegen Goethe. »Närrischer Mensch!« antwortete er mir lächelnd bedeutungsvoll, »wenn Ihr an Gott glaubtet, so würdet Ihr Euch nicht verwundern.

Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.

Beseelte Gott den Vogel nicht mit diesem allmächtigen Trieb gegen seine Jungen, und ginge das gleiche nicht durch alles Lebendige der ganzen Natur, die Welt würde nicht bestehen können! – So aber ist die göttliche Kraft überall verbreitet und die ewige Liebe überall wirksam.«

Eine ähnliche Äußerung tat Goethe vor einiger Zeit, als ihm von einem jungen Bildhauer das Modell von Myrons Kuh mit dem saugenden Kalbe gesendet wurde. »Hier«, sagte er, »haben wir einen Gegenstand der höchsten Art; das die Welt erhaltende, durch die ganze Natur gehende, ernährende Prinzip ist uns hier in einem schönen Gleichnis vor Augen; dieses und ähnliche Bilder nenne ich die wahren Symbole der Allgegenwart Gottes.«

 


 

Montag, den 6. Juni 1831

Goethe zeigte mir heute den bisher noch fehlenden Anfang des fünften Aktes von ›Faust‹. Ich las bis zu der Stelle, wo die Hütte von Philemon und Baucis verbrannt ist, und Faust in der Nacht, auf dem Balkon seines Palastes stehend, den Rauch riecht, den ein leiser Wind ihm zuwehet.

»Die Namen Philemon und Baucis«, sagte ich, »versetzen mich an die phrygische Küste und lassen mich jenes berühmten altertümlichen Paares gedenken; aber doch spielet unsere Szene in der neueren Zeit und in einer christlichen Landschaft.«

»Mein Philemon und Baucis«, sagte Goethe, »hat mit jenem berühmten Paare des Altertums und der sich daran knüpfenden Sage nichts zu tun. Ich gab meinem Paare bloß jene Namen, um die Charaktere dadurch zu heben. Es sind ähnliche Personen und ähnliche Verhältnisse, und da wirken denn die ähnlichen Namen durchaus günstig.«

Wir redeten sodann über den Faust, den das Erbteil seines Charakters, die Unzufriedenheit, auch im Alter nicht verlassen hat und den, bei allen Schätzen der Welt und in einem selbstgeschaffenen neuen Reiche, ein paar Linden, eine Hütte und ein Glöckchen genieren, die nicht sein sind. Er ist darin dem isrealitischen König Ahab nicht unähnlich, der nichts zu besitzen wähnte, wenn er nicht auch den Weinberg Naboths hätte.

»Der Faust, wie er im fünften Akt erscheint,« sagte Goethe ferner, »soll nach meiner Intention gerade hundert Jahre alt sein, und ich bin nicht gewiß, ob es nicht etwa gut wäre, dieses irgendwo ausdrücklich zu bemerken.«

Wir sprachen sodann über den Schluß, und Goethe machte mich auf die Stelle aufmerksam, wo es heißt:

Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen:
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen,
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.

»In diesen Versen«, sagte er, »ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hülfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.

Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war und daß ich, bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.«

 

Den noch fehlenden vierten Akt vollendete Goethe darauf in den nächsten Wochen, so daß im August der ganze zweite Teil geheftet und vollkommen fertig dalag. Dieses Ziel, wonach er so lange gestrebt, endlich erreicht zu haben, machte Goethe überaus glücklich. »Mein ferneres Leben«, sagte er, »kann ich nunmehr als ein reines Geschenk ansehen, und es ist jetzt im Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue.«

 


 

Mittwoch, den 21. Dezember 1831

Mit Goethe zu Tisch. Wir sprachen, woher es gekommen, daß seine ›Farbenlehre‹ sich so wenig verbreitet habe. »Sie ist sehr schwer zu überliefern,« sagte er, »denn sie will, wie Sie wissen, nicht bloß gelesen und studiert, sondern sie will getan sein, und das hat seine Schwierigkeit. Die Gesetze der Poesie und Malerei sind gleichfalls bis auf einen gewissen Grad mitzuteilen, allein um ein guter Poet und Maler zu sein, bedarf es Genie, das sich nicht überliefern läßt. Ein einfaches Urphänomen aufzunehmen, es in seiner hohen Bedeutung zu erkennen und damit zu wirken, erfordert einen produktiven Geist, der vieles zu übersehen vermag, und ist eine seltene Gabe, die sich nur bei ganz vorzüglichen Naturen findet.

Und auch damit ist es noch nicht getan. Denn wie einer mit allen Regeln und allem Genie noch kein Maler ist, sondern wie eine unausgesetzte Übung hinzukommen muß, so ist es auch bei der Farbenlehre nicht genug, daß einer die vorzüglichsten Gesetze kenne und den geeigneten Geist habe, sondern er muß sich immerfort mit den einzelnen oft sehr geheimnisvollen Phänomenen und ihrer Ableitung und Verknüpfung zu tun machen.

»So wissen wir z. B. im allgemeinen recht gut, daß die grüne Farbe durch eine Mischung des Gelben und Blauen entsteht: allein bis einer sagen kann, er begreife das Grün des Regenbogens, oder das Grün des Laubes, oder das Grün des Meerwassers, dieses erfordert ein so allseitiges Durchschreiten des Farbenreiches und eine daraus entspringende solche Höhe von Einsicht, zu welcher bis jetzt kaum jemand gelangt ist.«

Zum Nachtisch betrachteten wir darauf einige Landschaften von Poussin. »Diejenigen Stellen,« sagte Goethe bei dieser Gelegenheit, »worauf der Maler das höchste Licht fallen läßt, lassen kein Detail in der Ausführung zu; weshalb denn Wasser, Felsstücke, nackter Erdboden und Gebäude für solche Träger des Hauptlichtes die günstigsten Gegenstände sind. Dinge dagegen, die in der Zeichnung ein größeres Detail erfordern, kann der Künstler nicht wohl an solchen Lichtstellen gebrauchen.

Ein Landschaftsmaler«, sagte Goethe ferner, »muß viele Kenntnisse haben. Es ist nicht genug, daß er Perspektive, Architektur und die Anatomie des Menschen und der Tiere verstehe, sondern er muß sogar auch einige Einsichten in die Botanik und Mineralogie besitzen. Erstere, damit er das Charakteristische der Bäume und Pflanzen, und letztere, damit er den Charakter der verschiedenen Gebirgsarten gehörig auszudrücken verstehe. Doch ist deshalb nicht nötig, daß er ein Mineralog vom Fache sei, indem er es vorzüglich nur mit Kalk-, Tonschiefer- und Sandsteingebirgen zu tun hat und er nur zu wissen braucht, in welchen Formen es liegt, wie es sich bei der Verwitterung spaltet, und welche Baumarten darauf gedeihen oder verkrüppeln.«

Goethe zeigte mir sodann einige Landschaften von Hermann von Schwanefeld, wobei er über die Kunst und Persönlichkeit dieses vorzüglichen Menschen verschiedenes aussprach.

»Man findet bei ihm«, sagte er, »die Kunst als Neigung und die Neigung als Kunst, wie bei keinem andern. Er besitzt eine innige Liebe zur Natur und einen göttlichen Frieden, der sich uns mitteilt, wenn wir seine Bilder betrachten. In den Niederlanden geboren, studierte er in Rom unter Claude Lorrain, durch welchen Meister er sich auf das vollkommenste ausbildete und seine schöne Eigentümlichkeit auf das freieste entwickelte.«

Wir schlugen darauf in einem Künstlerlexikon nach, um zu sehen, was über Hermann von Schwanefeld gesagt ward, wo man ihm denn vorwarf, daß er seinen Meister nicht erreicht habe. »Die Narren!« sagte Goethe. »Schwanefeld war ein anderer als Claude Lorrain, und dieser kann nicht sagen, daß er ein besserer gewesen. Wenn man aber weiter nichts vom Leben hätte, als was unsere Biographen und Lexikonschreiber von uns sagen, so wäre es ein schlechtes Metier und überhaupt nicht der Mühe wert.«

 

Am Schlusse dieses und zu Anfange des nächsten Jahres wandte sich Goethe ganz wieder seinen Lieblingsstudien, den Naturwissenschaften, zu und beschäftigte sich, teils auf Anregung von Boisserée, mit fernerer Ergründung der Gesetze des Regenbogens, sowie besonders auch, aus Teilnahme an dem Streit zwischen Cuvier und Saint-Hilaire, mit Gegenständen der Metamorphose der Pflanzen- und Tierwelt. Auch redigierte er mit mir gemeinschaftlich den historischen Teil der ›Farbenlehre‹, sowie er auch an einem Kapitel über die Mischung der Farben innigen Anteil nahm, das ich auf seine Anregung, um in den theoretischen Band aufgenommen zu werden, bearbeitete.

Es fehlte in dieser Zeit nicht an mannigfachen interessanten Unterhaltungen und geistreichen Äußerungen seinerseits. Allein, wie er in völliger Kraft und Frische mir täglich vor Augen war, so dachte ich, es würde immer so fortgehen, und war in Auffassung seiner Worte gleichgültiger als billig, bis es denn endlich zu spät war und ich am 22. März 1832 mit Tausenden von edlen Deutschen seinen unersetzlichen Verlust zu beweinen hatte.

Folgendes notierte ich nicht lange darauf aus der nächsten Erinnerung.

 

Anfangs März [?] 1832

Goethe erzählte bei Tisch, daß der Baron Karl von Spiegel ihn besucht, und daß er ihm über die Maßen wohl gefallen. »Er ist ein sehr hübscher junger Mann,« sagte Goethe; »er hat in seiner Art, in seinem Benehmen ein Etwas, woran man sogleich den Edelmann erkennet. Seine Abkunft könnte er ebensowenig verleugnen, als jemand einen höheren Geist verleugnen könnte. Denn beides, Geburt und Geist, geben dem, der sie einmal besitzet, ein Gepräge, das sich durch kein Inkognito verbergen läßt. Es sind Gewalten wie die Schönheit, denen man nicht nahe kommen kann, ohne zu empfinden, daß sie höherer Art sind.«

 

Einige Tage später

Wir sprachen über die tragische Schicksalsidee der Griechen.

»Dergleichen«, sagte Goethe, »ist unserer jetzigen Denkungsweise nicht mehr gemäß, es ist veraltet und überhaupt mit unseren religiösen Vorstellungen in Widerspruch. Verarbeitet ein moderner Poet solche frühere Ideen zu einem Theaterstück, so sieht es immer aus wie eine Art von Affektation. Es ist ein Anzug, der längst aus der Mode gekommen ist, und der uns, gleich der römischen Toga, nicht mehr zu Gesichte steht.

Wir Neueren sagen jetzt besser mit Napoleon: die Politik ist das Schicksal. Hüten wir uns aber mit unseren neuesten Literatoren zu sagen, die Politik sei die Poesie, oder sie sei für den Poeten ein passender Gegenstand. Der englische Dichter Thomson schrieb ein sehr gutes Gedicht über die Jahreszeiten, allein ein sehr schlechtes über die Freiheit, und zwar nicht aus Mangel an Poesie im Poeten, sondern aus Mangel an Poesie im Gegenstande.

Sowie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben, und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geiste, seinem unbefangenen Überblick Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit und des blinden Hasses über die Ohren ziehen.

Der Dichter wird als Mensch und Bürger sein Vaterland lieben, aber das Vaterland seiner poetischen Kräfte und seines poetischen Wirkens ist das Gute, Edle und Schöne, das an keine besondere Provinz und an kein besonderes Land gebunden ist, und das er ergreift und bildet, wo er es findet. Er ist darin dem Adler gleich, der mit freiem Blick über Ländern schwebt und dem es gleichviel ist, ob der Hase, auf den er hinabschießt, in Preußen oder in Sachsen läuft.

Und was heißt denn: sein Vaterland lieben, und was heißt denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln, was soll er denn da Besseres tun? und wie soll er denn da patriotischer wirken? – An einen Dichter so ungehörige und undankbare Anforderungen zu machen, wäre ebenso, als wenn man von einem Regimentschef verlangen wolle: er müsse, um ein rechter Patriot zu sein, sich in politische Neuerungen verflechten und darüber seinen nächsten Beruf vernachlässigen. Das Vaterland eines Regimentschefs aber ist sein Regiment, und er wird ein ganz vortrefflicher Patriot sein, wenn er sich um politische Dinge gar nicht bemüht, als soweit sie ihn angehen, und wenn er dagegen seinen ganzen Sinn und seine ganze Sorge auf die ihm untergebenen Bataillons richtet und sie so gut einzuexerzieren und in so guter Zucht und Ordnung zu erhalten sucht, daß sie, wenn das Vaterland einst in Gefahr kommt, als tüchtige Leute ihren Mann stehen.

Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht.

Sie wissen, ich bekümmere mich im ganzen wenig um das, was über mich geschrieben wird, aber es kommt mir doch zu Ohren, und ich weiß recht gut, daß, so sauer ich es mir auch mein lebelang habe werden lassen, all mein Wirken in den Augen gewisser Leute für nichts geachtet wird, eben weil ich verschmäht habe, mich in politische Parteiungen zu mengen. Um diesen Leuten recht zu sein, hätte ich müssen Mitglied eines Jakobinerklubs werden und Mord und Blutvergießen predigen! – Doch kein Wort mehr über diesen schlechten Gegenstand, damit ich nicht unvernünftig werde, indem ich das Unvernünftige bekämpfe.«

Gleicherweise tadelte Goethe die von anderen so sehr gepriesene politische Richtung in Uhland. »Geben Sie acht,« sagte er, »der Politiker wird den Poeten aufzehren. Mitglied der Stände sein und in täglichen Reibungen und Aufregungen leben, ist keine Sache für die zarte Natur eines Dichters. Mit seinem Gesange wird es aus sein, und das ist gewissermaßen zu bedauern. Schwaben besitzt Männer genug, die hinlänglich unterrichtet, wohlmeinend, tüchtig und beredt sind, um Mitglied der Stände zu sein, aber es hat nur einen Dichter der Art wie Uhland.«

 

Der letzte Fremde, den Goethe gastfreundlich bei sich bewirtete, war der älteste Sohn der Frau von Arnim; das Letzte, was er geschrieben, waren einige Verse in das Stammbuch des gedachten jungen Freundes.

 

Am andern Morgen nach Goethes Tode ergriff mich eine tiefe Sehnsucht, seine irdische Hülle noch einmal zu sehen. Sein treuer Diener Friedrich schloß mir das Zimmer auf, wo man ihn hingelegt hatte. Auf dem Rücken ausgestreckt, ruhte er wie ein Schlafender: tiefer Friede und Festigkeit waltete auf den Zügen seines erhaben-edlen Gesichts. Die mächtige Stirn schien noch Gedanken zu hegen. Ich hatte das Verlangen nach einer Locke von seinen Haaren, doch die Ehrfurcht verhinderte mich, sie ihm abzuschneiden. Der Körper lag nackend in ein weißes Bettuch gehüllet, große Eisstücke hatte man in einiger Nähe umhergestellt, um ihn frisch zu erhalten so lange als möglich. Friedrich schlug das Tuch auseinander, und ich erstaunte über die göttliche Pracht dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme und Schenkel voll und sanft muskulös, die Füße zierlich und von der reinsten Form, und nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer Schönheit vor mir, und das Entzücken, das ich darüber empfand, ließ mich auf Augenblicke vergessen, daß der unsterbliche Geist eine solche Hülle verlassen. Ich legte meine Hand auf sein Herz – es war überall eine tiefe Stille – und ich wendete mich abwärts, um meinen verhaltenen Tränen freien Lauf zu lassen.

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