Dienstag, den 29. März 1831

Wir sprechen heute über Merck, und Goethe erzählte mir noch einige charakteristische Züge.

»Der verstorbene Großherzog«, sagte er, »war Mercken sehr günstig, so daß er sich einst für eine Schuld von viertausend Talern für ihn verbürgte. Nun dauerte es nicht langte, so schickte Merck zu unserer Verwunderung die Bürgschaft zurück. Seine Umstände hatten sich nicht verbessert, und es war rätselhaft, welche Art von Negoziation er mochte gemacht haben. Als ich ihn wiedersah, löste er mir das Rätsel in folgenden Worten.

›Der Herzog‹, sagte er, ›ist ein freigebiger, trefflicher Herr, der Zutrauen hat und den Menschen hilft, wo er kann. Nun dachte ich mir: betrügst du diesen Herrn um das Geld, so wirket das nachteilig für tausend andere; denn er wird sein köstliches Zutrauen verlieren, und viele unglückliche gute Menschen werden darunter leiden, daß einer ein schlechter Kerl war. Was habe ich nun getan? Ich habe spekuliert und das Geld von einem Schurken geliehen. Denn wenn ich diesen darum betrüge, so tuts nichts; hätte ich aber den guten Herrn darum betrogen, so wäre es schade gewesen.‹«

Wir lachten über die wunderliche Großheit dieses Mannes. »Merck hatte das Eigene,« fuhr Goethe fort, »daß er im Gespräch mitunter he! he! herauszustoßen pflegte. Dieses Angewöhnen steigerte sich, wie er älter wurde, so daß es endlich dem Bellen eines Hundes glich. Er fiel zuletzt in eine tiefe Hypochondrie, als Folge seiner vielen Spekulationen, und endigte damit, sich zu erschießen. Er bildete sich ein, er müsse bankerott machen; allein es fand sich, daß seine Sachen keineswegs so schlecht standen, wie er es sich gedacht hatte.«

 


 

Mittwoch, den 30. März 1831

Wir reden wieder über das Dämonische.

»Es wirft sich gern an bedeutende Figuren,« sagte Goethe; »auch wählt es sich gerne etwas dunkele Zeiten. In einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit, sich zu manifestieren.«

Goethe sprach hierdurch aus, was ich selber vor einigen Tagen gedacht hatte, welches mir angenehm war, so wie es immer Freude macht, unsere Gedanken bestätigt zu sehen.

Gestern und diesen Morgen las ich den dritten Band seiner Biographie, wobei es mir war wie bei einer fremden Sprache, wo wir nach gemachten Fortschritten ein Buch wieder lesen, das wir früher zu verstehen glaubten, das aber erst jetzt in seinen kleinsten Teilen und Nüancen uns entgegentritt.

»Ihre Biographie ist ein Buch,« sagte ich, »wodurch wir in unserer Kultur uns auf die entschiedenste Weise gefördert sehen.«

»Es sind lauter Resultate meines Lebens,« sagte Goethe, »und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen.«

»Was Sie unter andern von Basedow erwähnten,« sagte ich, »wie er nämlich zur Erreichung höherer Zwecke die Menschen nötig hat und ihre Gunst erwerben möchte, aber nicht bedenkt, daß er es mit allen verderben muß, wenn er so ohne alle Rücksicht seine abstoßenden religiösen Ansichten äußert und den Menschen dasjenige, woran sie mit Liebe hängen, verdächtig macht – solche und ähnliche Züge erscheinen mir von großer Bedeutung.«

»Ich dächte,« sagte Goethe, »es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens. Ich nannte das Buch ›Wahrheit und Dichtung‹, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niedern Realität erhebt. Jean Paul hat nun, aus Geist des Widerspruchs, ›Wahrheit‹ aus seinem Leben geschrieben. Als ob die Wahrheit aus dem Leben eines solchen Mannes etwas anderes sein könnte, als daß der Autor ein Philister gewesen! Aber die Deutschen wissen nicht leicht, wie sie etwas Ungewohntes zu nehmen haben, und das Höhere geht oft an ihnen vorüber, ohne daß sie es gewahr werden. Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht, insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte.«

 


 

Donnerstag, den 31. März 1831

Zu Tafel beim Prinzen mit Soret und Meyer. Wir redeten über literarische Dinge, und Meyer erzählte uns seine erste Bekanntschaft mit Schiller.

»Ich ging«, sagte er, »mit Goethe in dem sogenannten Paradies bei Jena spazieren, wo Schiller uns begegnete und wo wir zuerst miteinander redeten. Er hatte seinen ›Don Carlos‹ noch nicht beendigt; er war eben aus Schwaben zurückgekehrt und schien sehr krank und an den Nerven leidend. Sein Gesicht glich dem Bilde des Gekreuzigten. Goethe dachte, er würde keine vierzehn Tage leben; allein als er zu größerem Behagen kam, erholte er sich wieder und schrieb dann erst alle seine bedeutenden Sachen.«

Meyer erzählte sodann einige Züge von Jean Paul und Schlegel, die er beide in einem Wirtshause zu Heidelberg getroffen, sowie einiges aus seinem Aufenthalte in Italien, heitere Sachen, die uns sehr behagten.

In Meyers Nähe wird es mir immer wohl, welches daher kommen mag, daß er ein in sich abgeschlossenes zufriedenes Wesen ist, das von der Umgebung wenig Notiz nimmt und dagegen sein eigenes behagliches Innere in schicklichen Pausen hervorkehrt. Dabei ist er in allem fundiert, besitzt den höchsten Schatz von Kenntnissen und ein Gedächtnis, dem die entferntesten Dinge gegenwärtig sind, als wären sie gestern geschehen. Er hat ein Übergewicht von Verstand, den man fürchten müßte, wenn er nicht auf der edelsten Kultur ruhte; aber so ist seine stille Gegenwart immer angenehm, immer belehrend.

 


 

Freitag, den 1. April 1831

Mit Goethe zu Tisch in mannigfaltigen Gesprächen. Er zeigte mir ein Aquarellgemälde von Herrn von Reutern, einen jungen Bauern darstellend, der auf dem Markt einer kleinen Stadt bei einer Korb- und Deckenverkäuferin steht. Der junge Mensch sieht die vor ihm liegenden Körbe an, während zwei sitzende Frauen und ein dabeistehendes derbes Mädchen den hübschen jungen Menschen mit Wohlgefallen anblicken. Das Bild komponiert so artig, und der Ausdruck der Figuren ist so wahr und naiv, daß man nicht satt wird es zu betrachten.

»Die Aquarellmalerei«, sagte Goethe, »steht in diesem Bilde auf einer sehr hohen Stufe. Nun sagen die einfältigen Menschen, Herr von Reutern habe in der Kunst niemanden etwas zu verdanken, sondern habe alles von sich selber. Als ob der Mensch etwas anderes aus sich selber hätte als die Dummheit und das Ungeschick! Wenn dieser Künstler auch keinen namhaften Meister gehabt, so hat er doch mit trefflichen Meistern verkehrt und hat ihnen und großen Vorgängern und der überall gegenwärtigen Natur das Seinige abgelernt. Die Natur hat ihm ein treffliches Talent gegeben, und Kunst und Natur haben ihn ausgebildet. Er ist vortrefflich und in manchen Dingen einzig, aber man kann nicht sagen, daß er alles von sich selber habe. Von einem durchaus verrückten und fehlerhaften Künstler ließe sich allenfalls sagen, er habe alles von sich selber, allein von einem trefflichen nicht.«

Goethe zeigte mir darauf, von demselbigen Künstler, einen reich mit Gold und bunten Farben gemalten Rahmen mit einer in der Mitte freigelassenen Stelle zu einer Inschrift. Oben sah man ein Gebäude im gotischen Stil; reiche Arabesken, mit eingeflochtenen Landschaften und häuslichen Szenen, liefen zu beiden Seiten hinab; unten schloß eine anmutige Waldpartie mit dem frischesten Grün und Rasen.

»Herr von Reutern wünscht,« sagte Goethe, »daß ich ihm in die freigelassene Stelle etwas hineinschreibe; allein sein Rahmen ist so prächtig und kunstreich, daß ich mit meiner Handschrift das Bild zu verderben fürchte. Ich habe zu diesem Zweck einige Verse gedichtet und schon gedacht, ob es nicht besser sei, sie durch die Hand eines Schönschreibers eintragen zu lassen. Ich wollte es dann eigenhändig unterschreiben. Was sagen Sie dazu, und was raten Sie mir?«

»Wenn ich Herr von Reutern wäre.« sagte ich, »so würde ich unglücklich sein, wenn das Gedicht in einer fremden Handschrift käme, aber glücklich, wenn es von Ihrer eigenen Hand geschrieben wäre. Der Maler hat Kunst genug in der Umgebung entwickelt, in der Schrift braucht keine zu sein, es kommt bloß darauf an, daß sie echt, daß sie die Ihrige sei. Und dann rate ich sogar, es nicht mit lateinischen, sondern mit deutschen Lettern zu schreiben, weil Ihre Hand darin mehr eigentümlichen Charakter hat und es auch besser zu der gotischen Umgebung paßt.«

»Sie mögen recht haben,« sagte Goethe, »und es ist am Ende der kürzeste Weg, daß ich so tue. Vielleicht kommt mir in diesen Tagen ein mutiger Augenblick, daß ich es wage. Wenn ich aber auf das schöne Bild einen Klecks mache,« fügte er lachend hinzu, »so mögt Ihr es verantworten.«

»Schreiben Sie nur,« sagte ich, »es wird recht sein, wie es auch werde.«

 


 

Dienstag, den 5. April 1831

Mittags mit Goethe. »In der Kunst«, sagte er, »ist mir nicht leicht ein erfreulicheres Talent vorgekommen als das von Neureuther. Es beschränkt sich selten ein Künstler auf das, was er vermag, die meisten wollen mehr tun, als sie können, und gehen gar zu gern über den Kreis hinaus, den die Natur ihrem Talente gesetzt hat. Von Neureuther jedoch läßt sich sagen, daß er über seinem Talent stehe. Die Gegenstände aus allen Reichen der Natur sind ihm geläufig, er zeichnet ebensowohl Gründe, Felsen und Bäume, wie Tiere und Menschen; Erfindung, Kunst und Geschmack besitzt er im hohen Grade, und indem er eine solche Fülle in leichten Randzeichnungen gewissermaßen vergeudet, scheint er mit seinen Fähigkeiten zu spielen, und es geht auf den Beschauer das Behagen über, welches die bequeme freie Spende eines reichen Vermögens immer zu begleiten pflegt.

In Randzeichnungen hat es auch niemand zu der Höhe gebracht wie er, und selbst das große Talent von Albrecht Dürer war ihm darin weniger ein Muster als eine Anregung.

Ich werde«, fuhr Goethe fort, »ein Exemplar dieser Zeichnungen von Neureuther an Herrn Carlyle nach Schottland senden, und hoffe, jenem Freunde damit kein unwillkommenes Geschenk zu machen.«

 


 

Montag, den 2. Mai 1831

Goethe erfreute mich mit der Nachricht, daß es ihm in diesen Tagen gelungen, den bisher fehlenden Anfang des fünften Aktes von ›Faust‹ so gut wie fertig zu machen.

»Die Intention auch dieser Szenen«, sagte er, »ist über dreißig Jahre alt; sie war von solcher Bedeutung, daß ich daran das Interesse nicht verloren, allein so schwer auszuführen, daß ich mich davor fürchtete. Ich bin nun durch manche Künste wieder in Zug gekommen, und wenn das Glück gut ist, so schreibe ich jetzt den vierten Akt hintereinander weg.«

Bei Tisch sprach Goethe mit mir über Börne. »Es ist ein Talent,« sagte er, »dem der Parteihaß als Alliance dient, und das ohne ihn keine Wirkung getan haben würde. Man findet häufige Proben in der Literatur, wo der Haß das Genie ersetzet, und wo geringe Talente bedeutend erscheinen, indem sie als Organ einer Partei auftreten. So auch findet man im Leben eine Masse von Personen, die nicht Charakter genug haben, um alleine zu stehen; diese werfen sich gleichfalls an eine Partei, wodurch sie sich gestärkt fühlen und nun eine Figur machen.

Béranger dagegen ist ein Talent, das sich selber genug ist. Er hat daher auch nie einer Partei gedient. Er empfindet zu viele Satisfaktion in seinem Innern, als daß ihm die Welt etwas geben oder nehmen könnte.«

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