Sonntag, den 1. April 1827

Abends bei Goethe. Ich sprach mit ihm über die gestrige Vorstellung seiner ›Iphigenie‹, worin Herr Krüger vom Königlichen Theater zu Berlin den Orest spielte, und zwar zu großem Beifall.

»Das Stück«, sagte Goethe, »hat seine Schwierigkeiten. Es ist reich an innerem Leben, aber arm an äußerem. Daß aber das innere Leben hervorgekehrt werde, darin liegts. Es ist voll der wirksamsten Mittel, die aus den mannigfaltigsten Greueln hervorwachsen, die dem Stück zugrunde liegen. Das gedruckte Wort ist freilich nur ein matter Widerschein von dem Leben, das in mir bei der Erfindung rege war. Aber der Schauspieler muß uns zu dieser ersten Glut, die den Dichter seinem Sujet gegenüber beseelte, wieder zurück bringen. Wir wollen von der Meerluft frisch angewehte, kraftvolle Griechen und Helden sehen, die, von mannigfaltigen Übeln und Gefahren geängstigt und bedrängt, stark herausreden, was ihnen das Herz im Busen gebietet; aber wir wollen keine schwächlich empfindenden Schauspieler, die ihre Rollen nur so obenhin auswendig gelernt haben, am wenigsten aber solche, die ihre Rollen nicht einmal können.

Ich muß gestehen, es hat mir noch nie gelingen wollen, eine vollendete Aufführung meiner ›Iphigenie‹ zu erleben. Das war auch die Ursache, warum ich gestern nicht hineinging. Denn ich leide entsetzlich, wenn ich mich mit diesen Gespenstern herumschlagen muß, die nicht so zur Erscheinung kommen, wie sie sollten.«

»Mit dem Orest, wie Herr Krüger ihn gab,« sagte ich, »würden Sie wahrscheinlich zufrieden gewesen sein. Sein Spiel hatte eine Deutlichkeit, daß nichts begreiflicher, nichts faßlicher war als seine Rolle. Es drang sich alles ein, und ich werde seine Bewegungen und Worte nicht vergessen.

Dasjenige, was in dieser Rolle der exaltierten Anschauung, der Vision gehört, trat durch seine körperlichen Bewegungen und den veränderten abwechselnden Ton seiner Stimme so aus seinem Innern heraus, daß man es mit leiblichen Augen zu sehen glaubte. Beim Anblick dieses Orest hätte Schiller die Furien sicher nicht vermißt; sie waren hinter ihm her, sie waren um ihn herum.

Die bedeutende Stelle, wo Orest, aus seiner Ermattung erwachend, sich in die Unterwelt versetzt glaubt, gelang zu hohem Erstaunen. Man sah die Reihen der Ahnherrn in Gesprächen wandeln, man sah Orest sich ihnen gesellen, sie befragen und sich an sie anschließen. Man fühlte sich selbst versetzt und in die Mitte dieser Seligen mit aufgenommen: so rein und tief war die Empfindung des Künstlers und so groß sein Vermögen, das Unfaßlichste uns vor die Augen zu bringen.«

»Ihr seid doch noch Leute, auf die sich wirken läßt!« erwiderte Goethe lachend. »Aber fahren Sie fort und sagen Sie weiter. Er scheint also wirklich gut gewesen zu sein und seine körperlichen Mittel von Bedeutung?«

»Sein Organ«, sagte ich, »war rein und wohltönend, auch viel geübt und dadurch der höchsten Biegsamkeit und Mannigfaltigkeit fähig. Physische Kraft und körperliche Gewandtheit standen ihm sodann bei Ausführung aller Schwierigkeiten zur Seite; es schien, daß er es sein lebelang an der mannigfaltigsten körperlichen Ausbildung und Übung nicht hatte fehlen lassen.«

»Ein Schauspieler«, sagte Goethe, »sollte eigentlich auch bei einem Bildhauer und Maler in die Lehre gehen. So ist ihm, um einen Griechischen Helden darzustellen, durchaus nötig, daß er die auf uns gekommenen antiken Bildwerke wohl studiert und sich die ungesuchte Grazie ihres Sitzens, Stehens und Gehens wohl eingeprägt habe.

Auch ist es mit dem Körperlichen noch nicht getan. Er muß auch durch ein fleißiges Studium der besten alten und neuen Schriftsteller seinem Geiste eine große Ausbildung geben, welches ihm denn nicht bloß zum Verständnis seiner Rolle zugute kommen, sondern auch seinem ganzen Wesen und seiner ganzen Haltung einen höheren Anstrich geben wird. Doch erzählen Sie weiter! Was war denn noch sonst Gutes an ihm zu bemerken?«

»Es schien mir,« sagte ich, »als habe ihm eine große Liebe für seinen Gegenstand beigewohnt. Er hatte durch ein emsiges Studium sich alles einzelne klar gemacht, so daß er in seinem Helden mit großer Freiheit lebte und webte und nichts übrig blieb, was nicht durchaus wäre das Seinige geworden. Hieraus entstand denn ein richtiger Ausdruck und eine richtige Betonung jedes einzelnen Wortes, und eine solche Sicherheit, daß für ihn der Souffleur eine ganz überflüssige Person war.«

»Das freut mich,« sagte Goethe, »und so ist es recht. Nichts ist schrecklicher, als wenn die Schauspieler nicht Herr ihrer Rolle sind und bei jedem neuen Satz nach dem Souffleur horchen müssen, wodurch ihr Spiel sogleich null ist und sogleich ohne alle Kraft und Leben. Wenn bei einem Stück wie meine ›Iphigenie‹ die Schauspieler in ihren Rollen nicht durchaus fest sind, so ist es besser, die Aufführung zu unterlassen. Denn das Stück kann bloß Erfolg haben, wenn alles sicher, rasch und lebendig geht.

Nun, nun! – Es ist mir lieb, daß es mit Krügern so gut abgelaufen. Zelter hatte ihn mir empfohlen, und es wäre mir fatal gewesen, wenn es mit ihm nicht so gut gegangen wäre, wie es ist. Ich werde ihm auch meinerseits einen kleinen Spaß machen und ihm ein hübsch eingebundenes Exemplar der ›Iphigenie‹ zum Andenken verehren mit einigen eingeschriebenen Versen in bezug auf sein Spiel.«

Das Gespräch lenkte sich auf die ›Antigone‹ von Sophokles, auf die darin waltende hohe Sittlichkeit und endlich auf die Frage: wie das Sittliche in die Welt gekommen.

»Durch Gott selber,« erwiderte Goethe, »wie alles andere Gute. Es ist kein Produkt menschlicher Reflexion, sondern es ist angeschaffene und angebotene schöne Natur. Es ist mehr oder weniger den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern. Diese haben durch große Taten oder Lehren ihr göttliches Innere offenbart, welches sodann durch die Schönheit seiner Erscheinung die Liebe der Menschen ergriff und zur Verehrung und Nacheiferung gewaltig fortzog.

Der Wert des Sittlich-Schönen und Guten aber konnte durch Erfahrung und Weisheit zum Bewußtsein gelangen, indem das Schlechte sich in seinen Folgen als ein solches erwies, welches das Glück des Einzelnen wie des Ganzen zerstörte, dagegen das Edle und Rechte als ein solches, welches das besondere und allgemeine Glück herbeiführte und befestigte. So konnte das Sittlich-Schöne zur Lehre werden und sich als ein Ausgesprochenes über ganze Völkerschaften verbreiten.«

»Ich las neulich irgendwo die Meinung ausgesprochen,« versetzte ich, »die griechische Tragödie habe sich die Schönheit des Sittlichen zum besonderen Gegenstand gemacht.«

»Nicht sowohl das Sittliche,« erwiderte Goethe, »als das Rein-Menschliche in seinem ganzen Umfange; besonders aber in den Richtungen, wo es, mit einer rohen Macht und Satzung in Konflikt geratend, tragischer Natur werden konnte. In dieser Region lag denn freilich auch das Sittliche, als ein Hauptteil der menschlichen Natur.

Das Sittliche der ›Antigone‹ ist übrigens nicht von Sophokles erfunden, sondern es lag im Sujet, welches aber Sophokles um so lieber wählen mochte, als es neben der sittlichen Schönheit so viel Dramatisch-Wirksames in sich hatte.«

Goethe sprach sodann über den Charakter des Kreon und der Ismene und über die Notwendigkeit dieser beiden Figuren zur Entwickelung der schönen Seele der Heldin. »Alles Edle«, sagte er, »ist an sich stiller Natur und scheint zu schlafen, bis es durch Widerspruch geweckt und herausgefordert wird. Ein solcher Widerspruch ist Kreon, welcher teils der Antigone wegen da ist, damit sich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre, teils aber um sein selbst willen, damit sein unseliger Irrtum uns als ein Hassenswürdiges erscheine.

Da aber Sophokles uns das hohe Innere seiner Heldin auch vor der Tat zeigen wollte, so mußte noch ein anderer Widerspruch da sein, woran sich ihr Charakter entwickeln konnte, und das ist die Schwester Ismene. In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird.«

Das Gespräch wendete sich auf dramatische Schriftsteller im allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Masse des Volkes von ihnen ausgehe und ausgehen könne.

»Ein großer dramatischer Dichter,« sagte Goethe, »wenn er zugleich produktiv ist und ihm eine mächtige edle Gesinnung beiwohnt, die alle seine Werke durchdringt, kann erreichen, daß die Seele seiner Stücke zur Seele des Volkes wird. Ich dächte, das wäre etwas, das wohl der Mühe wert wäre. Von Corneille ging eine Wirkung aus, die fähig war, Heldenseelen zu bilden. Das war etwas für Napoleon, der ein Heldenvolk nötig hatte; weshalb er denn von Corneille sagte, daß, wenn er noch lebte, er ihn zum Fürsten machen würde. Ein dramatischer Dichter, der seine Bestimmung kennt, soll daher unablässig an seiner höheren Entwickelung arbeiten, damit die Wirkung, die von ihm auf das Volk ausgeht, eine wohltätige und edle sei.

Man studiere nicht die Mitgeborenen und Mitstrebenden, sondern große Menschen der Vorzeit, deren Werke seit Jahrhunderte gleichen Wert und gleiches Ansehen behalten haben. Ein wirklich hochbegabter Mensch wird das Bedürfnis dazu ohnedies in sich fühlen, und gerade dieses Bedürfnis des Umgangs mit großen Vorgängern ist das Zeichen einer höheren Anlage. Man studiere Molière, man studiere Shakespeare, aber vor allen Dingen die alten Griechen und immer die Griechen.«

»Für hochbegabte Naturen«, bemerkte ich, »mag das Studium der Schriften des Altertums allerdings ganz unschätzbar sein; allein im allgemeinen scheint es auf den persönlichen Charakter wenig Einfluß auszuüben. Wenn das wäre, so müßten ja alle Philologen und Theologen die vortrefflichsten Menschen sein. Dies ist aber keineswegs der Fall, und es sind solche Kenner der Griechischen und lateinischen Schriften des Altertums eben tüchtige Leute oder auch arme Wichte, je nach den guten oder schlechten Eigenschaften, die Gott in ihre Natur gelegt oder die sie von Vater und Mutter mitbrachten.«

»Dagegen ist nichts zu erinnern,« erwiderte Goethe; »aber damit ist durchaus nicht gesagt, daß das Studium der Schriften des Altertums für die Bildung eines Charakters überhaupt ohne Wirkung wäre. Ein Lump bleibt freilich ein Lump, und eine kleinliche Natur wird durch einen selbst täglichen Verkehr mit der Großheit antiker Gesinnung um keinen Zoll größer werden. Allein ein edler Mensch, in dessen Seele Gott die Fähigkeit künftiger Charaktergröße und Geisteshoheit gelegt, wird durch die Bekanntschaft und den vertraulichen Umgang mit den erhabenen Naturen griechischer und römischer Vorzeit sich auf das herrlichste entwickeln und mit jedem Tage zusehends zu ähnlicher Größe heranwachsen.«

 


 

Mittwoch, den 18. April 1827

Mit Goethe vor Tisch spazieren gefahren eine Strecke die Straße nach Erfurt hinaus. Es begegnete uns allerhand Frachtfuhrwerk mit Waren für die Leipziger Messe. Auch einige Züge Koppelpferde, worunter sehr schöne Tiere.

»Ich muß über die Ästhetiker lachen,« sagte Goethe, »welche sich abquälen, dasjenige Unaussprechliche, wofür wir den Ausdruck ›schön‹ gebrauchen, durch einige abstrakte Worte in einen Begriff zu bringen. Das Schöne ist ein Urphänomen, das zwar nie selber zur Erscheinung kommt, dessen Abglanz aber in tausend verschiedenen Äußerungen des schaffenden Geistes sichtbar wird und so mannigfaltig und so verschiedenartig ist, als die Natur selber.«

»Ich habe oft aussprechen hören,« sagte ich, »die Natur sei immer schön; sie sei die Verzweiflung des Künstlers, indem er selten fähig sei, sie ganz zu erreichen.«

»Ich weiß wohl,« erwiderte Goethe, »daß die Natur oft einen unerreichbaren Zauber entfaltet; allein ich bin keineswegs der Meinung, daß sie in allen ihren Äußerungen schön sei. Ihre Intentionen sind zwar immer gut, allein die Bedingungen sind es nicht, die dazu gehören, sie stets vollkommen zur Erscheinung gelangen zu lassen.

So ist die Eiche ein Baum, der sehr schön sein kann. Doch wie viele günstige Umstände müssen zusammentreffen, ehe es der Natur einmal gelingt, ihn wahrhaft schön hervorzubringen. Wächst die Eiche im Dickicht des Waldes heran, von bedeutenden Nachbarstämmen umgeben, so wird ihre Tendenz immer nach oben gehen, immer nach freier Luft und Licht. Nach den Seiten hin wird sie nur wenige schwache Äste treiben, und auch diese werden im Laufe des Jahrhunderts wieder verkümmern und abfallen. Hat sie aber endlich erreicht, sich mit ihrem Gipfel oben im Freien zu fühlen, so wird sie sich beruhigen und nun anfangen, sich nach den Seiten hin auszubreiten und eine Krone zu bilden. Allein sie ist auf dieser Stufe bereits über ihr mittleres Alter hinaus, ihr vieljähriger Trieb nach oben hat ihre frischesten Kräfte hingenommen, und ihr Bestreben, sich jetzt noch nach der Breite hin mächtig zu erweisen, wird nicht mehr den rechten Erfolg haben. Hoch, stark und schlankstämmig wird sie nach vollendetem Wuchse dastehen, doch ohne ein solches Verhältnis zwischen Stamm und Krone, um in der Tat schön zu sein.

Wächst hinwieder die Eiche an feuchten, sumpfigen Orten und ist der Boden zu nahrhaft, so wird sie, bei gehörigem Raum, frühzeitig viele Äste und Zweige nach allen Seiten treiben; es werden jedoch die widerstrebenden, retardierenden Einwirkungen fehlen, das Knorrige, Eigensinnige, Zackige wird sich nicht entwickeln, und, aus einiger Ferne gesehen, wird der Baum ein schwaches, lindenartiges Ansehen gewinnen, und er wird nicht schön sein, wenigstens nicht als Eiche.

Wächst sie endlich an bergigen Abhängen, auf dürftigem, steinichtem Erdreich, so wird sie zwar im Übermaß zackig und knorrig erscheinen, allein es wird ihr an freier Entwickelung fehlen, sie wird in ihrem Wuchs frühzeitig kümmern und stocken, und sie wird nie erreichen, daß man von ihr sage: es walte in ihr etwas, das fähig sei, uns in Erstaunen zu setzen.«

Ich freute mich dieser guten Worte. »Sehr schöne Eichen«, sagte ich, »habe ich gesehen, als ich vor einigen Jahren von Göttingen aus mitunter kleine Touren ins Wesertal machte. Besonders mächtig fand ich sie im Solling in der Gegend von Höxter.«

»Ein sandiger oder mit Sand gemischter Boden,« fuhr Goethe fort, »wo ihr nach allen Richtungen hin mächtige Wurzeln zu treiben vergönnt ist, scheint ihr am günstigsten zu sein. Und dann will sie einen Stand, der ihr gehörigen Raum gewährt, alle Einwirkungen von Licht und Sonne und Regen und Wind von allen Seiten her in sich aufzunehmen. Im behaglichen Schutz vor Wind und Wetter herangewachsen, wird aus ihr nichts; aber ein hundertjähriger Kampf mit den Elementen macht sie stark und mächtig, so daß nach vollendetem Wuchs ihre Gegenwart uns Erstaunen und Bewunderung einflößt.«

»Könnte man nicht aus diesen Ihren Andeutungen«, versetzte ich, »ein Resultat ziehen und sagen: ein Geschöpf sei dann schön, wenn es zu dem Gipfel seiner natürlichen Entwickelung gelangt sei?«

»Recht wohl,« erwiderte Goethe; »doch müßte man zuvor aussprechen, was man unter dem Gipfel der natürlichen Entwickelung wolle verstanden haben.«

»Ich würde damit«, erwiderte ich, »diejenige Periode des Wachstums bezeichnen, wo der Charakter, der diesem oder jenem Geschöpf eigentümlich ist, vollkommen ausgeprägt erscheint.«

»In diesem Sinne«, erwiderte Goethe, »wäre nichts dagegen einzuwenden, besonders wenn man noch hinzufügte, daß zu solchem vollkommen ausgeprägten Charakter zugleich gehöre, daß der Bau der verschiedenen Glieder eines Geschöpfes dessen Naturbestimmung angemessen und also zweckmäßig sei.

So wäre z. B. ein mannbares Mädchen, dessen Naturbestimmung ist, Kinder zu gebären und Kinder zu säugen, nicht schön ohne gehörige Breite des Beckens und ohne gehörige Fülle der Brüste. Doch wäre auch ein Zuviel nicht schön, denn das würde über das Zweckmäßige hinausgehen.

Warum konnten wir vorhin einige der Reitpferde, die uns begegneten, schön nennen, als eben wegen der Zweckmäßigkeit ihres Baues? Es war nicht bloß das Zierliche, Leichte, Graziöse ihrer Bewegungen, sondern noch etwas mehr, worüber ein guter Reuter und Pferdekenner reden müßte und wovon wir anderen bloß den allgemeinen Eindruck empfinden.«

»Könnte man nicht auch«, sagte ich, »einen Karrengaul schön nennen, wie uns vorhin einige sehr starke vor den Frachtwagen der Brabanter Fuhrleute begegneten?«

»Allerdings,« erwiderte Goethe; »und warum nicht? Ein Maler fände an dem stark ausgeprägten Charakter, an dem mächtigen Ausdruck von Knochen, Sehnen und Muskeln eines solchen Tieres wahrscheinlich noch ein weit mannigfaltigeres Spiel von allerlei Schönheiten, als an dem milderen, egaleren Charakter eines zierlichen Reitpferdes.

Die Hauptsache ist immer,« fuhr Goethe fort, »daß die Rasse rein und der Mensch nicht seine verstümmelnde Hand angelegt hat. Ein Pferd, dem Schweif und Mähne abgeschnitten, ein Hund mit gestutzen Ohren, ein Baum, dem man die mächtigsten Zweige genommen und das übrige kugelförmig geschnitzelt hat, und über alles eine Jungfrau, deren Leib von Jugend auf durch Schnürbrüste verdorben und entstellt worden, alles dieses sind Dinge, von denen sich der gute Geschmack abwendet und die bloß in dem Schönheits-Katechismus der Philister ihre Stelle haben.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen waren wir wieder zurückgekehrt. Wir machten vor Tisch noch einige Gänge im Hausgarten. Das Wetter war sehr schön; die Frühlingssonne fing an mächtig zu werden und an Büschen und Hecken schon allerlei Laub und Blüten hervorzulocken. Goethe war voller Gedanken und Hoffnungen eines genußreichen Sommers.

Darauf bei Tisch waren wir sehr heiter. Der junge Goethe hatte die ›Helena‹ seines Vaters gelesen und sprach darüber mit vieler Einsicht eines natürlichen Verstandes. Über den im antiken Sinne gedichteten Teil ließ er eine entschiedene Freude blicken, während ihm die opernartige romantische Hälfte, wie man merken konnte, beim Lesen nicht lebendig geworden.

»Du hast im Grunde recht, und es ist ein eigenes Ding«, sagte Goethe. »Man kann zwar nicht sagen, daß das Vernünftige immer schön sei; allein das Schöne ist doch immer vernünftig, oder wenigstens es sollte so sein. Der antike Teil gefällt dir aus dem Grunde, weil er faßlich ist, weil du die einzelnen Teile übersehen und du meiner Vernunft mit der deinigen beikommen kannst. In der zweiten Hälfte ist zwar auch allerlei Verstand und Vernunft gebraucht und verarbeitet worden, allein es ist schwer und erfordert einiges Studium, ehe man den Dingen beikommt und ehe man mit eigener Vernunft die Vernunft des Autors wieder herausfindet.«

Goethe sprach darauf mit allerlei Lob und Anerkennung über die Gedichte der Madame Tastü, mit deren Lektüre er sich in diesen Tagen beschäftiget.

Als die übrigen gingen und ich mich auch anschickte zu gehen, bat er mich, noch ein wenig zu bleiben. Er ließ ein Portefeuille mit Kupferstichen und Radierungen niederländischer Meister herbeibringen.

»Ich will Sie doch«, sagte er, »zum Nachtisch noch mit etwas Gutem traktieren.« Mit diesen Worten legte er mir ein Blatt vor, eine Landschaft von Rubens. »Sie haben«, sagte er, »dieses Bild zwar schon bei mir gesehen; allein man kann etwas Vortreffliches nicht oft genug betrachten, und diesmal handelt es sich noch dazu um etwas ganz Besonderes. Möchten Sie mir wohl sagen, was Sie sehen?«

»Nun,« sagte ich, »wenn ich von der Tiefe anfange, so haben wir im äußersten Hintergrunde einen sehr hellen Himmel, wie eben nach Sonnenuntergang. Dann gleichfalls in der äußersten Ferne ein Dorf und eine Stadt in der Helle des Abendlichtes. In der Mitte des Bildes sodann einen Weg, worauf eine Herde Schafe dem Dorfe zueilet. Rechts im Bilde allerlei Heuhaufen und einen Wagen, der soeben vollgeladen worden. Angeschirrte Pferde grasen in der Nähe. Ferner, seitwärts in Gebüschen zerstreut, mehrere weidende Stuten mit ihren Fohlen, die das Ansehen haben, als würden sie in der Nacht draußen bleiben. Sodann, näher dem Vordergrunde zu, eine Gruppe großer Bäume; und zuletzt, ganz im Vordergrunde links, verschiedene nach Hause gehende Arbeiter.«

»Gut,« sagte Goethe, »das wäre wohl alles. Aber die Hauptsache fehlt noch. Alle diese Dinge, die wir dargestellt sehen: die Herde Schafe, der Wagen mit Heu, die Pferde, die nach Hause gehenden Feldarbeiter, von welcher Seite sind sie beleuchtet?«

»Sie haben das Licht«, sagte ich, »auf der uns zugekehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Besonders die nach Hause gehenden Feldarbeiter im Vordergrunde sind sehr im Hellen, welches einen trefflichen Effekt tut.«

»Wodurch hat aber Rubens diese schöne Wirkung hervorgebracht

»Dadurch,« antwortete ich, »daß er diese hellen Figuren auf einem dunkelen Grunde erscheinen läßt.«

»Aber dieser dunkele Grund,« erwiderte Goethe, »wodurch entsteht er?«

»Es ist der mächtige Schatten,« sagte ich, »den die Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. – Aber wie,« fuhr ich mit Überraschung fort, »die Figuren werfen die Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen wirft den Schatten den Beschauer entgegen! – Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten, welches aber ja gegen alle Natur ist!«

»Das ist eben der Punkt,« erwiderte Goethe mit einigem Lächeln. »Das ist es, wodurch Rubens sich groß erweiset und an den Tag legt, daß er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höheren Zwecken gemäß traktiert. Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam und Sie können immerhin sagen, es sei gegen die Natur. Allein wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Notwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat.

Der Künstler«, fuhr Goethe fort, »muß freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Tieres nichts willkürlich ändern, so daß dadurch der eigentümliche Charakter verletzt würde; denn das hieße die Natur vernichten. Allein in den höheren Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte getan.

Der Künstler bat zur Natur ein zwiefaches Verhältnis: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.

Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems.

Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur so obenhin, so kommt uns alles so natürlich vor, als sei es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der Natur gesehen worden, ebensowenig als eine Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr natürlich erscheint, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens suchen.«

»Ließen sich nicht auch«, sagte ich, »ähnliche kühne Züge künstlerischer Fiktion, wie dieses doppelte Licht von Rubens, in der Literatur finden?«

»Da brauchen wir nicht eben weit zu gehen,« erwiderte Goethe nach einigem Nachdenken. »Ich könnte sie Ihnen im Shakespeare zu Dutzenden nachweisen. Nehmen Sie nur den ›Macbeth‹. Als die Lady ihren Gemahl zur Tat begeistern will, sagt sie:

Ich habe Kinder aufgesäugt –

Ob dieses wahr ist oder nicht, kommt gar nicht darauf an; aber die Lady sagt es, und sie muß es sagen, um ihrer Rede dadurch Nachdruck zu geben. Im späteren Verlauf des Stückes aber, als Macduff die Nachricht von dem Untergange der Seinen erfährt, ruft er im wilden Grimme aus:

Er hat keine Kinder!

Diese Worte des Macduff kommen also mit denen der Lady in Widerspruch – aber das kümmert Shakespeare nicht. Ihm kommt es auf die Kraft der jedesmaligen Rede an, und so wie die Lady zum höchsten Nachdruck ihrer Worte sagen mußte: ›Ich habe Kinder aufgesäugt‹, so mußte auch zu eben diesem Zweck Macduff sagen: ›Er hat keine Kinder!‹

Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »sollen wir es mit dem Pinselstriche eines Malers oder dem Worte eines Dichters nicht so genau und kleinlich nehmen; vielmehr sollen wir ein Kunstwerk, das mit kühnem und freiem Geiste gemacht worden, auch wo möglich mit ebensolchem Geiste wieder anschauen und genießen.

So wäre es töricht, wenn man aus den Worten des Macbeth:

Gebier mir keine Töchter –

den Schluß ziehen wollte, die Lady sei ein ganz jugendliches Wesen, das noch nicht geboren habe. Und ebenso töricht wäre es, wenn man weiter gehen und verlangen wollte, die Lady müsse auf der Bühne als eine solche sehr jugendliche Person dargestellt werden.

Shakespeare läßt den Macbeth diese Worte keineswegs sagen, um damit die Jugend der Lady zu beweisen, sondern diese Worte, wie die vorhin angeführten der Lady und des Macduff, sind bloß rhetorischer Zwecke wegen da und wollen weiter nichts beweisen, als daß der Dichter seine Personen jedesmal das reden läßt, was eben an dieser Stelle gehörig, wirksam und gut ist, ohne sich viel und ängstlich zu bekümmern und zu kalkulieren, ob diese Worte vielleicht mit einer anderen Stelle in scheinbaren Widerspruch geraten möchten.

Überhaupt hat Shakespeare bei seinen Stücken schwerlich daran gedacht, daß sie als gedruckte Buchstaben vorliegen würden, die man überzählen und gegeneinander vergleichen und berechnen möchte; vielmehr hatte er die Bühne vor Augen, als er schrieb; er sah seine Stücke als ein Bewegliches, Lebendiges an, das von den Brettern herab den Augen und Ohren rasch vorüberfließen würde, das man nicht festhalten und im einzelnen bekritteln könnte, und wobei es bloß darauf ankam, immer nur im gegenwärtigen Moment wirksam und bedeutend zu sein.«

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