Dienstag, den 24. April 1827

August Wilhelm von Schlegel ist hier. Goethe machte mit ihm vor Tisch eine Spazierfahrt ums Webicht und gab ihm zu Ehren diesen Abend einen großen Tee, wobei auch Schlegels Reisegefährte, Herr Doktor Lassen, gegenwärtig. Alles in Weimar, was irgend Namen und Rang hatte, war dazu eingeladen, so daß das Getreibe in Goethes Zimmern groß war. Herr von Schlegel war ganz von Damen umringt, denen er aufgerollte, schmale Streifen mit indischen Götterbildern vorzeigte, sowie den ganzen Text von zwei großen indischen Gedichten, von denen außer ihm selbst und Dr. Lassen wahrscheinlich niemand etwas verstand. Schlegel war höchst sauber angezogen und höchst jugendlichen, blühenden Ansehens, so daß einige der Anwesenden behaupten wollten, er scheine nicht unerfahren in Anwendung kosmetischer Mittel.

Goethe zog mich in ein Fenster. »Nun, wie gefällt er Ihnen?« – »Noch ganz so wie sonst«, erwiderte ich. – »Er ist freilich in vieler Hinsicht kein Mann,« fuhr Goethe fort »aber doch kann man ihm seiner vielseitigen gelehrten Kenntnisse und seiner großen Verdienste wegen schon etwas zugute halten.«

 


 

Mittwoch, den 25. April 1827

Bei Goethe zu Tisch mit Herrn Dr. Lassen. Schlegel war heute abermals an Hof zur Tafel gezogen. Herr Lassen entwickelte große Kenntnisse der indischen Poesie, die Goethen höchst willkommen zu sein schienen, um sein eigenes, immerhin nur sehr lückenhaftes Wissen in diesen Dingen zu ergänzen.

Ich war abends wieder einige Augenblicke bei Goethe. Er erzählte mir, daß Schlegel in der Dämmerung bei ihm gewesen und daß er mit ihm ein höchst bedeutendes Gespräch über literarische und historische Gegenstände geführt, das für ihn sehr belehrend gewesen. »Nur muß man«, fügte er hinzu, »keine Trauben von den Dornen und keine Feigen von den Disteln verlangen; übrigens ist alles ganz vortrefflich.«

 


 

Donnerstag, den 3. Mai 1827

Die höchst gelungene Übersetzung der dramatischen Werke Goethes von Stapfer hat in dem zu Paris erscheinenden ›Globe‹ des vorigen Jahres durch Herrn J. J. Ampère eine Beurteilung gefunden, die nicht weniger vortrefflich ist und die Goethen so angenehm berührte, daß er sehr oft darauf zurückkam und sich sehr oft mit großer Anerkennung darüber ausließ.

»Der Standpunkt des Herrn Ampère«, sagte er, »ist ein sehr hoher. Wenn deutsche Rezensenten bei ähnlichen Anlässen gern von der Philosophie ausgehen und bei Betrachtung und Besprechung eines dichterischen Erzeugnisses auf eine Weise verfahren, daß dasjenige, was sie zu dessen Aufklärung beibringen, nur Philosophen ihrer eigenen Schule zugänglich, für andere Leute aber weit dunkeler ist als das Werk, das sie erläutern wollen, selber, so benimmt sich daliegen Herr Ampère durchaus praktisch und menschlich. Als einer, der das Metier aus dem Grunde kennt, zeigt er die Verwandtschaft des Erzeugten mit dem Erzeuger und beurteilt die verschiedenen poetischen Produktionen als verschiedene Früchte verschiedener Lebensepochen des Dichters.

Er hat den abwechselnden Gang meiner irdischen Laufbahn und meiner Seelenzustände im tiefsten studiert und sogar die Fähigkeit gehabt, das zu sehen, was ich nicht ausgesprochen und was sozusagen nur zwischen den Zeilen zu lesen war. Wie richtig hat er bemerkt, daß ich in den ersten zehn Jahren meines weimarischen Dienst- und Hoflebens so gut wie gar nichts gemacht, daß die Verzweiflung mich nach Italien getrieben, und daß ich dort, mit neuer Lust zum Schaffen, die Geschichte des Tasso ergriffen, um mich in Behandlung dieses angemessenen Stoffes von demjenigen freizumachen, was mir noch aus meinen weimarischen Eindrücken und Erinnerungen Schmerzliches und Lästiges anklebte. Sehr treffend nennt er daher auch den ›Tasso‹ einen gesteigerten ›Werther‹.

Sodann über den ›Faust‹ äußerte er sich nicht weniger geistreich, indem er nicht bloß das düstere, unbefriedigte Streben der Hauptfigur, sondern auch den Hohn und die herbe Ironie des Mephistopheles als Teile meines eigenen Wesens bezeichnet.«

In dieser und ähnlicher anerkennender Weise sprach Goethe über Herrn Ampère sehr oft; wir faßten für ihn ein entschiedenes Interesse, wir suchten uns seine Persönlichkeit klar zu machen, und wenn uns dieses auch nicht gelingen konnte, so waren wir doch darüber einig, daß es ein Mann von mittleren Jahren sein müsse, um die Wechselwirkung von Leben und Dichten so aus dem Grunde zu verstehen.

Sehr überrascht waren wir daher, als Herr Ampère vor einigen Tagen in Weimar eintraf und sich uns als ein lebensfroher Jüngling von einigen zwanzig Jahren darstellte; und nicht weniger überrascht waren wir, als er gegen uns im Laufe eines weiteren Verkehrs äußerte, daß sämtliche Mitarbeiter des ›Globe‹, dessen Weisheit, Mäßigung und hohe Bildungsstufe wir oft bewundert, lauter junge Leute wären wie er.

»Ich begreife wohl,« sagte ich, »daß einer jung sein kann, um Bedeutendes zu produzieren und, gleich Mérimée, im zwanzigsten Jahre treffliche Stücke zu schreiben; allein daß einem bei ähnlich jungen Jahren eine solche Übersicht und so tiefe Einblicke zu Gebote stehen, um eine solche Höhe des Urteils zu besitzen wie die Herren des ›Globe‹, das ist mir durchaus etwas Neues.«

»Ihnen in Ihrer Heide«, erwiderte Goethe, »ist es freilich nicht so leicht geworden, und auch wir andern im mittleren Deutschland haben unser bißchen Weisheit schwer genug erkaufen müssen. Denn wir führen doch im Grunde alle ein isoliertes armseliges Leben! Aus dem eigentlichen Volke kommt uns sehr wenig Kultur entgegen, und unsere sämtlichen Talente und guten Köpfe sind über ganz Deutschland ausgesäet. Da sitzt einer in Wien, ein anderer in Berlin, ein anderer in Königsberg, ein anderer in Bonn oder Düsseldorf, alle durch funfzig bis hundert Meilen voneinander getrennt, so daß persönliche Berührungen und ein persönlicher Austausch von Gedanken zu den Seltenheiten gehört. Was dies aber wäre, empfinde ich, wenn Männer wie Alexander von Humboldt hier durchkommen und mich in dem, was ich suche und mir zu wissen nötig, in einem einzigen Tage weiter bringen, als ich sonst auf meinem einsamen Wege in Jahren nicht erreicht hätte.

Nun aber denken Sie sich eine Stadt wie Paris, wo die vorzüglichsten Köpfe eines großen Reiches auf einem einzigen Fleck beisammen sind und in täglichem Verkehr, Kampf und Wetteifer sich gegenseitig belehren und steigern, wo das Beste aus allen Reichen der Natur und Kunst des ganzen Erdbodens der täglichen Anschauung offen steht; diese Weltstadt denken Sie sich, wo jeder Gang über eine Brücke oder einen Platz an eine große Vergangenheit erinnert und wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat. Und zu diesem allen denken Sie sich nicht das Paris einer dumpfen geistlosen Zeit, sondern das Paris des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem seit drei Menschenaltern durch Männer wie Molière, Voltaire, Diderot und ihresgleichen eine solche Fülle von Geist in Kurs gesetzt ist, wie sie sich auf der ganzen Erde auf einem einzigen Fleck nicht zum zweiten Male findet, und Sie werden begreifen, daß ein guter Kopf wie Ampère, in solcher Fülle aufgewachsen, in seinem vierundzwanzigsten Jahre wohl etwas sein kann.

Sie sagten doch vorhin,« fuhr Goethe fort, »Sie könnten sich sehr wohl denken, daß einer in seinem zwanzigsten Jahre so gute Stücke schreiben könne wie Mérimée. Ich habe gar nichts dawider und bin auch im ganzen recht wohl Ihrer Meinung, daß eine jugendlich-tüchtige Produktion leichter sei, als ein jugendlich-tüchtiges Urteil. Allein in Deutschland soll einer es wohl bleiben lassen, so jung wie Mérimée etwas so Reifes hervorzubringen, als er in den Stücken seiner ›Clara Gazul‹ getan. Es ist wahr, Schiller war recht jung, als er seine ›Räuber‹, seine ›Kabale und Liebe‹ und seinen ›Fiesco‹ schrieb; allein wenn wir aufrichtig sein wollen, so sind doch alle diese Stücke mehr Äußerungen eines außergewöhnlichen Talents, als daß sie von großer Bildungsreife des Autors zeugten. Daran ist aber nicht Schiller schuld, sondern der Kulturzustand seiner Nation und die große Schwierigkeit, die wir alle erfahren, uns auf einsamen Wegen durchzuhelfen.

Nehmen Sie dagegen Béranger. Er ist der Sohn armer Eltern, der Abkömmling eines armen Schneiders, dann armer Buchdruckerlehrling, dann mit kleinem Gehalt angestellt in irgendeinem Bureau, er hat nie eine gelehrte Schule, nie eine Universität besucht, und doch sind seine Lieder so voll reifer Bildung, so voll Grazie, so voll Geist und feinster Ironie und von einer solchen Kunstvollendung und meisterhaften Behandlung der Sprache, daß er nicht bloß die Bewunderung von Frankreich, sondern des ganzen gebildeten Europas ist.

Denken Sie sich aber diesen selben Béranger, anstatt in Paris geboren und in dieser Weltstadt herangekommen, als den Sohn eines armen Schneiders zu Jena oder Weimar, und lassen Sie ihn seine Laufbahn an gedachten kleinen Orten gleich kümmerlich fortsetzen, und fragen Sie sich, welcher Früchte dieser selbe Baum, in einem solchen Boden und in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen, wohl würde getragen haben.

Also, mein Guter, ich wiederhole: es kommt darauf an, daß in einer Nation viel Geist und tüchtige Bildung im Kurs sei, wenn ein Talent sich schnell und freudig entwickeln soll.

Wir bewundern die Tragödien der alten Griechen; allein recht besehen, sollten wir mehr die Zeit und die Nation bewundern, in der sie möglich waren, als die einzelnen Verfasser. Denn wenn auch diese Stücke unter sich ein wenig verschieden, und wenn auch der eine dieser Poeten ein wenig größer und vollendeter erscheint als der andere, so trägt doch, im groben und ganzen betrachtet, alles nur einen einzigen durchgehenden Charakter. Dies ist der Charakter des Großartigen, des Tüchtigen, des Gesunden, des Menschlich-Vollendeten, der hohen Lebensweisheit, der erhabenen Denkungsweise, der rein-kräftigen Anschauung, und welche Eigenschaften man noch sonst aufzählen könnte. Finden sich nun aber alle diese Eigenschaften nicht bloß in den auf uns gekommenen dramatischen, sondern auch in den lyrischen und epischen Werken; finden wir sie ferner bei den Philosophen, Rhetoren und Geschichtschreibern, und in gleich hohem Grade in den auf uns gekommenen Werken der bildenden Kunst: so muß man sich wohl überzeugen, daß solche Eigenschaften nicht bloß einzelnen Personen anhaften, sondern daß sie der Nation und der ganzen Zeit angehörten und in ihr in Kurs waren.

Nehmen Sie Burns. Wodurch ist er groß, als daß die alten Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volkes lebten, daß sie ihm sozusagen bei der Wiege gesungen wurden, daß er als Knabe unter ihnen heranwuchs und die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich ihm so einlebte, daß er darin eine lebendige Basis hatte, worauf er weiterschreiten konnte. Und ferner, wodurch ist er groß, als daß seine eigenen Lieder in seinem Volke sogleich empfängliche Ohren fanden, daß sie ihm alsobald im Felde von Schnittern und Binderinnen entgegenklangen und er in der Schenke von heiteren Gesellen damit begrüßt wurde. Da konnte es freilich etwas werden!

Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! – Was lebte denn in meiner Jugend von unsern nicht weniger bedeutenden alten Liedern im eigentlichen Volke? Herder und seine Nachfolger mußten erst anfangen sie zu sammeln und der Vergessenheit zu entreißen: dann hatte man sie doch wenigstens gedruckt in Bibliotheken. Und später, was haben nicht Bürger und Voß für Lieder gedichtet! Wer wollte sagen, daß sie geringer und weniger volkstümlich wären als die des vortrefflichen Burns! Allein was ist davon lebendig geworden, so daß es uns aus dem Volke wieder entgegenklänge? – Sie sind geschrieben und gedruckt worden und stehen in Bibliotheken, ganz gemäß dem allgemeinen Lose deutscher Dichter. Von meinen eigenen Liedern, was lebt denn? Es wird wohl eins und das andere einmal von einem hübschen Mädchen am Klaviere gesungen, allein im eigentlichen Volke ist alles stille. Mit welchen Empfindungen muß ich der Zeit gedenken, wo italienische Schiffer mir Stellen des ›Tasso‹ sangen!

Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert, allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, daß sie gleich den Griechen der Schönheit huldigen, daß sie sich für ein hübsches Lied begeistern, und daß man von ihnen wird sagen können, es sei lange her, daß sie Barbaren gewesen.«

 


 

Freitag, den 4. Mai 1827

Zu Ehren Ampères und seines Freundes Stapfer großes Diner bei Goethe. Die Unterhaltung war laut, heiter und bunt durcheinander. Ampère erzählte Goethe viel von Mérimée, Alfred de Vigny und anderen bedeutenden Talenten. Auch ward sehr viel über Béranger gesprochen, dessen unvergleichliche Lieder Goethe täglich in Gedanken hat. Es kam zur Erwähnung, ob Bérangers heitere Liebeslieder vor seinen politischen den Vorzug verdienten; wobei Goethe seine Meinung dahin entwickelte, daß im allgemeinen ein rein poetischer Stoff einem politischen so sehr voranstehe, als die reine, ewige Naturwahrheit der Parteiansicht.

»Übrigens«, fuhr er fort, »hat Béranger in seinen politischen Gedichten sich als Wohltäter seiner Nation erwiesen. Nach der Invasion der Alliierten fanden die Franzosen in ihm das beste Organ ihrer gedrückten Gefühle. Er richtete sie auf durch vielfache Erinnerungen an den Ruhm der Waffen unter dem Kaiser, dessen Andenken noch in jeder Hütte lebendig und dessen große Eigenschaften der Dichter liebt, ohne jedoch eine Fortsetzung seiner despotischen Herrschaft zu wünschen. Jetzt, unter den Bourbonen, scheint es ihm nicht zu behagen. Es ist freilich ein schwach gewordenes Geschlecht! Und der jetzige Franzose will auf dem Throne große Eigenschaften, obgleich er selber gerne mitherrscht und selber gerne ein Wort mitredet.«

Nach Tisch verbreitete sich die Gesellschaft im Garten, und Goethe winkte mir zu einer Spazierfahrt um das Gehölz auf dem Wege nach Tiefurt.

Er war im Wagen sehr gut und liebevoll. Er freute sich, daß mit Ampère ein so hübsches Verhältnis angeknüpft worden, wovon er sich für die Anerkennung und Verbreitung der deutschen Literatur in Frankreich die schönsten Folgen verspreche.

»Ampère«, fügte er hinzu, »steht freilich in seiner Bildung so hoch, daß die nationalen Vorurteile, Apprehensionen und Borniertheiten vieler seiner Landsleute weit hinter ihm liegen und er seinem Geiste nach weit mehr ein Weltbürger ist als ein Bürger von Paris. Ich sehe übrigens die Zeit kommen, wo er in Frankreich Tausende haben wird, die ihm gleich denken.«

 


 

Sonntag, den 6. Mai 1827

Abermalige Tischgesellschaft bei Goethe, wobei dieselbigen Personen zugegen wie vorgestern. Man sprach sehr viel über die ›Helena‹ und den ›Tasso‹. Goethe erzählte uns darauf, wie er im Jahre 1797 den Plan gehabt, die Sage vom ›Tell‹ als episches Gedicht in Hexametern zu behandeln.

»Ich besuchte«, sagte er, »im gedachten Jahre noch einmal die kleinen Kantone und den Vierwaldstätter See, und diese reizende, herrliche und großartige Natur machte auf mich abermals einen solchen Eindruck, daß es mich anlockte, die Abwechselung und Fülle einer so unvergleichlichen Landschaft in einem Gedicht darzustellen. Um aber in meine Darstellung mehr Reiz, Interesse und Leben zu bringen, hielt ich es für gut, den höchst bedeutenden Grund und Boden mit ebenso bedeutenden menschlichen Figuren zu staffieren, wo denn die Sage vom ›Tell‹ mir als sehr erwünscht zustatten kam.

Den Tell dachte ich mir als einen urkräftigen, in sich selbst zufriedenen, kindlich-unbewußten Heldenmenschen, der als Lastträger die Kantone durchwandert, überall gekannt und geliebt ist, überall hilfreich, übrigens ruhig sein Gewerbe treibend, für Weib und Kinder sorgend, und sich nicht kümmernd, wer Herr oder Knecht sei.

Den Geßler dachte ich mir dagegen zwar als einen Tyrannen, aber als einen von der behaglichen Sorte, der gelegentlich Gutes tut, wenn es ihm Spaß macht, und gelegentlich Schlechtes tut, wenn es ihm Spaß macht, und dem übrigens das Volk und dessen Wohl und Wehe so völlig gleichgültige Dinge sind, als ob sie gar nicht existierten.

Das Höhere und Bessere der menschlichen Natur dagegen, die Liebe zum heimatlichen Boden, das Gefühl der Freiheit und Sicherheit unter dem Schutze vaterländischer Gesetze, das Gefühl ferner der Schmach, sich von einem fremden Wüstling unterjocht und gelegentlich mißhandelt zu sehen, und endlich die zum Entschluß reifende Willenskraft, ein so verhaßtes Joch abzuwerfen, alles dieses Höhere und Gute hatte ich den bekannten edlen Männern Walther Fürst, Stauffacher, Melchthal und anderen zugeteilt, und dieses waren meine eigentlichen Helden, meine mit Bewußtsein handelnden höheren Kräfte, während der Tell und Geßler zwar auch gelegentlich handelnd auftraten, aber im ganzen mehr Figuren passiver Natur waren.

Von diesem schönen Gegenstande war ich ganz voll, und ich summte dazu schon gelegentlich meine Hexameter. Ich sah den See im ruhigen Mondschein, erleuchtete Nebel in den Tiefen der Gebirge. Ich sah ihn im Glanz der lieblichsten Morgensonne, ein Jauchzen und Leben in Wald und Wiesen. Dann stellte ich einen Sturm dar, einen Gewittersturm, der sich aus den Schluchten auf den See wirft. Auch fehlte es nicht an nächtlicher Stille und an heimlichen Zusammenkünften über Brücken und Stegen.

Von allem diesem erzählte ich Schillern, in dessen Seele sich meine Landschaften und meine handelnden Figuren zu einem Drama bildeten. Und da ich andere Dinge zu tun hatte und die Ausführung meines Vorsatzes sich immer weiter verschob, so trat ich meinen Gegenstand Schillern völlig ab, der denn darauf sein bewundernswürdiges Gedicht schrieb.«

Wir freuten uns dieser Mitteilung, die allen interessant zu hören war. Ich machte bemerklich, daß es mir vorkomme, als ob die in Terzinen geschriebene prächtige Beschreibung des Sonnenaufgangs in der ersten Szene vom zweiten Teile des ›Faust‹ aus der Erinnerung jener Natureindrücke des Vierwaldstätter Sees entstanden sein möchte.

»Ich will es nicht leugnen,« sagte Goethe, »daß diese Anschauungen dort herrühren; ja ich hätte ohne die frischen Eindrücke jener wundervollen Natur den Inhalt der erwähnten Terzinen gar nicht denken können. Das ist aber auch alles, was ich aus dem Golde meiner Tell-Lokalitäten mir gemünzt habe. Das übrige ließ ich Schillern, der denn auch davon, wie wir wissen, den schönsten Gebrauch gemacht.« Das Gespräch wendete sich auf den ›Tasso‹, und welche Idee Goethe darin zur Anschauung zu bringen gesucht.

» Idee?« sagte Goethe – »daß ich nicht wüßte! Ich hatte das Leben Tassos, ich hatte mein eigenes Leben, und indem ich zwei so wunderliche Figuren mit ihren Eigenheiten zusammenwarf, entstand in mir das Bild des Tasso, dem ich als prosaischen Kontrast den Antonio entgegenstellte, wozu es mir auch nicht an Vorbildern fehlte. Die weiteren Hof-, Lebens- und Liebesverhältnisse waren übrigens in Weimar wie in Ferrara, und ich kann mit Recht von meiner Darstellung sagen: sie ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch.

Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! – Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. – Ei, so habt doch endlich einmal die Courage, euch den Eindrücken hinzugeben, euch ergötzen zu lassen, euch rühren zu lassen, euch erheben zu lassen, ja euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen – aber denkt nur nicht immer, es wäre alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre!

Da kommen sie und fragen, welche Idee ich in meinem ›Faust‹ zu verkörpern gesucht. Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte! – Vom Himmel durch die Welt zur Hölle, das wäre zur Not etwas; aber das ist keine Idee, sondern Gang der Handlung. Und ferner, daß der Teufel die Wette verliert, und daß ein aus schweren Verirrungen immerfort zum Besseren aufstrebender Mensch zu erlösen sei, das ist zwar ein wirksamer, manches erklärender guter Gedanke, aber es ist keine Idee, die dem Ganzen und jeder einzelnen Szene im besonderen zugrunde liege. Es hätte auch in der Tat ein schönes Ding werden müssen, wenn ich ein so reiches, buntes und höchst mannigfaltiges Leben, wie ich es im ›Faust‹ zur Anschauung gebracht, auf die magere Schnur einer einzigen durchgehenden Idee hätte reihen wollen!

»Es war im ganzen«, fuhr Goethe fort, »nicht meine Art, als Poet nach Verkörperung von etwas Abstraktem zu streben. Ich empfing in meinem Innern Eindrücke, und zwar Eindrücke sinnlicher, lebensvoller, lieblicher, bunter, hundertfältiger Art, wie eine rege Einbildungskraft es mir darbot; und ich hatte als Poet weiter nichts zu tun, als solche Anschauungen und Eindrücke in mir künstlerisch zu ründen und auszubilden und durch eine lebendige Darstellung so zum Vorschein zu bringen, daß andere dieselbigen Eindrücke erhielten, wenn sie mein Dargestelltes hörten oder lasen.

Wollte ich jedoch einmal als Poet irgendeine Idee darstellen, so tat ich es in kleinen Gedichten, wo eine entschiedene Einheit herrschen konnte und welches zu übersehen war, wie z. B. ›Die Metamorphose der Tiere‹, die ›der Pflanze‹, das Gedicht ›Vermächtnis‹ und viele andere. Das einzige Produkt von größerem Umfang, wo ich mir bewußt bin, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben, wären etwa meine ›Wahlverwandtschaften‹. Der Roman ist dadurch für den Verstand faßlich geworden; aber ich will nicht sagen, daß er dadurch besser geworden wäre. Vielmehr bin ich der Meinung: je inkommensurabeler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser

 


 

Dienstag, den 15. Mai 1827

Herr von Holtei, aus Paris kommend, ist seit einiger Zeit hier und wegen seiner Person und Talente überall herzlich empfangen. Auch zwischen ihm und Goethe und dessen Familie hat sich ein sehr freundliches Verhältnis gebildet.

Goethe ist seit einigen Tagen auf seinen Garten gezogen, wo er in stiller Tätigkeit sich sehr beglückt findet. Ich besuchte ihn heute dort mit Herrn von Holtei und Grafen Schulenburg, welcher erstere Abschied nahm, um mit Ampère nach Berlin zu gehen.

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