Mittwoch, den 25. Juli 1827

Goethe hat in diesen Tagen einen Brief von Walter Scott erhalten, der ihm große Freude machte. Er zeigte ihn mir heute, und da ihm die englische Handschrift etwas sehr unleserlich vorkam, so bat er mich, ihm den Inhalt zu übersetzen. Es scheint, daß Goethe dem berühmten englischen Dichter zuerst geschrieben hatte und daß dieser Brief darauf eine Erwiderung ist.

»Ich fühle mich sehr geehrt,« schreibt Walter Scott, »daß irgendeine meiner Produktionen so glücklich gewesen ist, die Beachtung Goethes auf sich zu ziehen, zu dessen Bewunderern ich seit dem Jahre 1798 gehöre, wo ich trotz meiner geringen Bekanntschaft mit der deutschen Sprache kühn genug war, den ›Götz von Berlichingen‹ ins Englische zu übertragen. Ich hatte bei diesem jugendlichen Unternehmen ganz vergessen, daß es nicht genug sei, die Schönheit eines genialen Werkes zu fühlen, sondern daß man auch die Sprache, worin es geschrieben, aus dem Grunde verstehen müsse, ehe es uns gelingen könne, solche Schönheit auch anderen fühlbar zu machen. Dennoch lege ich auf jenen jugendlichen Versuch noch jetzt einigen Wert, weil er doch wenigstens zeigt, daß ich einen Gegenstand zu wählen wußte, der der Bewunderung würdig war.

Ich habe oft von Ihnen gehört, und zwar durch meinen Schwiegersohn Lockhart, einen jungen Mann von literarischer Bedeutung, der vor einigen Jahren, ehe er meiner Familie verbunden war, die Ehre hatte, dem Vater der deutschen Literatur vorgestellt zu werden. Es ist unmöglich, daß Sie unter der großen Zahl derer, die sich gedrängt fühlen, Ihnen ihre Ehrfurcht zu bezeigen, sich jedes einzelnen erinnern sollten; aber ich glaube, es ist ihnen niemand inniger ergeben als eben jenes junge Mitglied meiner Familie.

Mein Freund Sir John Hope von Pinkie hat kürzlich die Ehre gehabt, Sie zu sehen, und ich hoffte Ihnen zu schreiben, und nahm auch später mir wirklich diese Freiheit durch zwei seiner Verwandten, die Deutschland zu bereisen die Absicht hatten; allein sie wurden durch Krankheit behindert, ihr Vorhaben auszuführen, so daß mir denn mein Brief nach zwei bis drei Monaten zurückkam. Ich habe also Goethes Bekanntschaft schon früher zu suchen mich erdreistet, und zwar noch vor jener schmeichelhaften Notiz, die er so freundlich gewesen ist, von mir zu nehmen.

Es gibt allen Bewunderern des Genies ein wohltätiges Gefühl, zu wissen, daß eins der größten europäischen Vorbilder einer glücklichen und ehrenvollen Zurückgezogenheit in einem Alter genießt, in welchem er auf eine so ausgezeichnete Weise sich geehrt sieht. Dem armen Lord Byron ward leider vom Schicksal kein so günstiges Los zuteil, indem es ihn in der Blüte seiner Jahre hinwegnahm und so vieles, was noch von ihm gehofft und erwartet wurde, für immer zerschnitt. Er schätzte sich glücklich in der Ehre, die Sie ihm erzeugten, und fühlte, was er einem Dichter schuldig war, dem alle Schriftsteller der lebenden Generation so viel verdanken, daß sie sich verpflichtet fühlen, mit kindlicher Verehrung zu ihm hinaufzublicken.

Ich habe mir die Freiheit genommen, die Herren Treuttel und Würtz zu ersuchen, Ihnen meinen Versuch einer Lebensgeschichte jenes merkwürdigen Mannes zu senden, der so viele Jahre lang einen so fürchterlichen Einfluß auf die Welt hatte, die er beherrschte. Ich weiß übrigens nicht, ob ich ihm nicht irgend einige Verbindlichkeiten schuldig geworden, da er mich zwölf Jahre lang unter die Waffen brachte, während welcher Zeit ich in einem Korps unserer Landmiliz diente und trotz einer frühen Lahmheit ein guter Reuter, Jäger und Schütze wurde. Diese guten Fähigkeiten haben jedoch in der letzten Zeit mich ein wenig verlassen, indem der Rheumatismus, diese traurige Plage unseres nördlichen Klimas, seinen Einfluß auf meine Glieder gelegt hat. Doch klage ich nicht, da ich meine Söhne jetzt die Jagdvergnügungen treiben sehe, seitdem ich sie habe aufgeben müssen.

Mein ältester Sohn hat eine Schwadron Husaren, welches für einen fünfundzwanzigjährigen jungen Mann immer viel ist. Mein jüngerer Sohn hat neulich zu Oxford den Grad eines Bakkalaureus der schönen Wissenschaften erhalten und wird jetzt einige Monate zu Hause zubringen, ehe er in die Welt geht. Da es Gott gefallen hat, mir ihre Mutter zu nehmen, so führt meine jüngste Tochter mein Hauswesen. Meine älteste ist verheiratet und hat eine Familie für sich.

Dies sind die häuslichen Zustände eines Mannes, nach dem Sie so gütig sich erkundiget haben. Übrigens besitze ich genug, um ganz so zu leben, wie ich wünsche, ungeachtet einiger sehr schwerer Verluste. Ich bewohne ein stattliches altes Schloß, in welchem jeder Freund Goethes zu jeder Zeit willkommen sein wird. Die Vorhalle ist mit Rüstungen angefüllt, die selbst für Jaxthausen gepaßt haben würden; ein großer Schweißhund bewacht den Eingang.

Ich habe übrigens den vergessen, der dafür zu sorgen wußte, daß man ihn nicht vergaß, während er lebte. Ich hoffe, Sie werden die Fehler des Werkes verzeihen, indem Sie berücksichtigen, daß der Autor von dem Wunsch beseelt war, gegen das Andenken jenes außerordentlichen Mannes so aufrichtig zu verfahren, wie seine insularischen Vorurteile nur immer erlauben wollten.

Da diese Gelegenheit, Ihnen zu schreiben, sich mir plötzlich und zufällig durch einen Reisenden darbietet und keinen Aufschub erleidet, so fehlt mir die Zeit, etwas Weiteres zu sagen, als daß ich Ihnen eine fortgesetzte gute Gesundheit und Ruhe wünsche und mich mit der aufrichtigsten und tiefsten Hochachtung unterzeichne.

Edinburgh, den 9. Juli 1827.

Walter Scott.«

 

Goethe hatte, wie gesagt, über diesen Brief große Freude. Er war übrigens der Meinung, als enthalte er zu viel Ehrenvolles für ihn, als daß er nicht sehr vieles davon auf Rechnung der Höflichkeit eines Mannes von Rang und hoher Weltbildung zu setzen habe.

Er erwähnte sodann die gute und herzliche Art, womit Walter Scott seine Familienverhältnisse zur Sprache bringe, welches ihn, als Zeichen eines brüderlichen Vertrauens, im hohen Grade beglücke.

»Ich bin nun wirklich«, fuhr er fort, »auf sein ›Leben Napoleons‹ begierig, welches er mir ankündigt. Ich höre so viel Widersprechendes und Leidenschaftliches über das Buch, daß ich im voraus gewiß bin, es wird auf jeden Fall sehr bedeutend sein.«

Ich fragte nach Lockhart, und ob er sich seiner noch erinnere.

»Noch sehr wohl«, erwiderte Goethe. »Seine Persönlichkeit macht einen entschiedenen Eindruck, so daß man ihn so bald nicht wieder vergißt. Er soll, wie ich von reisenden Engländern und meiner Schwiegertochter höre, ein junger Mann sein, von dem man in der Literatur gute Dinge erwartet.

Übrigens wundere ich mich fast, daß Walter Scott kein Wort über Carlyle sagt, der doch eine so entschiedene Richtung auf das Deutsche hat, daß er ihm sicher bekannt sein muß.

An Carlyle ist es bewundernswürdig, daß er bei Beurteilung unserer deutschen Schriftsteller besonders den geistigen und sittlichen Kern als das eigentlich Wirksame im Auge hat. Carlyle ist eine moralische Macht von großer Bedeutung. Es ist in ihm viel Zukunft vorhanden, und es ist gar nicht abzusehen, was er alles leisten und wirken wird.«

 


 

Mittwoch, den 26. September 1827

Goethe hatte mich auf diesen Morgen zu einer Spazierfahrt nach der Hottelstedter Ecke, der westlichsten Höhe des Ettersberges, und von da nach dem Jagdschloß Ettersburg einladen lassen. Der Tag war überaus schön, und wir fuhren zeitig zum Jakobstore hinaus. Hinter Lützendorf, wo es stark bergan geht und wir nur Schritt fahren konnten, hatten wir zu allerlei Beobachtungen Gelegenheit. Goethe bemerkte rechts in den Hecken hinter dem Kammergut eine Menge Vögel und fragte mich, ob es Lerchen wären. Du Großer und Lieber, dachte ich, der du die ganze Natur wie wenig andere durchforschet hast, in der Ornithologie scheinst du ein Kind zu sein.

»Es sind Ammern und Sperlinge,« erwiderte ich, »auch wohl einige verspätete Grasmücken, die nach abgewarteter Mauser aus dem Dickicht des Ettersberges herab in die Gärten und Felder kommen und sich zum Fortzuge anschicken; aber Lerchen sind es nicht. Es ist nicht in der Natur der Lerche, sich auf Büsche zu setzen. Die Feld- oder Himmelslerche steigt in die Luft aufwärts und geht wieder zur Erde herab, zieht auch wohl im Herbst scharenweis durch die Luft hin und wirft sich wiederum auf irgendein Stoppelfeld nieder, aber sie geht nicht auf Hecken und Gebüsche. Die Baumlerche dagegen liebt sich den Gipfel hoher Bäume, von wo aus sie singend in die Luft steigt und wieder auf ihren Baumgipfel herabfällt. Dann gibt es noch eine andere Lerche, die man in einsamen Gegenden an der Mittagsseite von Waldblößen antrifft und die einen sehr weichen, flötenartigen, doch etwas melancholischen Gesang hat. Sie hält sich nicht am Ettersberge auf, der ihr zu lebhaft und zu nahe von Menschen umwohnt ist; aber auch sie geht nicht in Gebüsche.«

»Hm!« sagte Goethe, »Sie scheinen in diesen Dingen nicht eben ein Neuling zu sein.«

»Ich habe das Fach von Jugend auf mit Liebe getrieben«, erwiderte ich, »und immer die Augen und Ohren dafür offen gehabt. Der ganze Wald des Ettersberges hat wenige Stellen, die ich nicht zu wiederholten Malen durchstreift bin. Wenn ich jetzt einen einzigen Ton höre, so getraue ich mir zu sagen, von welchem Vogel er kommt. Auch bin ich so weit, daß, wenn man mir irgendeinen Vogel bringt, der in der Gefangenschaft durch verkehrte Behandlung das Gefieder verloren hat, ich mir getraue, ihn sehr bald vollkommen gesund und wohlbefiedert wiederherzustellen.«

»Das zeigt allerdings,« erwiderte Goethe, »daß Sie in diesen Dingen bereits vieles durchgemacht haben. Ich möchte Ihnen raten, das Studium ernstlich fortzutreiben; es muß bei Ihrer entschiedenen Richtung zu sehr guten Resultaten führen. Aber sagen Sie mir etwas über die Mauser. Sie sprachen vorhin von verspäteten Grasmücken, die nach vollendeter Mauser aus dem Dickicht des Ettersberges in die Felder herabgekommen. Ist denn die Mauser an eine gewisse Epoche gebunden, und mausern sich alle Vögel zugleich?«

»Bei den meisten Vögeln«, erwiderte ich, »tritt sie sogleich nach vollendeter Brütezeit ein, das heißt, sobald die Jungen des letzten Geheckes so weit sind, daß sie sich selber helfen können. Nun fragt es sich aber, ob der Vogel von diesem Zeitpunkte des fertigen letzten Geheckes, bis zu dem seines Wegzugs, zur Mauser noch den gehörigen Raum hat. Hat er ihn, so mausert er sich hier und zieht mit frischem Gefieder fort. Hat er ihn nicht, so zieht er mit seinem alten Gefieder fort und mausert sich später im warmen Süden. Denn die Vögel kommen im Frühling nicht zu gleicher Zeit zu uns, auch ziehen sie im Herbst nicht zu gleicher Zeit fort. Und dieses rührt daher, daß die eine Art sich aus einiger Kälte und rauhem Wetter weniger macht und sie mehr ertragen kann als eine andere. Ein Vogel aber, der früh bei uns ankommt, zieht spät weg, und ein Vogel, der spät bei uns ankommt, zieht früh weg.

So ist schon unter den Grasmücken, die doch zu einem Geschlecht gehören, ein großer Unterschied. Die klappernde Grasmücke oder das Müllerchen läßt sich schon Ende März bei uns hören; vierzehn Tage später kommt die schwarzköpfige oder der Mönch; sodann etwa nach einer Woche die Nachtigall, und erst ganz zu Ende April oder anfangs Mai die graue. Alle diese Vögel mausern sich im August bei uns, so auch die Jungen ihres ersten Geheckes; weshalb man denn Ende August junge Mönche fängt, die schon das schwarze Köpfchen haben. Die Jungen des letzten Geheckes aber ziehen mit ihrem ersten Gefieder fort und mausern sich später in südlichen Ländern; aus welchem Grunde man denn anfangs September junge Mönche fangen kann, und zwar junge Männchen, die noch das rote Köpfchen haben wie ihre Mutter.«

»Ist denn die graue Grasmücke«, fragte Goethe, »der späteste bei uns ankommende Vogel, oder kommen andere noch später?«

»Der sogenannte gelbe Spottvogel und der prächtige goldgelbe Pirol«, erwiderte ich, »kommen erst gegen Pfingsten. Beide ziehen nach vollendeter Brütezeit, gegen die Mitte August, schon wieder fort und mausern sich mit ihren Jungen im Süden. Hat man sie im Käfig, so mausern sie sich bei uns im Winter, weshalb denn diese Vögel sehr schwer durchzubringen sind. Sie verlangen sehr viel Wärme. Hängt man sie aber in die Nähe des Ofens, so verkümmern sie aus Mangel an fruchtbarer Luft; bringt man sie dagegen in die Nähe des Fensters, so verkümmern sie in der Kälte der langen Nächte.«

»Man hält dafür,« sagte Goethe,»daß die Mauser eine Krankheit oder wenigstens von körperlicher Schwäche begleitet sei.«

»Das möchte ich nicht sagen,« erwiderte ich. »Es ist ein Zustand gesteigerter Produktivität, der in freier Luft herrlich vonstatten geht, ohne die geringste Beschwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Grasmücken gehabt, die während der ganzen Mauser ihren Gesang nicht aussetzten: ein Zeichen, daß es ihnen durchaus wohl war. Zeigt sich aber ein Vogel im Zimmer während der Mauser kränklich, so ist daraus zu schließen, daß er mit dem Futter oder frischer Luft und Wasser nicht gehörig behandelt worden. Ist er im Zimmer im Lauf der Zeit aus Mangel an Luft und Freiheit so schwach geworden, daß ihm die produktive Kraft fehlt, um in die Mauser zu kommen, so bringe man ihn an die fruchtbare frische Luft, und die Mauser wird sogleich auf das beste vonstatten gehen. Bei einem Vogel in freier Wildnis dagegen verläuft sie sich so sanft und so allmählich, daß er es kaum gewahr wird.«

»Aber doch schienen Sie vorhin anzudeuten,« versetzte Goethe, »daß die Grasmücken sich während der Mauser in das Dickicht der Wälder ziehen.«

»Sie bedürfen während dieser Zeit«, erwiderte ich, »allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur auch in diesem Falle mit solcher Weisheit und Mäßigung, daß ein Vogel während der Mauser nie mit einem Male so viele Federn verliert, daß er unfähig würde so gut zu fliegen, als die Erreichung seines Futters es verlangt. Allein es kann doch kommen, daß er z. B. mit einem Male die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des linken und die vierte, fünfte und sechste Schwungfeder des rechten Flügels verliert, wobei er zwar immer noch ganz gut fliegen kann, allein nicht so gut, um dem verfolgenden Raubvogel, besonders aber dem sehr schnellen und gewandten Baumfalken zu entgehen, und da kommt ihm denn ein buschiges Dickicht sehr zustatten.«

»Das läßt sich hören«, erwiderte Goethe. »Schreitet aber die Mauser«, fuhr er fort, »an beiden Flügeln gleichmäßig und gewissermaßen symmetrisch vor?«

»Soweit meine Beobachtungen reichen, allerdings«, erwiderte ich. »Und das ist sehr wohltätig. Denn verlöre ein Vogel z. B. drei Schwungfedern des linken Flügels und nicht zugleich dieselben Federn des rechten, so würde den Flügeln alles Gleichgewicht fehlen, und der Vogel würde sich und seine Bewegung nicht mehr in gehöriger Gewalt haben. Er würde sein wie ein Schiff, dem an der einen Seite die Segel zu schwer und an der andern zu leicht sind.«

»Ich sehe,« erwiderte Goethe »man mag in die Natur eindringen, von welcher Seite man wolle, man kommt immer auf einige Weisheit.«

Wir waren indes immerfort mühsam bergan gefahren und waren nun nach und nach oben, am Rande der Fichten. Wir kam an einer Stelle vorbei, wo Steine gebrochen waren und ein Haufen lag. Goethe ließ halten und bat mich, abzusteigen und ein wenig nachzusehen, ob ich nichts von Versteinerungen entdeckte. Ich fand einige Muscheln, auch einige zerbrochene Ammonshörner, die ich ihm zureichte, indem ich mich wieder einsetzte. Wir fuhren weiter.

»Immer die alte Geschichte!« sagte Goethe. »Immer der alte Meeresboden! – Wenn man von dieser Höhe auf Weimar hinabblickt, und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten Tale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und doch ist es so, wenigstens höchst wahrscheinlich. Die Möwe aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, daß wir beide heute hier fahren würden. Und wer weiß, ob nach vielen Jahrtausenden die Möwe nicht abermals über diesem Berge fliegt.«

Wir waren jetzt oben auf der Höhe und fuhren rasch weiter. Rechts an unserer Seite hatten wir Eichen und Buchen und anderes Laubholz. Weimar war rückwärts nicht mehr zu sehen. Wir waren auf der westlichen Höhe angelangt; das breite Tal der Unstrut mit vielen Dörfern und kleinen Städten lag in der heitersten Morgensonne vor uns.

»Hier ist gut sein!« sagte Goethe, indem er halten ließ. »Ich dächte, wir versuchten, wie in dieser guten Luft uns etwa ein kleines Frühstück behagen möchte.«

Wir stiegen aus und gingen auf trockenem Boden am Fuße halbwüchsiger, von vielen Stürmen verkrüppelter Eichen einige Minuten auf und ab, während Friedrich das mitgenommene Frühstück auspackte und auf einer Rasenerhöhung ausbreitete. Die Aussicht von dieser Stelle, in der klaren Morgenbeleuchtung der reinsten Herbstsonne, war in der Tat herrlich. Nach Süden und Südwesten hin übersah man die ganze Reihe des Thüringerwaldgebirges; nach Westen, über Erfurt hinaus, das hochliegende Schloß Gotha und den Inselsberg; weiter nördlich sodann die Berge hinter Langensalza und Mühlhausen, bis sich die Aussicht, nach Norden zu, durch die blauen Harzgebirge abschloß. Ich dachte an die Verse:

Weit, hoch, herrlich der Blick
Rings ins Leben hinein!
Von Gebirg zu Gebirg
Schwebet der ewige Geist,
Ewigen Lebens ahndevoll!

Wir setzten uns mit dem Rücken nach den Eichen zu, so daß wir während dem Frühstück die weite Aussicht über das halbe Thüringen immer vor uns hatten. Wir verzehrten indes ein paar gebratene Rebhühner mit frischem Weißbrot und tranken dazu eine Flasche sehr guten Wein, und zwar aus einer biegsamen feinen goldenen Schale, die Goethe in einem gelben Lederfutteral bei solchen Ausflügen gewöhnlich bei sich führt.

»Ich war sehr oft an dieser Stelle«, sagte er, »und dachte in späteren Jahren sehr oft, es würde das letzte Mal sein, daß ich von hier aus die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten überblickte. Allein es hält immer noch einmal zusammen, und ich hoffe, daß es auch heute nicht das letzte Mal ist, daß wir beide uns hier einen guten Tag machen. Wir wollen künftig öfter hieher kommen. Man verschrumpft in dem engen Hauswesen. Hier fühlt man sich groß und frei wie die große Natur, die man vor Augen hat, und wie man eigentlich immer sein sollte.

Ich übersehe von hier aus«, fuhr Goethe fort, »eine Menge Punkte, an die sich die reichsten Erinnerungen eines langen Lebens knüpfen. Was habe ich nicht drüben in den Bergen von Ilmenau in meiner Jugend alles durchgemacht! Dann dort unten im lieben Erfurt wie manches gute Abenteuer erlebt! Auch in Gotha war ich in frühester Zeit oft und gerne; doch seit langen Jahren so gut wie gar nicht.«

»Seit ich in Weimar bin,« bemerkte ich, »erinnere ich mich nicht, daß Sie dort waren.«

»Das hat so seine Bewandtnis«, erwiderte Goethe lachend »Ich bin dort nicht zum besten angeschrieben. Ich will Ihnen davon eine Geschichte erzählen. Als die Mutter des zuletzt regierenden Herrn noch in hübscher Jugend war, befand ich mich dort sehr oft. Ich saß eines Abends bei ihr alleine am Teetisch, als die beiden zehn- bis zwölfjährigen Prinzen, zwei hübsche blondlockige Knaben, hereinsprangen und zu uns an den Tisch kamen. Übermütig wie ich sein konnte, fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen Händen in die Haare mit den Worten: ›Nun, ihr Semmelköpfe, was macht ihr?‹ Die Buben sahen mich mit großen Augen an, im höchsten Erstaunen über meine Kühnheit – und haben es mir später nie vergessen.

Ich will nun just eben nicht damit prahlen, aber es war so und lag tief in meiner Natur: ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur und ein tüchtiger Menschenwert dahintersteckte, nie viel Respekt. Ja es war mir selber so wohl in meiner Haut, und ich fühlte mich selber so vornehm, daß, wenn man mich zum Fürsten gemacht hätte, ich es nicht eben sonderlich merkwürdig gefunden haben würde. Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein, unter uns, es war mir nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patrizier hielten uns immer dem Adel gleich, und als ich das Diplom in Händen hielt, hatte ich in meinen Gedanken eben nichts weiter, als was ich längst besessen.«

Wir taten noch einen guten Trunk aus der goldenen Schale und fuhren dann um die nördliche Seite des Ettersberges herum nach dem Jagdschlosse Ettersburg. Goethe ließ sämtliche Zimmer aufschließen, die mit heiteren Tapeten und Bildern behängt waren. In dem westlichen Eckzimmer des ersten Stockes sagte er mir, daß Schiller dort einige Zeit gewohnt. »Wir haben überhaupt«, fuhr er fort, »in frühester Zeit hier manchen guten Tag gehabt und manchen unten Tag vertan. Wir waren alle jung und voll Übermut, und es fehlte uns im Sommer nicht an allerlei improvisiertem Komödienspiel und im Winter nicht an allerlei Tanz und Schlittenfahrten mit Fackeln.«

Wir gingen wieder ins Freie, und Goethe führte mich in westlicher Richtung einen Fußweg ins Holz.

»Ich will Ihnen doch auch die Buche zeigen,« sagte er, »worin wir vor funfzig Jahren unsere Namen geschnitten. – Aber wie hat sich das verändert, und wie ist das alles herangewachsen! – Das wäre denn der Baum! Sie sehen, er ist noch in der vollesten Pracht. – Auch unsere Namen sind noch zu spüren, doch so verquollen und verwachsen, daß sie kaum noch herauszubringen. Damals stand diese Buche auf einem freien trockenen Platz. Es war durchaus sonnig und anmutig umher, und wir spielten hier an schönen Sommertagen unsere improvisierten Possen. Jetzt ist es hier feucht und unfreundlich. Was sonst nur niederes Gebüsch war, ist indes zu schattigen Bäumen herangewachsen, so daß man die prächtige Buche unserer Jugend kaum noch aus dem Dickicht herausfindet.«

Wir gingen wieder nach dem Schlosse, und nachdem wir noch die ziemlich reiche Waffensammlung besehen, fuhren wir nach Weimar zurück.

 


 

Donnerstag, den 27. September 1827

Nachmittags einen Augenblick bei Goethe, wo ich Herrn Geheimerat Streckfuß aus Berlin kennen lernte, der diesen Vormittag mit ihm eine Spazierfahrt gemacht und dann zu Tisch geblieben war. Als Streckfuß ging, begleitete ich ihn und machte noch einen Gang durch den Park. Bei meiner Zurückkunft über den Markt begegnete ich dem Kanzler und Raupach, mit denen ich in den Elefanten ging. Abends wieder bei Goethe, der mit mir ein neues Heft von ›Kunst und Altertum‹ besprach, desgleichen zwölf Blätter Bleistiftumrisse, in welchen die Gebrüder Riepenhausen die Gemälde Polygnots in der Lesche zu Delphi nach einer Beschreibung des Pausanias wieder herzustellen versucht; ein Unternehmen, welches Goethe nicht genug anzuerkennen wußte.

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