Freitag, den 16. Mai 1828*

Mit Goethe spazieren gefahren. Er amüsierte sich an der Erinnerung seiner Streitigkeiten mit Kotzebue, Böttiger und Konsorten und rezitierte einige sehr lustige Epigramme gegen den ersteren, die übrigens mehr spaßhaft als verletzend waren. Ich fragte ihn, warum er sie nicht in seine Werke aufgenommen. »Ich habe eine ganze Sammlung solcher Gedichtchen,« erwiderte Goethe, »die ich geheim halte und nur gelegentlich den vertrautesten meiner Freunde zeige. Es war dies die einzige unschuldige Waffe, die mir gegen die Angriffe meiner Feinde zu Gebote stand. Ich machte mir dadurch im stillen Luft und befreite und reinigte mich dadurch von dem fatalen Gefühl des Mißwollens, das ich sonst gegen die öffentlichen und oft boshaften Häkeleien meiner Gegner hätte empfinden und nähren müssen. Durch jene Gedichtchen habe ich mir also persönlich einen wesentlichen Dienst geleistet. Aber ich will nicht das Publikum mit meinen Privathändeln beschäftigen oder noch lebende Personen dadurch verletzen. In späterer Zeit jedoch wird sich davon dies oder jenes ganz ohne Bedenken mitteilen lassen.«

 


 

Freitag, den 6. Juni 1828*

Der König von Bayern sandte vor einiger Zeit seinen Hofmaler Stieler nach Weimar, um das Porträt Goethes zu machen. Als eine Art Empfehlungsbrief und als Zeugnis seiner Geschicklichkeit brachte Stieler das vollendete lebensgroße Bildnis eines sehr schönen jungen Frauenzimmers mit, nämlich das der Münchener Schauspielerin Fräulein von Hagn. Goethe gewährte darauf Herrn Stieler alle gewünschten Sitzungen, und sein Bild ward nun vor einigen Tagen fertig.

Diesen Mittag war ich bei ihm zu Tisch, und zwar alleine. Beim Dessert stand er auf und führte mich in das den Speisesaal angrenzende Kabinett und zeigte mir die jüngst vollendete Arbeit Stielers. – Darauf, sehr geheimnisvoll, führte er mich weiter in das sogenannte Majolikazimmer, wo sich das Bild der schönen Schauspielerin befand. »Nicht wahr,« sagte er, nachdem wir es eine Weile betrachtet, »das ist der Mühe wert! – Stieler war gar nicht dumm! – Er brauchte diesen schönen Bissen bei mir als Lockspeise, und indem er mich durch solche Künste zum Sitzen brachte, schmeichelte er meiner Hoffnung, daß auch jetzt unter seinem Pinsel ein Engel entstehen würde, indem er den Kopf eines Alten malte.«

 


 

Freitag, den 26. September 1828*

Goethe zeigte mir heute seine reiche Fossiliensammlung, die sich in dem freistehenden Pavillon an seinem Hausgarten befindet. Die Sammlung ist durch ihn selber angelegt, durch seinen Sohn stark vermehrt, und besonders merkwürdig durch eine zahlreiche Folge versteinerter Knochen, die alle in der Umgebung von Weimar gefunden worden.

 


 

Montag, den 6. Oktober 1828*

Bei Goethe zu Tisch mit Herrn von Martius, der seit einigen Tagen hier ist und sich mit Goethe über botanische Gegenstände bespricht. Besonders ist es die Spiraltendenz der Pflanzen, worin Herr von Martius wichtige Entdeckungen gemacht, die er Goethen mitteilt, dem sich dadurch ein neues Feld eröffnet. Goethe schien die Idee seines Freundes mit einer Art jugendlicher Leidenschaftlichkeit aufzunehmen. »Für die Physiologie der Pflanzen«, sagte er, »ist damit sehr viel gewonnen. Das neue Aperçu der Spiraltendenz ist meiner Metamorphosenlehre durchaus gemäß, es ist auf demselbigen Wege gefunden, aber es ist damit ein ungeheurer Schritt vorwärts getan.«

 


 

Freitag, den 17. Oktober 1828*

Goethe liest seit einiger Zeit sehr eifrig den ›Globe‹ und macht dieses Blatt sehr oft zum Gegenstand seines Gesprächs. Die Bemühungen Cousins und seiner Schule erscheinen ihm besonders wichtig.

»Diese Männer«, sagte er, »sind ganz auf dem Wege, eine Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland zu bewirken, indem sie eine Sprache bilden, die durchaus geeignet ist, den Ideenverkehr zwischen beiden Nationen zu erleichtern.«

Auch hat der ›Globe‹ für Goethe dadurch noch ein besonderes Interesse, daß die neuesten Produkte der schönen Literatur Frankreichs darin besprochen und die Freiheiten der romantischen Schule, oder vielmehr die Befreiung von den Fesseln nichtssagender Regeln, darin oft sehr lebhaft verteidigt werden.

»Was will der ganze Plunder gewisser Regeln einer steifen veralteten Zeit!« sagte er heute, »und was will all der Lärm über klassisch und romantisch! Es kommt darauf an, daß ein Werk durch und durch gut und tüchtig sei, und es wird auch wohl klassisch sein.«

 


 

Donnerstag, den 23. Oktober 1828

Goethe sprach heute mit großer Anerkennung über eine kleine Schrift des Kanzlers, die den Großherzog Carl August zum Gegenstande hat und das tatenreiche Leben dieses seltenen Fürsten in gedrängter Kürze vorüberführt.

»Die kleine Schrift ist wirklich sehr gelungen,« sagte Goethe, »das Material mit großer Umsicht und großem Fleiß zusammengebracht, sodann alles vom Hauch der innigsten Liebe beseelt, und zugleich die Darstellung so knapp und kurz, daß Tat auf Tat sich drängt und bei dem Anblick einer solchen Fülle von Leben und Tun es uns zumute wird, als würden wir von einem geistigen Schwindel ergriffen. Der Kanzler hat seine Schrift auch nach Berlin geschickt und darauf vor einiger Zeit einen höchst merkwürdigen Brief von Alexander von Humboldt erhalten, den ich nicht ohne tiefe Rührung habe lesen können. Humboldt war dem Großherzog während eines langen Lebens auf das innigste befreundet, welches freilich nicht zu verwundern, indem die reich angelegte tiefe Natur des Fürsten immer nach neuem Wissen bedürftig, und grade Humboldt der Mann war, der bei seiner großen Universalität auf jede Frage die beste und gründlichste Antwort immer bereit hatte.

Nun fügte es sich in der Tat wunderbar, daß der Großherzog grade die letzten Tage vor seinem Tode in Berlin in fast beständiger Gesellschaft mit Humboldt verleben und daß er über manches wichtige Problem, was ihm am Herzen lag, noch zuletzt von seinem Freunde Aufschluß erhalten konnte; und wiederum war es nicht ohne höhere günstige Einwirkung, daß einer der größten Fürsten, die Deutschland je besessen, einen Mann wie Humboldt zum Zeugen seiner letzten Tage und Stunden hatte. Ich habe mir von dem Brief eine Abschrift nehmen lassen und will Ihnen doch einiges daraus mitteilen.«

Goethe stand auf und ging zu seinem Pult, wo er den Brief nahm und sich wieder zu mir an den Tisch setzte. Er las eine Weile im stillen. Ich sah Tränen in seinen Augen. »Lesen Sie es für sich«, sagte er dann, indem er mir den Brief zureichte. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, während ich las.

»Wer konnte mehr durch das schnelle Hinscheiden des Verewigten erschüttert werden,« schreibt Humboldt, »als ich, den er seit dreißig Jahren mit so wohlwollender Auszeichnung, ich darf sagen, mit so aufrichtiger Vorliebe behandelt hatte. Auch hier wollte er mich fast zu jeder Stunde um sich haben; und als sei eine solche Lucidität, wie bei den erhabenen schneebedeckten Alpen, der Vorbote des scheidenden Lichtes, nie habe ich den großen menschlichen Fürsten lebendiger, geistreicher, milder und an aller ferneren Entwickelung des Volkslebens teilnehmender gesehen, als in den letzten Tagen, die wir ihn hier besaßen.

Ich sagte mehrmals zu meinen Freunden ahnungsvoll und geängstigt, daß diese Lebendigkeit, diese geheimnisvolle Klarheit des Geistes bei so viel körperlicher Schwäche mir ein schreckhaftes Phänomen sei. Er selbst oszillierte sichtbar zwischen Hoffnung der Genesung und Erwartung der großen Katastrophe.

Als ich ihn vierundzwanzig Stunden vor dieser zuletzt sah beim Frühstück, er krank und ohne Neigung, etwas zu genießen, fragte er noch lebendig nach den von Schweden herübergekommenen Granitgeschieben baltischer Länder, nach Kometschweifen, welche sich unserer Atmosphäre trübend einmischen könnten, nach der Ursache der großen Winterkälte an allen östlichen Küsten.

Als ich ihn zuletzt sah, drückte er mir zum Abschied die Hand mit den heiteren Worten: ›Sie glauben, Humboldt, Töplitz und alle warmen Quellen seien wie Wasser, die man künstlich erwärmt? Das ist nicht Küchenfeuer! Darüber streiten wir in Töplitz, wenn Sie mit dem König kommen. Sie sollen sehen, Ihr altes Küchenfeuer wird mich doch noch einmal wieder zusammenhalten.‹ Sonderbar! denn alles wird bedeutend bei so einem Manne.

In Potsdam saß ich mehrere Stunden allein mit ihm auf dem Kanapee; er trank und schlief abwechselnd, trank wieder, stand auf, um an seine Gemahlin zu schreiben, dann schlief er wieder. Er war heiter, aber sehr erschöpft. In den Intervallen bedrängte er mich mit den schwierigsten Fragen über Physik, Astronomie, Meteorologie und Geognosie, über Durchsichtigkeit eines Kometenkerns, über Mondatmosphäre, über die farbigen Doppelsterne, über Einfluß der Sonnenflecke auf Temperatur, Erscheinen der organischen Formen in der Urwelt, innere Erdwärme. Er schlief mitten in seiner und meiner Rede ein, wurde oft unruhig und sagte dann, über seine scheinbare Unaufmerksamkeit milde und freundlich um Verzeihung bittend: ›Sie sehen, Humboldt, es ist aus mit mir!‹

Auf einmal ging er desultorisch in religiöse Gespräche über. Er klagte über den einreißenden Pietismus und den Zusammenhang dieser Schwärmerei mit politischen Tendenzen nach Absolutismus und Niederschlagen aller freieren Geistesregungen. ›Dazu sind es unwahre Bursche,‹ rief er aus, ›die sich dadurch den Fürsten angenehm zu machen glauben, um Stellen und Bänder zu erhalten! Mit der poetischen Vorliebe zum Mittelalter haben sie sich eingeschlichen.‹

Bald legte sich sein Zorn, und nun sagte er, wie er jetzt viel Tröstliches in der christlichen Religion fände. ›Das ist eine menschenfreundliche Lehre,‹ sagte er; ›aber von Anfang an hat man sie verunstaltet. Die ersten Christen waren die Freigesinnten unter den Ultras.‹«

Ich gab Goethen über diesen herrlichen Brief meine innige Freude zu erkennen. »Sie sehen,« sagte Goethe, »was für ein bedeutender Mensch er war. Aber wie gut ist es von Humboldt, daß er diese wenigen letzten Züge aufgefaßt, die wirklich als Symbol gelten können, worin die ganze Natur des vorzüglichen Fürsten sich spiegelt. Ja, so war er! – Ich kann es am besten sagen, denn es kannte ihn im Grunde niemand so durch und durch wie ich selber. Ist es aber nicht ein Jammer, daß kein Unterschied ist und daß auch ein solcher Mensch so früh dahin muß! Nur ein lumpiges Jahrhundert länger, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben! – Aber wissen Sie was? Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele, als wir denken und wünschen. Immer sind die retardierenden Dämonen da, die überall dazwischen- und überall entgegentreten, so daß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr langsam. Leben Sie nur fort, und Sie werden schon finden, daß ich recht habe.«

»Die Entwickelung der Menschheit«, sagte ich, »scheint auf Jahrtausende angelegt.«

»Wer weiß,« erwiderte Goethe, »vielleicht auf Millionen! Aber laß die Menschheit dauern so lange sie will, es wird ihr nie an Hindernissen fehlen, die ihr zu schaffen machen, und nie an allerlei Not, damit sie ihre Kräfte entwickele. Klüger und einsichtiger wird sie werden, aber besser, glücklicher und tatkräftiger nicht, oder doch nur auf Epochen. Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat, und er abermals alles zusammenschlagen muß zu einer verjüngten Schöpfung. Ich bin gewiß, es ist alles danach angelegt, und es steht in der fernen Zukunft schon Zeit und Stunde fest, wann diese Verjüngungsepoche eintritt. Aber bis dahin hat es sicher noch gute Weile, und wir können noch Jahrtausende und aber Jahrtausende auch auf dieser lieben alten Fläche, wie sie ist, allerlei Spaß haben.«

Goethe war in besonders guter, erhöhter Stimmung. Er ließ eine Flasche Wein kommen, wovon er sich und mir einschenkte. Unser Gespräch ging wieder auf den Großherzog Carl August zurück.

»Sie sehen,« sagte Goethe, »wie sein außerordentlicher Geist das ganze Reich der Natur umfaßte. Physik, Astronomie, Geognosie, Meteorologie, Pflanzen und Tierformen der Urwelt, und was sonst dazu gehört, er hatte für alles Sinn und für alles Interesse. Er war achtzehn Jahre alt, als ich nach Weimar kam, aber schon damals zeigten seine Keime und Knospen, was einst der Baum sein würde. Er schloß sich bald auf das innigste an mich an und nahm an allem, was ich trieb, gründlichen Anteil. Daß ich fast zehn Jahre älter war als er, kam unserm Verhältnis zugute. Er saß ganze Abende bei mir in tiefen Gesprächen über Gegenstände der Kunst und Natur und was sonst allerlei Gutes vorkam. Wir saßen oft tief in die Nacht hinein, und es war nicht selten, daß wir nebeneinander auf meinem Sofa einschliefen. Funfzig Jahre lang haben wir es miteinander fortgetrieben, und es wäre kein Wunder, wenn wir es endlich zu etwas gebracht hätten.«

»Eine so gründliche Bildung,« sagte ich, »wie sie der Großherzog gehabt zu haben scheint, mag bei fürstlichen Personen selten vorkommen.«

»Sehr selten«, erwiderte Goethe. »Es gibt zwar viele, die fähig sind, über alles sehr geschickt mitzureden; aber sie haben es nicht im Innern und krabbeln nur an den Oberflächen. Und es ist kein Wunder, wenn man die entsetzlichen Zerstreuungen und Zerstückelungen bedenkt, die das Hofleben mit sich führt und denen ein junger Fürst ausgesetzt ist. Von allem soll er Notiz nehmen. Er soll ein bißchen das kennen und ein bißchen das, und dann ein bißchen das und wieder ein bißchen das. Dabei kann sich aber nichts setzen und nichts Wurzel schlagen, und es gehört der Fonds einer gewaltigen Natur dazu, um bei solchen Anforderungen nicht in Rauch aufzugehen. Der Großherzog war freilich ein geborener großer Mensch, womit alles gesagt und alles getan ist.«

»Bei allen seinen höheren wissenschaftlichen und geistigen Richtungen«, sagte ich, »scheint er doch auch das Regieren verstanden zu haben.«

»Er war ein Mensch aus dem Ganzen,« erwiderte Goethe, »und es kam bei ihm alles aus einer einzigen großen Quelle. Und wie das Ganze gut war, so war das Einzelne gut, er mochte tun und treiben, was er wollte. Übrigens kamen ihm zur Führung des Regiments besonders drei Dinge zustatten. Er hatte die Gabe, Geister und Charaktere zu unterscheiden und jeden an seinen Platz zu stellen. Das war sehr viel. Dann hatte er noch etwas, was ebensoviel war, wo nicht noch mehr: er war beseelt von dem edelsten Wohlwollen, von der reinsten Menschenliebe, und wollte mit ganzer Seele nur das Beste. Er dachte immer zuerst an das Glück des Landes und ganz zuletzt erst ein wenig an sich selber. Edlen Menschen entgegenzukommen, gute Zwecke befördern zu helfen, war seine Hand immer bereit und offen. Es war in ihm viel Göttliches. Er hätte die ganze Menschheit beglücken mögen. Liebe aber erzeugt Liebe. Wer aber geliebt ist, hat leicht regieren.

Und drittens: er war größer als seine Umgebung. Neben zehn Stimmen, die ihm über einen gewissen Fall zu Ohren kamen, vernahm er die elfte, bessere, in sich selber. Fremde Zuflüsterungen glitten an ihm ab, und er kam nicht leicht in den Fall, etwas Unfürstliches zu begehen, indem er das zweideutig gemachte Verdienst zurücksetzte und empfohlene Lumpe in Schutz nahm. Er sah überall selber, urteilte selber und hatte in allen Fällen in sich selber die sicherste Basis. Dabei war er schweigsamer Natur, und seinen Worten folgte die Handlung.«

»Wie leid tut es mir,« sagte ich, »daß ich nicht viel mehr von ihm gekannt habe als sein Äußeres; doch das hat sich mir tief eingeprägt. Ich sehe ihn noch immer auf seiner alten Droschke, im abgetragenen grauen Mantel und Militärmütze und eine Zigarre rauchend, wie er auf die Jagd fuhr, seine Lieblingshunde nebenher. Ich habe ihn nie anders fahren sehen als auf dieser unansehnlichen alten Droschke, auch nie anders als zweispännig. Ein Gepränge mit sechs Pferden und Röcke mit Ordenssternen scheint nicht sehr nach seinem Geschmack gewesen zu sein.«

»Das ist«, erwiderte Goethe, »jetzt bei Fürsten überhaupt kaum mehr an der Zeit. Es kommt jetzt darauf an, was einer auf der Waage der Menschheit wiegt; alles übrige ist eitel. Ein Rock mit dem Stern und ein Wagen mit sechs Pferden imponiert nur noch allenfalls der rohesten Masse, und kaum dieser. Übrigens hing die alte Droschke des Großherzogs kaum in Federn. Wer mit ihm fuhr, hatte verzweifelte Stöße auszuhalten. Aber das war ihm eben recht. Er liebte das Derbe und Unbequeme und war ein Feind aller Verweichlichung.«

»Spuren davon«, sagte ich, »sieht man schon in Ihrem Gedicht ›Ilmenau‹, wo Sie ihn nach dem Leben gezeichnet zu haben scheinen.«

»Er war damals sehr jung« erwiderte Goethe; »doch ging es mit uns freilich etwas toll her. Er war wie ein edler Wein, aber noch in gewaltiger Gärung. Er wußte mit seinen Kräften nicht wohinaus, und wir waren oft sehr nahe am Halsbrechen. Auf Parforcepferden über Hecken, Gräben und durch Flüsse, und bergauf bergein sich tagelang abarbeiten, und dann nachts unter freiem Himmel kampieren, etwa bei einem Feuer im Walde: das war nach seinem Sinne. Ein Herzogtum geerbt zu haben, war ihm nichts, aber hätte er sich eins erringen, erjagen und erstürmen können, das wäre ihm etwas gewesen.

Das Ilmenauer Gedicht«, fuhr Goethe fort, »enthält als Episode eine Epoche, die im Jahre 1783, als ich es schrieb, bereits mehrere Jahre hinter uns lag, so daß ich mich selber darin als eine historische Figur zeichnen und mit meinem eigenen Ich früherer Jahre eine Unterhaltung führen konnte. Es ist darin, wie Sie wissen, eine nächtliche Szene vorgeführt, etwa nach einer solchen halsbrechenden Jagd im Gebirge. Wir hatten uns am Fuße eines Felsen kleine Hütten gebaut und mit Tannenreisern gedeckt, um darin auf trockenem Boden zu übernachten. Vor den Hütten brannten mehrere Feuer, und wir kochten und brieten, was die Jagd gegeben hatte. Knebel, dem schon damals die Tabakspfeife nicht kalt wurde, saß dem Feuer zunächst und ergötzte die Gesellschaft mit allerlei trockenen Späßen, während die Weinflasche von Hand zu Hand ging. Seckendorf, der schlanke, mit den langen feinen Gliedern, hatte sich behaglich am Stamm eines Baumes hingestreckt und summte allerlei Poetisches. Abseits in einer ähnlichen kleinen Hütte lag der Herzog im tiefen Schlaf. Ich selber saß davor, bei glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlungen von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schriften angerichtet. Knebel und Seckendorf erscheinen mir noch jetzt gar nicht schlecht gezeichnet, und auch der junge Fürst nicht, in diesem düstern Ungestüm seines zwanzigsten Jahres:

Der Vorwitz lockt ihn in die Weite,
Kein Fels ist ihm zu schroff, kein Steg zu schmal;
Der Unfall lauert an der Seite
Und stürzt ihn in den Arm der Qual.
Dann treibt die schmerzlich überspannte Regung
Gewaltsam ihn bald da, bald dort hinaus,
Und von unmutiger Bewegung
Ruht er unmutig wieder aus.
Und düster wild an heitern Tagen,
Unbändig, ohne froh zu sein,
Schläft er, an Seel und Leib verwundet und zerschlagen,
Auf einem harten Lager ein.

So war er ganz und gar. Es ist darin nicht der kleinste Zug übertrieben. Doch aus dieser Sturm- und Drangperiode hatte sich der Herzog bald zu wohltätiger Klarheit durchgearbeitet, so daß ich ihn zu seinem Geburtstage im Jahre 1783 an diese Gestalt seiner früheren Jahre sehr wohl erinnern mochte.

Ich leugne nicht, er hat mir anfänglich manche Not und Sorge gemacht. Doch seine tüchtige Natur reinigte sich bald und bildete sich bald zum besten, so daß es eine Freude wurde, mit ihm zu leben und zu wirken.«

»Sie machten«, bemerkte ich, »in dieser ersten Zeit mit ihm eine einsame Reise durch die Schweiz.«

»Er liebte überhaupt das Reisen,« erwiderte Goethe »doch war es nicht sowohl um sich zu amüsieren und zu zerstreuen, als um überall die Augen und Ohren offen zu haben und auf allerlei Gutes und Nützliches zu achten, das er in seinem Lande einführen könnte. Ackerbau, Viehzucht und Industrie sind ihm auf diese Weise unendlich viel schuldig geworden. Überhaupt waren seine Tendenzen nicht persönlich, egoistisch, sondern rein produktiver Art, und zwar produktiv für das allgemeine Beste. Dadurch hat er sich denn auch einen Namen gemacht, der über dieses kleine Land weit hinausgeht.«

»Sein sorgloses einfaches Äußere«, sagte ich, »schien anzudeuten, daß er den Ruhm nicht suche und daß er sich wenig aus ihm mache. Es schien, als sei er berühmt geworden ohne sein weiteres Zutun, bloß wegen seiner stillen Tüchtigkeit.«

»Es ist damit ein eigenes Ding«, erwiderte Goethe. »Ein Holz brennt, weil es Stoff dazu in sich hat, und ein Mensch wird berühmt, weil der Stoff dazu in ihm vorhanden. Suchen läßt sich der Ruhm nicht, und alles Jagen danach ist eitel. Es kann sich wohl jemand durch kluges Benehmen und allerlei künstliche Mittel eine Art von Namen machen; fehlt aber dabei das innere Juwel, so ist es eitel und hält nicht auf den anderen Tag.

Ebenso ist es mit der Gunst des Volkes. Er suchte sie nicht und tat den Leuten keineswegs schön; aber das Volk liebte ihn, weil es fühlte, daß er ein Herz für sie habe.«

Goethe erwähnte sodann die übrigen Glieder des großherzoglichen Hauses, und wie durch alle der Zug eines edlen Charakters gehe. Er sprach über die Herzensgüte des jetzigen Regenten, über die großen Hoffnungen, zu denen der junge Prinz berechtige, und verbreitete sich mit sichtbarer Liebe über die seltenen Eigenschaften der jetzt regierenden lieben Fürstin, welche im edelsten Sinne große Mittel verwende, um überall Leiden zu lindern und gute Keime zu wecken. »Sie ist von jeher für das Land ein guter Engel gewesen«, sagte er, »und wird es mehr und mehr, je länger sie ihm verbunden ist. Ich kenne die Großherzogin seit dem Jahre 1805 und habe Gelegenheit in Menge gehabt, ihren Geist und Charakter zu bewundern. Sie ist eine der besten und bedeutendsten Frauen unserer Zeit, und würde es sein, wenn sie auch keine Fürstin wäre. Und das ists eben, worauf es ankommt, daß, wenn auch der Purpur abgelegt werden, noch sehr viel Großes, ja eigentlich noch das Beste übrig bleibe.«

Wir sprachen sodann über die Einheit Deutschlands und in welchem Sinne sie möglich und wünschenswert.

»Mir ist nicht bange,« sagte Goethe, »daß Deutschland nicht eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun. Vor allen aber sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins gegen den auswärtigen Feind. Es sei eins, daß der deutsche Taler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepaß eines weimarischen Bürgers von dem Grenzbeamten eines großen Nachbarstaates nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überhaupt keine Rede mehr. Deutschland sei ferner eins in Maß und Gewicht, in Handel und Wandel und hundert ähnlichen Dingen, die ich nicht alle nennen kann und mag.

Wenn man aber denkt, die Einheit Deutschlands bestehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große Residenz habe, und daß diese eine große Residenz, wie zum Wohl der Entwickelung einzelner großer Talente, so auch zum Wohl der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum.

Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Körper mit vielen Gliedern verglichen, und so ließe sich wohl die Residenz eines Staates dem Herzen vergleichen, von welchem aus Leben und Wohlsein in die einzelnen nahen und fernen Glieder strömt. Sind aber die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströmende Leben schwach und immer schwächer empfunden werden. Ein geistreicher Franzose, ich glaube Dupin, hat eine Karte über den Kulturzustand Frankreichs entworfen und die größere oder geringere Aufklärung der verschiedenen Departements mit helleren oder dunkleren Farben zur Anschauung gebracht. Da finden sich nun besonders in südlichen, weit von der Residenz entlegenen Provinzen, einzelne Departements, die in ganz schwarzer Farbe daliegen, als Zeichen einer dort herrschenden großen Finsternis. Würde das aber wohl sein, wenn das schöne Frankreich statt des einen großen Mittelpunktes zehn Mittelpunkte hätte, von denen Licht und Leben ausginge?

Wodurch ist Deutschland groß als durch eine bewundernswürdige Volkskultur, die alle Teile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen sie ausgeht und welche ihre Träger und Pfleger sind? – Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände, ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!

Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken, an Kunstsammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl; denn jeder Fürst hat dafür gesorgt, dergleichen Schönes und Gutes in seine Nähe heranzuziehen. Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluß da, ja es ist kaum ein deutsches Dorf, das nicht seine Schule hätte. Wie steht es aber um diesen letzten Punkt in Frankreich!

Und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebenzig hinausgeht und die doch auch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und das ist auch etwas!

Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen auf die benachbarten Provinzen ausgehen, und fragen Sie sich, ob das alles sein würde, wenn sie nicht seit langen Zeiten die Sitze von Fürsten gewesen?

Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? – Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.«

 


 

Mittwoch, den 3. Dezember 1828*

Heute hatte ich mit Goethen einen anmutigen Spaß ganz besonderer Art. Madame Duval zu Cartigny im Kanton Genf nämlich, die sehr geschickt in Zubereitung von Konfitüren ist, hatte mir als Produkte ihrer Kunst einige Zedraten für die Frau Großfürstin und Goethe geschickt, völlig überzeugt, daß ihre Konfitüren alle anderen so weit übertreffen, als die Gedichte Goethes diejenigen der meisten seiner deutschen Mitbewerber.

Die älteste Tochter jener Dame hatte nun schon längst eine Handschrift Goethes gewünscht, worauf es mir einfiel, daß es klug sein würde, durch die süße Lockspeise der Zedraten Goethen zu einem Gedicht für meine junge Freundin anzukörnen.

Mit der Miene eines mit einem wichtigen Geschäft beauftragten Diplomaten ging ich daher zu ihm und unterhandelte mit ihm als Macht gegen Macht, indem ich für die offerierten Zedraten ein Originalgedicht seiner Hand zur Bedingung machte. Goethe lachte über diesen Scherz, den er sehr wohl aufnahm, und sich sogleich die Zedraten erbat, die er ganz vortrefflich fand. Wenige Stunden darauf war ich sehr überrascht, folgende Verse als ein Weihnachtsgeschenk für meine junge Freundin ankommen zu sehen:

Glücklich Land, allwo Zedraten
Zur Vollkommenheit geraten!
Und zu reizendem Genießen
Kluge Frauen sie durchsüßen! usw.

Als ich ihn wiedersah, scherzte er über den Vorteil, den er jetzt aus seinem poetischen Metier zu ziehen imstande sei, während er in seiner Jugend zu seinem ›Götz‹ keinen Verleger habe finden können. »Ihren Handelsvertrag«, sagte er, »nehme ich an; wenn meine Zedraten verschmaust sein werden, vergessen Sie ja nicht andere zu kommandieren, ich werde pünktlich mit meinen poetischen Wechseln zahlen.«

 


 

Sonntag, den 21. Dezember 1828

Ich hatte in voriger Nacht einen wunderlichen Traum, den ich diesen Abend Goethen erzählte und den er sehr artig fand. Ich sah mich nämlich in einer fremden Stadt, in einer breiten Straße gegen Südost, wo ich mit einer Menge Menschen stand und den Himmel betrachtete, der wie mit leisen Dünsten bedeckt schien und im hellsten Gelb leuchtete. Jedermann war erwartungsvoll, was sich ereignen würde, als sich zwei feurige Punkte bildeten, die gleich Meteorsteinen mit Krachen vor uns niederfuhren, nicht weit von der Stelle, wo wir standen. Man eilte hin, um zu sehen, was herabgekommen war, und siehe, es trat mir entgegen Faust und Mephistopheles. – Ich war erfreut-verwundert, und gesellte mich zu ihnen als zu Bekannten, und ging neben ihnen her in heiterer Unterhaltung, indem wir um die nächste Straßenecke bogen. Was wir sprachen, ist mir nicht geblieben; doch der Eindruck ihres körperlichen Wesens war so eigener Art, daß er mir vollkommen deutlich und nicht leicht zu vergessen ist. Beide waren jünger, als man sie gewöhnlich zu denken pflegt, und zwar mochte Mephistopheles einundzwanzig Jahre sein, wenn Faust siebenundzwanzig haben konnte. Ersterer erschien durchaus vornehm, heiter und frei; er schritt so leicht einher, wie man sich etwa den Merkur denkt. Sein Gesicht war schön, ohne bösen Zug, und man hätte nicht erkennen mögen, daß es der Teufel sei, wenn nicht von seiner jugendlichen Stirn zwei zierliche Hörner sich erhoben und seitwärts gebogen hätten, so wie wohl ein schöner Haarwuchs sich erhebt und zu beiden Seiten umbiegt. Als Faust im Gehen sein Gesicht redend mir zuwandte, war ich erstaunt über den eigenartigen Ausdruck. Die edelste Sittlichkeit und Herzensgüte sprach aus jedem Zug als das Vorwaltende, Ursprüngliche seiner Natur. Man sah ihm an, als wären alle menschlichen Freuden, Leiden und Gedanken, trotz seiner Jugend, bereits durch seine Seele gegangen: so durchgearbeitet war sein Gesicht. Er war ein wenig blaß und so anziehend, daß man sich nicht satt an ihm sehen konnte; ich suchte mir seine Züge einzuprägen, um sie zu zeichnen. Faust ging rechts, Mephistopheles zwischen uns beiden, und es ist mir der Eindruck geblieben, wie Faust sein schönes eigenartiges Gesicht herumwandte, um mit Mephistopheles oder mit mir zu reden. Wir gingen durch die Straßen, und die Menge verlief sich, ohne weiter auf uns zu achten.

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