Montag, den 15. März 1830

Abends ein Stündchen bei Goethe. Er sprach viel über Jena und die Einrichtungen und Verbesserungen, die er in den verschiedenen Branchen der Universität zustande gebracht. Für Chemie, Botanik und Mineralogie, die früher nur insoweit sie zur Pharmazie gehörig behandelt worden, habe er besondere Lehrstühle eingeführt. Vor allem sei für das Naturwissenschaftliche Museum und die Bibliothek von ihm manches Gute bewirkt worden.

Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir mit vielem Selbstbehagen und guter Laune die Geschichte seiner gewaltsamen Besitzergreifung eines an die Bibliothek grenzenden Saales, den die medizinische Fakultät inne gehabt, aber nicht habe hergeben wollen.

»Die Bibliothek«, sagte er, »befand sich in einem sehr schlechten Zustande. Das Lokal war feucht und enge und bei weitem nicht geeignet, seine Schätze gehörigerweise zu fassen, besonders seit durch den Ankauf der Büttnerschen Bibliothek von seiten des Großherzogs abermals 13 000 Bände hinzugekommen waren, die in großen Haufen am Boden umherlagen, weil es, wie gesagt, an Raum fehlte, sie gehörig zu placieren. Ich war wirklich dieserhalb in einiger Not. Man hätte zu einem neuen Anbau schreiten müssen, allein dazu fehlten die Mittel; auch konnte ein neuer Anbau noch recht gut vermieden werden, indem unmittelbar an die Räume der Bibliothek ein großer Saal grenzte, der leer stand und ganz geeignet war, allen unseren Bedürfnissen auf das herrlichste abzuhelfen. Allein dieser Saal war nicht im Besitz der Bibliothek, sondern im Gebrauch der Fakultät der Mediziner, die ihn mitunter zu ihren Konferenzen benutzten. Ich wendete mich also an diese Herren mit der sehr höflichen Bitte, mir diesen Saal für die Bibliothek abzutreten. Dazu aber wollten die Herren sich nicht verstehen. Allenfalls seien sie geneigt nachzugeben, wenn ich ihnen für den Zweck ihrer Konferenzen einen neuen Saal wolle bauen lassen, und zwar sogleich. Ich erwiderte ihnen, daß ich sehr bereit sei, ein anderes Lokal für sie herrichten zu lassen, daß ich aber einen sofortigen Neubau nicht versprechen könne. Diese meine Antwort schien aber den Herren nicht genügt zu haben; denn als ich am andern Morgen hinschickte, um mir den Schlüssel ausbitten zu lassen, hieß es: er sei nicht zu finden.

Da blieb nun weiter nichts zu tun, als eroberungsweise einzuschreiten. Ich ließ also einen Maurer kommen und führte ihn in die Bibliothek vor die Wand des angrenzenden gedachten Saales. ›Diese Mauer, mein Freund,‹ sagte ich, ›muß sehr dick sein, denn sie trennet zwei verschiedene Wohnungspartien. Versuchet doch einmal und prüfet, wie stark sie ist.‹ Der Maurer schritt zu Werke; und kaum hatte er fünf bis sechs herzhafte Schläge getan, als Kalk und Backsteine fielen und man durch die entstandene Öffnung schon einige ehrwürdige Porträts alter Perücken herdurchschimmern sah, womit man den Saal dekoriert hatte. ›Fahret nur fort, mein Freund,‹ sagte ich, ›ich sehe noch nicht helle genug. Geniert Euch nicht und tut ganz, als ob Ihr zu Hause wäret.‹ Diese freundliche Ermunterung wirkte auf den Maurer so belebend, daß die Öffnung bald groß genug ward, um vollkommen als Tür zu gelten, worauf denn meine Bibliotheksleute in den Saal drangen, jeder mit einem Arm voll Bücher, die sie als Zeichen der Besitzergreifung auf den Boden warfen. Bänke, Stühle und Pulte verschwanden in einem Augenblick, und meine Getreuen hielten sich so rasch und tätig dazu, daß schon in wenigen Tagen sämtliche Bücher in ihren Reposituren in schönster Ordnung an den Wänden umherstanden. Die Herren Mediziner, die bald darauf durch ihre gewohnte Tür in corpore in den Saal traten, waren ganz verblüfft, eine so große und unerwartete Verwandlung zu finden. Sie wußten nicht, was sie sagen sollten, und zogen sich stille wieder zurück; aber sie bewahrten mir alle einen heimlichen Groll. Doch wenn ich sie einzeln sehe, und besonders wenn ich einen oder den andern von ihnen bei mir zu Tisch habe, so sind sie ganz scharmant und meine sehr lieben Freunde. Als ich dem Großherzog den Verlauf dieses Abenteuers erzählte, das freilich mit seinem Einverständnis und seiner völligen Zustimmung eingeleitet war, amüsierte es ihn königlich, und wir haben später recht oft darüber gelacht.«

Goethe war in sehr guter Laune und glücklich in diesen Erinnerungen. »Ja, mein Freund,« fuhr er fort, »man hat seine Not gehabt, um gute Dinge durchzusetzen. Später, als ich wegen großer Feuchtigkeit der Bibliothek einen schädlichen Teil der ganz nutzlosen alten Stadtmauer wollte abreißen und hinwegräumen lassen, ging es mir nicht besser. Meine Bitten, guten Gründe und vernünftigen Vorstellungen fanden kein Gehör, und ich mußte auch hier endlich eroberungsweise zu Werke gehen. Als nun die Herren der Stadtverwaltung meine Arbeiter an ihrer alten Mauer im Werke sahen, schickten sie eine Deputation an den Großherzog, der sich damals in Dornburg aufhielt, mit der ganz untertänigen Bitte: daß es doch Seiner Hoheit gefallen möge, durch ein Machtwort mir in dem gewaltsamen Einreißen ihrer alten ehrwürdigen Stadtmauer Einhalt zu tun. Aber der Großherzog, der mich auch zu diesem Schritt heimlich autorisiert hatte, antwortete sehr weise: ›Ich mische mich nicht in Goethes Angelegenheiten. Er weiß schon, was er zu tun hat, und muß sehen, wie er zurechte kommt. Geht doch hin und sagt es ihm selbst, wenn ihr die Courage habt!‹

Es ließ sich aber niemand bei mir blicken,« fügte Goethe lachend hinzu »ich fuhr fort von der alten Mauer niederreißen zu lassen, was mir im Wege stand, und hatte die Freude, meine Bibliothek endlich trocken zu sehen.«

 


 

Mittwoch, den 17. [Freitag, den 19.] März 1830*

Abends ein paar Stündchen bei Goethe. Ich brachte ihm im Auftrag der Frau Großfürstin ›Gemma von Art‹ zurück und äußerte gegen ihn über dieses Stück alles Gute, was ich darüber in Gedanken hatte. »Ich freue mich immer,« erwiderte er, »wenn etwas hervorgebracht worden, das in der Erfindung neu ist und überhaupt den Stempel des Talentes trägt.« Darauf, indem er den Band zwischen beide Hände nahm und ihn ein wenig von der Seite ansah, fügte er hinzu: »Aber es will mir nie recht gefallen, wenn ich sehe, daß dramatische Schriftsteller Stücke machen, die durchaus zu lang sind, um so gegeben werden zu können, wie sie geschrieben. Diese Unvollkommenheit nimmt mir die Hälfte des Vergnügens, das ich sonst darüber empfinden würde. Sehen Sie nur, was ›Gemma von Art‹ für ein dicker Band ist.«

»Schiller«, erwiderte ich, »hat es nicht viel besser gemacht, und doch ist er ein sehr großer dramatischer Schriftsteller.«

»Auch er hat freilich darin gefehlt«, erwiderte Goethe. »Besonders seine ersten Stücke, die er in der ganzen Fülle der Jugend schrieb, wollen gar kein Ende nehmen. Er hatte zu viel auf dem Herzen und zu viel zu sagen, als daß er es hätte beherrschen können. Später, als er sich dieses Fehlers bewußt war, gab er sich unendliche Mühe und suchte ihn durch Studium und Arbeit zu überwinden, aber es hat ihm damit nie recht gelingen wollen. Seinen Gegenstand gehörig beherrschen und sich vom Leibe zu halten und sich nur auf das durchaus Notwendige zu konzentrieren, erfordert freilich die Kräfte eines poetischen Riesen und ist schwerer, als man denkt.«

Hofrat Riemer ließ sich melden und trat herein. Ich schickte mich an zu gehen, weil ich wußte, daß es der Abend war, wo Goethe mit Riemer zu arbeiten pflegt. Allein Goethe bat mich zu bleiben, welches ich denn sehr gerne tat und wodurch ich Zeuge einer Unterhaltung wurde voll Übermut, Ironie und mephistophelischer Laune von seiten Goethes.

»Da ist der Sömmering gestorben,« fing Goethe an, »kaum elende fünfundsiebzig Jahr alt. Was doch die Menschen für Lumpe sind, daß sie nicht die Courage haben, länger auszuhalten als das! Da lobe ich mir meinen Freund Bentham, diesen höchst radikalen Narren; er hält sich gut, und doch ist er noch einige Wochen älter als ich.«

»Man könnte hinzufügen,« erwiderte ich, »daß er Ihnen noch in einem anderen Punkte gleicht, denn er arbeitet noch immer mit der ganzen Tätigkeit der Jugend.«

»Das mag sein,« erwiderte Goethe »aber wir befinden uns an den beiden entgegengesetzten Enden der Kette: er will niederreißen, und ich möchte erhalten und aufbauen. In seinem Alter so radikal zu sein, ist der Gipfel aller Tollheit.«

»Ich denke,« entgegnete ich, »man muß zwei Arten von Radikalismus unterscheiden. Der eine, um künftig aufzubauen, will vorher reine Bahn machen und alles niederreißen, während der andere sich begnügt, auf die schwachen Partien und Fehler einer Staatsverwaltung hinzudeuten, in Hoffnung das Gute zu erreichen ohne die Anwendung gewaltsamer Mittel. In England geboren, würden Sie dieser letzten Art sicher nicht entgangen sein.«

»Wofür halten Sie mich?« erwiderte Goethe, der nun ganz die Miene und den Ton seines Mephisto annahm. »Ich hätte sollen Mißbräuchen nachspüren, und noch obendrein sie aufdecken und sie namhaft machen, ich, der ich in England von Mißbräuchen würde gelebt haben? – In England geboren, wäre ich ein reicher Herzog gewesen, oder vielmehr ein Bischof mit jährlichen 30 000 Pfund Sterling Einkünfte.«

»Recht hübsch!« erwiderte ich; »aber wenn Sie zufällig nicht das große Los, sondern eine Niete gezogen hätten? Es gibt so unendlich viele Nieten.«

»Nicht jeder, mein Allerbester,« erwiderte Goethe, »ist für das große Los gemacht. Glauben Sie denn, daß ich die Sottise begangen haben würde, auf eine Niete zu fallen? – Ich hätte vor allen Dingen die Partie der 39 Artikel ergriffen, ich hätte sie nach allen Seiten und Richtungen hin verfochten, besonders den Artikel 9, der für mich ein Gegenstand einer ganz besonderen Aufmerksamkeit und zärtlichen Hingebung gewesen sein würde. Ich hätte in Reimen und Prosa so lange und so viel geheuchelt und gelogen, daß meine 30 000 Pfund jährlich mir nicht hätten entgehen sollen. Und dann, einmal zu dieser Höhe gelangt, würde ich nichts unterlassen haben, mich oben zu erhalten. Besonders würde ich alles getan haben, die Nacht der Unwissenheit wo möglich noch finsterer zu machen. O wie hätte ich die gute einfältige Masse kajolieren wollen, und wie hätte ich die liebe Schuljugend wollen zurichten lassen, damit ja niemand hätte wahrnehmen, ja nicht einmal den Mut hätte haben sollen zu bemerken, daß mein glänzender Zustand auf der Basis der schändlichsten Mißbräuche fundiert sei!«

»Bei Ihnen«, versetzte ich, »hätte man doch wenigstens den Trost gehabt zu denken, daß Sie durch ein vorzügliches Talent zu solcher Höhe gelangt; in England aber sind oft grade die Dümmsten und Unfähigsten im Genuß der höchsten irdischen Güter, die sie keineswegs dem eigenen Verdienst, sondern der Protektion, dem Zufall und vor allem der Geburt zu verdanken haben.«

»Im Grunde«, erwiderte Goethe, »ist es gleichviel, ob einem die glänzenden Güter der Erde durch eigene Eroberung oder durch Erbschaft zugefallen. Die ersten Besitzergreifer waren doch auf jeden Fall Leute von Genie, welche die Unwissenheit und Schwäche der anderen sich zunutze machten. – Die Welt ist so voller Schwachköpfe und Narren, daß man nicht nötig hat, sie im Tollhause zu suchen. Hiebei fällt mir ein, daß der verstorbene Großherzog, der meinen Widerwillen gegen Tollhäuser kannte, mich durch List und Überraschung einst in ein solches einführen wollte. Ich roch aber den Braten noch zeitig genug und sagte ihm, daß ich keineswegs ein Bedürfnis verspüre, auch noch diejenigen Narren zu sehen, die man einsperre, vielmehr schon an denen vollkommen genug habe, die frei umhergehen. ›Ich bin sehr bereit,‹ sagte ich, ›Eurer Hoheit, wenn es sein muß, in die Hölle zu folgen, aber nur nicht in die Tollhäuser.‹

O welch ein Spaß würde es für mich sein, die 39 Artikel auf meine Weise zu traktieren und die einfältige Masse in Erstaunen zu setzen!«

»Auch ohne Bischof zu sein,« sagte ich, »könnten Sie sich dieses Vergnügen machen.«

»Nein,« erwiderte Goethe, »ich werde mich ruhig verhalten; man muß sehr gut bezahlt sein, um so zu lügen. Ohne Aussicht auf die Bischofsmütze und meine 30 000 Pfund jährlich könnte ich mich nicht dazu verstehen. Übrigens habe ich schon ein Pröbchen in diesem Genre abgelegt. Ich habe als sechzehnjähriger Knabe ein dithyrambisches Gedicht über die Höllenfahrt Christi geschrieben, das sogar gedruckt, aber nicht bekannt geworden, und das erst in diesen Tagen mir wieder in die Hände kommt. Das Gedicht ist voll orthodoxer Borniertheit und wird mir als herrlicher Paß in den Himmel dienen. Nicht wahr, Riemer, Sie kennen es?«

»Nein, Exzellenz,« erwiderte Riemer, »ich kenne es nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im ersten Jahre nach meiner Ankunft schwer krank waren und in Ihrem Phantasieren mir einmal die schönsten Verse über denselbigen Gegenstand rezitierten. Es waren dies ohne Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen Jugend.«

»Die Sache ist sehr wahrscheinlich«, sagte Goethe. »Es ist mir ein Fall bekannt, wo ein alter Mann geringen Standes, der in den letzten Zügen lag, ganz unerwartet die schönsten griechischen Sentenzen rezitierte. Man war vollkommen überzeugt, daß dieser Mann kein Wort Griechisch verstehe, und schrie daher Wunder über Wunder, ja die Klugen fingen schon an, aus dieser Leichtgläubigkeit der Toren Vorteil zu ziehen, als man unglücklicherweise entdeckte, daß jener Alte in seiner frühen Jugend war genötigt worden, allerlei griechische Sprüche auswendig zu lernen, und zwar in Gegenwart eines Knaben von hoher Familie, den man durch sein Beispiel anzuspornen trachtete. Er hatte jenes wirklich klassische Griechisch ganz maschinenmäßig gelernt, ohne es zu verstehen, und hatte seit funfzig Jahren nicht wieder daran gedacht, bis endlich in seiner letzten Krankheit jener Wortkram mit einem Mal wieder anfing, sich zu regen und lebendig zu werden.«

Goethe kam darauf mit derselbigen Malice und Ironie nochmals auf die enorme Besoldung der englischen hohen Geistlichkeit zurück und erzählte sodann sein Abenteuer mit dem Lord Bristol, Bischof von Derby.

»Lord Bristol«, sagte Goethe, »kam durch Jena, wünschte meine Bekanntschaft zu machen und veranlaßte mich, ihn eines Abends zu besuchen. Er gefiel sich darin, gelegentlich grob zu sein; wenn man ihm aber ebenso grob entgegentrat, so war er ganz traktabel. Er wollte mir im Lauf unseres Gesprächs eine Predigt über den ›Werther‹ halten und es mir ins Gewissen schieben, daß ich dadurch die Menschen zum Selbstmord verleitet habe. ›Der Werther‹, sagte er, ›ist ein ganz unmoralisches, verdammungswürdiges Buch.‹ – ›Halt!‹ rief ich. ›Wenn Ihr so über den armen ›Werther‹ redet, welchen Ton wollt Ihr denn gegen die Großen dieser Erde anstimmen, die durch einen einzigen Federzug hunderttausend Menschen ins Feld schicken, wovon achtzigtausend sich töten und sich gegenseitig zu Mord, Brand und Plünderung anreizen. Ihr danket Gott nach solchen Greueln und singet ein Tedeum darauf! Und ferner, wenn Ihr durch Eure Predigten über die Schrecken der Höllenstrafen die schwachen Seelen Eurer Gemeinden ängstiget, so daß sie darüber den Verstand verlieren und ihr armseliges Dasein zuletzt in einem Tollhause endigen! Oder wenn Ihr durch manche Eurer orthodoxen, vor der Vernunft unhaltbaren Lehrsätze in die Gemüter Eurer christlichen Zuhörer die verderbliche Saat des Zweifels säet, so daß diese halb starken, halb schwachen Seelen in einem Labyrinth sich verlieren, aus dem für sie kein Ausweg ist als der Tod! Was sagt Ihr da zu Euch selber, und welche Strafrede haltet Ihr Euch da? – Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefaßt, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts Besseres tun konnten, als den schwachen Rest ihres bißchen Lichtes vollends auszublasen! Ich dachte, ich hätte der Menschheit einen wirklichen Dienst geleistet und ihren Dank verdient, und nun kommt Ihr und wollt mir diese gute kleine Waffentat zum Verbrechen machen, während Ihr anderen, Ihr Priester und Fürsten, Euch so Großes und Starkes erlaubt!‹

Dieser Ausfall tat auf meinen Bischof eine herrliche Wirkung. Er ward so sanft wie ein Lamm und benahm sich von nun an gegen mich in unserer weiteren Unterhaltung mit der größten Höflichkeit und dem feinsten Takt. Ich verlebte darauf mit ihm einen sehr guten Abend. Denn Lord Bristol, so grob er sein konnte, war ein Mann von Geist und Welt, und durchaus fähig, in die verschiedenartigsten Gegenstände einzugehen. Bei meinem Abschied gab er mir das Geleit und ließ darauf durch seinen Abbé die Honneurs fortsetzen. Als ich mit diesem auf die Straße gelangt war, rief er mir zu: ›O Herr von Goethe, wie vortrefflich haben Sie gesprochen, und wie haben Sie dem Lord gefallen und das Geheimnis verstanden, den Weg zu seinem Herzen zu finden. Mit etwas weniger Derbheit und Entschiedenheit würden Sie von Ihrem Besuch sicher nicht so zufrieden nach Hause gehen, wie Sie es jetzt tun.‹«

»Sie haben wegen Ihres ›Werther‹ allerlei zu ertragen gehabt«, bemerkte ich. »Ihr Abenteuer mit Lord Bristol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napoleon über diesen Gegenstand. War nicht auch Talleyrand dabei?«

»Er war zugegen«, erwiderte Goethe. »Ich hatte mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war äußerst liebenswürdig gegen mich und traktierte den Gegenstand, wie es sich von einem so grandiosen Geiste erwarten ließ.«

Vom ›Werther‹ lenkte sich das Gespräch auf Romane und Schauspiele im allgemeinen und ihre moralische oder unmoralische Wirkung auf das Publikum. »Es müßte schlimm zugehen,« sagte Goethe, »wenn ein Buch unmoralischer wirken sollte als das Leben selber, das täglich der skandalösen Szenen im Überfluß, wo nicht vor unseren Augen, doch vor unseren Ohren entwickelt. Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buches oder Theaterstückes keineswegs so ängstlich zu sein. Das tägliche Leben ist, wie gesagt, lehrreicher als das wirksamste Buch.«

»Aber doch«, bemerkte ich, »sucht man sich bei Kindern in acht zu nehmen, daß man in ihrer Gegenwart nicht Dinge spricht, welche zu hören wir für sie nicht gut halten.«

»Das ist recht löblich,« erwiderte Goethe, »und ich tue es selbst nicht anders; allein ich halte diese Vorsicht durchaus für unnütz. Die Kinder haben, wie die Hunde, einen so scharfen und feinen Geruch, daß sie alles entdecken und auswittern, und das Schlimme vor allem anderen. Sie wissen auch immer ganz genau, wie dieser oder jener Hausfreund zu ihren Eltern steht, und da sie nun in der Regel noch keine Verstellung üben, so können sie uns als die trefflichsten Barometer dienen, um an ihnen den Grad unserer Gunst oder Ungunst bei den Ihrigen wahrzunehmen.

Man hatte einst in der Gesellschaft schlecht von mir gesprochen, und zwar erschien die Sache für mich von solcher Bedeutung, daß mir sehr viel daran liegen mußte zu erfahren, woher der Schlag kam. Im allgemeinen war man hier überaus wohlwollend gegen mich gesinnt; ich dachte hin und her und konnte gar nicht herausbringen, von wem jenes gehässige Gerede könne ausgegangen sein. Mit einemmal bekomme ich Licht. Es begegneten mir nämlich eines Tages in der Straße einige kleine Knaben meiner Bekanntschaft, die mich nicht grüßten, wie sie sonst zu tun pflegten. Dies war mir genug, und ich entdeckte auf dieser Fährte sehr bald, daß es ihre lieben Eltern waren, die ihre Zungen auf meine Kosten auf eine so arge Weise in Bewegung gesetzt hatten.«

 


 

Montag, den 29. März 1830*

Abends einige Augenblicke bei Goethe. Er schien sehr ruhig und heiter und in der mildesten Stimmung. Ich fand ihn umgeben von seinem Enkel Wolf und Gräfin Karoline Egloffstein, seiner intimen Freundin. Wolf machte seinem lieben Großvater viel zu schaffen. Er kletterte auf ihm herum und saß bald auf der einen Schulter und bald auf der anderen. Goethe erduldete alles mit der größten Zärtlichkeit, so unbequem das Gewicht des zehnjährigen Knaben seinem Alter auch sein mochte. »Aber lieber Wolf,« sagte die Gräfin, »plage doch deinen guten Großvater nicht so entsetzlich! er muß ja von deiner Last ganz ermüdet werden.« – »Das hat gar nichts zu sagen,« erwiderte Wolf – »wir gehen bald zu Bette, und da wird der Großvater Zeit haben, sich von dieser Fatigue ganz vollkommen wieder auszuruhen.« – »Sie sehen,« nahm Goethe das Wort, »daß die Liebe immer ein wenig impertinenter Natur ist.«

Das Gespräch wendete sich auf Campe und dessen Kinderschriften. »Ich bin mit Campen«, sagte Goethe, »nur zweimal in meinem Leben zusammengetroffen. Nach einem Zwischenraum von vierzig Jahren sah ich ihn zuletzt in Karlsbad. Ich fand ihn damals sehr alt, dürr, steif und abgemessen. Er hatte sein ganzes Leben lang nur für Kinder geschrieben; ich dagegen gar nichts für Kinder, ja nicht einmal für große Kinder von zwanzig Jahren. Auch konnte er mich nicht ausstehen. Ich war ihm ein Dorn im Auge, ein Stein des Anstoßes, und er tat alles, um mich zu vermeiden. Doch führte das Geschick mich eines Tages ganz unerwartet an seine Seite, so daß er nicht umhin konnte, einige Worte an mich zu wenden. ›Ich habe‹, sagte er, ›vor den Fähigkeiten Ihres Geistes allen Respekt! Sie haben in verschiedenen Fächern eine erstaunliche Höhe erreicht. Aber, sehen Sie, das sind alles Dinge, die mich nichts angehen und auf die ich gar nicht den Wert legen kann, den andere Leute darauf legen.‹ Diese etwas ungalante Freimütigkeit verdroß mich keineswegs, und ich sagte ihm dagegen allerlei Verbindliches. Auch halte ich in der Tat ein großes Stück auf Campe. Er hat den Kindern unglaubliche Dienste geleistet; er ist ihr Entzücken und sozusagen ihr Evangelium. Bloß wegen zwei oder drei ganz schrecklicher Geschichten, die er nicht bloß die Ungeschicklichkeit gehabt hat zu schreiben, sondern auch in seine Sammlung für Kinder mit aufzunehmen, möchte ich ihn ein wenig gezüchtiget sehen. Warum soll man die heitere, frische, unschuldige Phantasie der Kinder so ganz unnötigerweise mit den Eindrücken solcher Greuel belasten!«

 


 

Montag, den 5. April 1830

Es ist bekannt, daß Goethe kein Freund von Brillen ist.

»Es mag eine Wunderlichkeit von mir sein,« sagte er mir bei wiederholten Anlässen, »aber ich kann es einmal nicht überwinden. Sowie ein Fremder mit der Brille auf der Nase zu mir hereintritt, kommt sogleich eine Verstimmung über mich, der ich nicht Herr werden kann. Es geniert mich so sehr, daß es einen großen Teil meines Wohlwollens sogleich auf der Schwelle hinwegnimmt und meine Gedanken so verdirbt, daß an eine unbefangene natürliche Entwickelung meines eigenen Innern nicht mehr zu denken ist. Es macht mir immer den Eindruck des Desobligeanten, ungefähr so, als wollte ein Fremder mir bei der ersten Begrüßung sogleich eine Grobheit sagen. Ich empfinde dieses noch stärker, nachdem ich seit Jahren es habe drucken lassen, wie fatal mir die Brillen sind. Kommt nun ein Fremder mit der Brille, so denke ich gleich: er hat deine neuesten Gedichte nicht gelesen – und das ist schon ein wenig zu seinem Nachteil; oder er hat sie gelesen, er kennt deine Eigenheit und setzt sich darüber hinaus – und das ist noch schlimmer. Der einzige Mensch, bei dem die Brille mich nicht geniert, ist Zelter; bei allen anderen ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Äußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!«

»Es hat jemand bemerken wollen,« versetzte ich, »daß das Brillentragen die Menschen dünkelhaft mache, indem die Brille sie auf eine Stufe sinnlicher Vollkommenheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eigenen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt sich die Täuschung bei ihnen einschleiche, daß diese künstliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur sei.«

»Die Bemerkung ist sehr artig,« erwiderte Goethe, »sie scheint von einem Naturforscher herzurühren. Doch genau besehen, ist sie nicht haltbar. Denn wäre es wirklich so, so müßten ja alle Blinden sehr bescheidene Menschen sein, dagegen alle mit trefflichen Augen begabten dünkelhaft. Dies ist aber durchaus nicht so; vielmehr finden wir, daß alle geistig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgestatteten Menschen in der Regel die bescheidensten sind, dagegen alle besonders geistig verfehlten weit eher einbilderischer Art. Es scheint, daß die gütige Natur allen denen, die bei ihr in höherer Hinsicht zu kurz gekommen sind, die Einbildung und den Dünkel als versöhnendes Ausgleichungs- und Ergänzungsmittel gegeben hat.

Übrigens sind Bescheidenheit und Dünkel sittliche Dinge so geistiger Art, daß sie wenig mit dem Körper zu schaffen haben. Bei Bornierten und geistig Dunkelen findet sich der Dünkel; bei geistig Klaren und Hochbegabten aber findet er sich nie. Bei solchen findet sich höchstens ein freudiges Gefühl ihrer Kraft; da aber diese Kraft wirklich ist, so ist dieses Gefühl auch alles andere, aber kein Dünkel.«

Wir unterhielten uns noch über verschiedene andere Gegenstände und kamen zuletzt auch auf das ›Chaos‹, dieser von Frau von Goethe geleiteten weimarischen Zeitschrift, woran nicht bloß hiesige deutsche Herren und Damen, sondern vorzüglich auch die hier sich aufhaltenden jungen Engländer, Franzosen und andere Fremdlinge teilnehmen, so daß denn fast jede Nummer ein Gemisch fast aller bekanntesten europäischen Sprachen darbietet.

»Es ist doch hübsch von meiner Tochter,« sagte Goethe, »und man muß sie loben und es ihr Dank wissen, daß sie das höchst originelle Journal zustande gebracht und die einzelnen Mitglieder unserer Gesellschaft so in Anregung zu erhalten weiß, daß es doch nun bald ein Jahr besteht. Es ist freilich nur ein dilettantischer Spaß, und ich weiß recht gut, daß nichts Großes und Dauerhaftes dabei herauskommt; allein es ist doch artig und gewissermaßen ein Spiegel der geistigen Höhe unserer jetzigen weimarischen Gesellschaft. Und dann, was die Hauptsache ist, es gibt unseren jungen Herren und Damen, die oft gar nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, etwas zu tun; auch haben sie dadurch einen geistigen Mittelpunkt, der ihnen Gegenstände der Besprechung und Unterhaltung bietet und sie also gegen den ganz nichtigen und hohlen Klatsch schützet. Ich lese jedes Blatt, sowie es frisch aus der Presse kommt, und kann sagen, daß mir im ganzen noch nichts Ungeschicktes vorgekommen ist, vielmehr mitunter sogar einiges recht Hübsche. Was wollen Sie z. B. gegen die Elegie der Frau von Bechtolsheim auf den Tod der Frau Großherzogin-Mutter einwenden? Ist das Gedicht nicht sehr artig? Das einzige, was sich gegen dieses sowie gegen das meiste unserer jungen Damen und Herren sagen ließe, wäre etwa, daß sie, gleich zu saftreichen Bäumen, die eine Menge Schmarotzerschößlinge treiben, einen Überfluß von Gedanken und Empfindungen haben, deren sie nicht Herr sind, so daß sie sich selten zu beschränken und da aufzuhören wissen, wo es gut wäre. Dieses ist auch der Frau von Bechtolsheim passiert. Um einen Reim zu bewahren, hatte sie einen anderen Vers hinzugefügt, der dem Gedicht durchaus zum Nachteil gereichte, ja es gewissermaßen verdarb. Ich sah diesen Fehler im Manuskript und konnte ihn noch zeitig genug ausmerzen. Man muß ein alter Praktikus sein«, fügte er lachend hinzu, »um das Streichen zu verstehen. Schiller war hierin besonders groß. Ich sah ihn einmal bei Gelegenheit seines ›Musenalmanachs‹ ein pompöses Gedicht von zweiundzwanzig Strophen auf sieben reduzieren, und zwar hatte das Produkt durch diese furchtbare Operation keineswegs verloren, vielmehr enthielten diese sieben Strophen noch alle guten und wirksamen Gedanken jener zweiundzwanzig.«

 


 

Montag, den 19. [12.] April 1830*

Goethe erzählte mir von dem Besuch zweier Russen, die heute bei ihm gewesen. »Es waren im ganzen recht hübsche Leute,« sagte er; »aber der eine zeigte sich mir nicht eben liebenswürdig, indem er während der ganzen Visite kein einziges Wort hervorbrachte. Er kam mit einer stummen Verbeugung herein, öffnete während seiner Anwesenheit nicht die Lippen und nahm nach einem halben Stündchen mit einer stummen Verbeugung wieder Abschied. Er schien bloß gekommen zu sein, mich anzusehen und zu beobachten. Er ließ, während ich ihnen gegenüber saß, seine Blicke nicht von mir. Das ennuyierte mich; weshalb ich denn anfing, das tollste Zeug hin und her zu schwatzen, so wie es mir grade in den Kopf fuhr. Ich glaube, ich hatte die Vereinigten Staaten von Nordamerika mir zum Thema genommen, das ich auf die leichtsinnigste Weise behandelte und davon sagte, was ich wußte und was ich nicht wußte, immer grade in den Tag hinein. Das schien aber meinen beiden Fremden eben recht zu sein, denn sie verließen mich dem Anscheine nach durchaus nicht unzufrieden.«

 


 

Donnerstag, den 22. [Freitag, den 23.] April 1830*

Bei Goethe zu Tisch. Frau von Goethe war gegenwärtig und die Unterhaltung angenehm belebt; doch ist mir davon wenig oder nichts geblieben.

Während der Tafel ließ ein durchreisender Fremder sich melden, mit dem Bemerken, daß er keine Zeit habe sich aufzuhalten und morgen früh wieder abreisen müsse. Goethe ließ ihm sagen, daß er sehr bedaure, heute niemanden sehen zu können; vielleicht aber morgen mittag. »Ich denke,« fügte er lächelnd hinzu, »das wird genug sein.« Zu gleicher Zeit aber versprach er seiner Tochter, daß er den Besuch des von ihr empfohlenen jungen Henning nach Tisch erwarten wolle, und zwar in Rücksicht seiner braunen Augen, die denen seiner Mutter gleichen sollten.

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