Mittwoch, den 10. Februar 1830*

Heute nach Tisch war ich einen Augenblick bei Goethe. Er freute sich des herannahenden Frühlings und der wieder länger werdenden Tage. Dann sprachen wir über die Farbenlehre. Er schien an der Möglichkeit zu zweifeln, seiner einfachen Theorie Bahn zu machen. »Die Irrtümer meiner Gegner«, sagte er, »sind seit einem Jahrhundert zu allgemein verbreitet, als daß ich auf meinem einsamen Wege hoffen könnte, noch diesen oder jenen Gefährten zu finden. Ich werde allein bleiben! – Ich komme mir oft vor wie ein Mann in einem Schiffbruch, der ein Brett ergreift, das nur einen einzigen zu tragen imstande ist. Dieser eine rettet sich, während alle übrigen jämmerlich ersaufen.«

 


 

Sonntag, den 14. Februar 1830*

Der heutige Tag war für Weimar ein Tag der Trauer: die Großherzogin Luise starb diesen Mittag halb zwei Uhr. Die regierende Frau Großherzogin befahl mir, bei Fräulein von Waldner und Goethe in ihrem Namen einen Kondolenzbesuch zu machen.

Ich ging zuerst zu Fräulein von Waldner. – Ich fand sie in Tränen und tiefer Betrübnis und sich ganz dem Gefühl ihres erlittenen Verlustes überlassend. »Ich war«, sagte sie, »seit länger als funfzig Jahren im Dienst der verewigten Fürstin. Sie hatte mich selbst zu ihrer Ehrendame erwählt, und diese freie Wahl ihrerseits war mein Stolz und mein Glück. Ich habe mein Vaterland verlassen, um ihrem Dienste zu leben. Hätte sie mich doch auch jetzt mit sich genommen, damit ich nicht nach einer Wiedervereinigung mit ihr so lange zu seufzen brauchte!«

Ich ging darauf zu Goethe. Aber wie ganz anders waren die Zustände bei ihm! – Er fühlte den ihn betroffenen Verlust gewiß nicht weniger tief, allein er schien seiner Empfindungen auf alle Weise Herr bleiben zu wollen. Ich fand ihn noch mit einem guten Freunde bei Tisch sitzen und eine Flasche Wein trinken. Er sprach lebhaft und schien überhaupt in sehr heiterer Stimmung. »Wohlan,« sagte er, als er mich sah, »kommen Sie her, nehmen Sie Platz! Der Schlag, der uns lange gedroht, hat endlich getroffen, und wir haben wenigstens nicht mehr mit der grausamen Ungewißheit zu kämpfen. Wir müssen nun sehen, wie wir uns mit dem Leben wieder zurechtsetzen.«

»Dort sind Ihre Tröster«, sagte ich, indem ich auf sein Papiere zeigte. »Die Arbeit ist ein treffliches Mittel, uns in Leiden wieder emporzurichten.«

»Solange es Tag ist,« erwiderte Goethe, »wollen wir den Kopf schon oben halten, und solange wir noch hervorbringen können, werden wir nicht nachlassen.«

Er sprach darauf über Personen, die ein hohes Alter erreicht, und erwähnte auch die berühmte Ninon. »Noch in ihrem neunzigsten Jahre«, sagte er, »war sie jung; aber sie verstand es auch, sich im Gleichgewicht zu erhalten, und machte sich aus den irdischen Dingen nicht mehr als billig. Selbst der Tod konnte ihr keinen übermäßigen Respekt einflößen. Als sie in ihrem achtzehnten Jahre von einer schweren Krankheit genas und die Umstehenden ihr die Gefahr schilderten, in der sie geschwebt, sagte sie ganz ruhig: ›Was wäre es denn weiter gewesen! Hätte ich doch lauter Sterbliche zurückgelassen!‹ – Sie lebte darauf noch über siebenzig Jahre, liebenswürdig und geliebt und alle Freuden des Lebens genießend; aber bei diesem ihr eigentümlichen Gleichmut sich stets über jeder verzehrenden Leidenschaftlichkeit erhaben haltend. Ninon verstand es; es gibt wenige, die es ihr nachtun.«

Er reichte mir sodann einen Brief des Königs von Bayern, den er heute erhalten hatte und der zu seiner heiteren Stimmung wahrscheinlich nicht wenig beigetragen. »Lesen Sie«, sagte er, »und gestehen Sie, daß das Wohlwollen, das der König mir fortwährend bewahrt, und das lebhafte Interesse, das er an den Fortschritten der Literatur und höheren menschlichen Entwickelung nimmt, durchaus geeignet ist, mir Freude zu machen. Und daß ich diesen Brief gerade heute erhielt, dafür danke ich dem Himmel als für eine besondere Gunst.«

Wir sprachen darauf über das Theater und dramatische Poesie. »Gozzi«, sagte Goethe, »wollte behaupten, daß es nur sechsunddreißig tragische Situationen gebe. Schiller gab sich alle Mühe noch mehrere zu finden, allein er fand nicht einmal so viele als Gozzi.«

Dies führte auf einen Artikel des ›Globe‹, und zwar auf eine kritische Beleuchtung des ›Gustav Adolf‹ von Arnault. Die Art und Weise, wie der Rezensent sich dabei benommen, machte Goethen viel Vergnügen und fand seinen vollkommenen Beifall. Der Beurteilende hatte sich nämlich damit begnügt, alle Reminiszenzen des Autors namhaft zu machen, ohne ihn selber und seine poetischen Grundsätze weiter anzugreifen. »Der ›Temps‹«, fügte Goethe hinzu, »hat sich in seiner Kritik nicht so weise benommen. Er maßt sich an, dem Dichter den Weg vorschreiben zu wollen, den er hätte gehen müssen. Dies ist ein großer Fehler, denn damit erreicht man nicht, ihn zu bessern. Es gibt überhaupt nichts Dümmeres, als einem Dichter zu sagen: dies hättest du müssen so machen, und dieses so! Ich spreche als alter Kenner. Man wird aus einem Dichter nie etwas anderes machen, als was die Natur in ihn gelegt hat. Wollt ihr ihn zwingen ein anderer zu sein, so werdet ihr ihn vernichten.

Meine Freunde, die Herren vom ›Globe‹, wie gesagt, machen es sehr klug: sie drucken eine lange Liste aller Gemeinplätze, die der Herr Arnault aus allen Ecken und Enden her geliehen hat; und indem sie dieses tun, deuten sie sehr geschickt die Klippe an, vor welcher der Autor sich künftig zu hüten hat. Es ist fast unmöglich, heutzutage noch eine Situation zu finden, die durchaus neu wäre. Bloß die Anschauungsweise und die Kunst, sie zu behandeln und darzustellen, kann neu sein, und hiebei muß man um so mehr vor jeder Nachahmung sich in acht nehmen.«

Goethe erzählte uns darauf die Art und Weise, wie Gozzi sein Theater del Arte zu Venedig eingerichtet hatte, und wie seine improvisierende Truppe beliebt gewesen. »Ich habe«, sagte er, »zu Venedig noch zwei Aktricen jener Truppe gesehen, besonders die Brighella, und habe noch mehreren solcher improvisierten Stücke mit beigewohnt. Die Wirkung, die diese Leute hervorbrachten, war außerordentlich.«

Goethe sprach sodann über den neapolitanischen Pulcinell. »Ein Hauptspaß dieser niedrig-komischen Personnage«, sagte er, »bestand darin, daß er zuweilen auf der Bühne seine Rolle als Schauspieler auf einmal ganz zu vergessen schien. Er tat als wäre er wieder nach Hause gekommen, sprach vertraulich mit seiner Familie, erzählte von dem Stücke, in welchem er soeben gespielt, und von einem anderen, worin er noch spielen solle; auch genierte er sich nicht, kleinen Naturbedürfnissen ungehinderte Freiheit zu lassen. ›Aber, lieber Mann,‹ rief ihm sodann seine Frau zu, ›du scheinst dich ja ganz zu vergessen; bedenke doch die werte Versammlung, vor welcher du dich befindest!‹ – ›E vero! E vero!‹ erwiderte darauf Pulcinell, sich wieder besinnend, und kehrte unter großem Applaus der Zuschauer in sein voriges Spiel zurück. Das Theater des Pulcinell ist übrigens von solchem Ruf, daß niemand in guter Gesellschaft sich rühmt, darin gewesen zu sein. Frauen, wie man denken kann, gehen überhaupt nicht hin. es wird nur von Männern besucht.

Der Pulcinell ist in der Regel eine Art lebendiger Zeitung. Alles, was den Tag über sich in Neapel Auffallendes zugetragen hat, kann man abends von ihm hören. Diese Lokalinteressen, verbunden mit dem niedern Volksdialekt, machen es jedoch dem Fremden fast unmöglich, ihn zu verstehen.«

Goethe lenkte das Gespräch auf andere Erinnerungen seiner früheren Zeit. Er sprach über sein geringes Vertrauen zum Papiergelde, und welche Erfahrungen er in dieser Art gemacht. Als Bestätigung erzählte er uns eine Anekdote von Grimm, und zwar aus der Zeit der Französischen Revolution, wo dieser, es in Paris nicht mehr für sicher haltend, wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und in Gotha lebte.

»Wir waren«, sagte Goethe, »eines Tages bei Grimm zu Tisch. Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch es herbeiführte, genug, Grimm rief mit einem Mal: ›Ich wette, daß kein Monarch in Europa ein Paar so kostbare Handmanschetten besitzt als ich, und daß keiner dafür einen so hohen Preis bezahlt hat, als ich es habe.‹ – Es läßt sich denken, daß wir ein lautes ungläubiges Erstaunen ausdrückten, besonders die Damen, und daß wir alle sehr neugierig waren, ein Paar so wunderbare Handmanschetten zu sehen. Grimm stand also auf und holte aus seinem Schränkchen ein Paar Spitzenmanschetten von so großer Pracht, daß wir alle in laute Verwunderung ausbrachen. Wir versuchten es, sie zu schätzen, konnten sie jedoch nicht höher halten als etwa zu hundert bis zweihundert Louisdor. Grimm lachte und rief: ›Ihr seid sehr weit vom Ziele! Ich habe sie mit zweimalhundertundfunfzigtausend Franken bezahlt und war noch glücklich, meine Assignaten so gut angebracht zu haben. Am nächsten Tage galten sie keinen Groschen mehr.‹«

 


 

Montag, den 15. Februar 1830*

Ich war diesen Vormittag einen Augenblick bei Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin nach seinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn betrübt und gedankenvoll und von der gestrigen etwas gewaltsamen Aufgeregtheit keine Spur. Er schien die Lücke, die der Tod in ein funfzigjähriges freundschaftliches Verhältnis gerissen, heute tief zu empfinden. »Ich muß mit Gewalt arbeiten,« sagte er, »um mich oben zu halten und mich in diese plötzliche Trennung zu schicken. Der Tod ist doch etwas so Seltsames, daß man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns teuren Gegenstande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes eintritt. Er ist gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser Übergang aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewaltsames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht.«

 


 

Freitag, den 5. März 1830*

Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethes, Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar. Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über ihre Abreise aus. »Sie ist so jung«, sagte ich, »und zeigt eine so erhabene Gesinnung und einen so reifen Geist, wie man ihn bei solchem Alter selten findet. Ihr Erscheinen hat überhaupt in Weimar großen Eindruck gemacht. Wäre sie länger geblieben, sie hätte für manchen gefährlich werden können.«

»Wie sehr tut es mir leid,« erwiderte Goethe, »daß ich sie nicht öfter gesehen und daß ich anfänglich immer verschoben habe sie einzuladen, um mich ungestört mit ihr zu unterhalten und die geliebten Züge ihrer Verwandten in ihr wieder aufzusuchen.

Der vierte Band von ›Wahrheit und Dichtung‹,« fuhr er fort, »wo Sie die jugendliche Glücks- und Leidensgeschichte meiner Liebe zu Lili erzählt finden werden, ist seit einiger Zeit vollendet. Ich hätte ihn längst früher geschrieben und herausgegeben, wenn mich nicht gewisse zarte Rücksichten gehindert hätten, und zwar nicht Rücksichten gegen mich selber, sondern gegen die damals noch lebende Geliebte. Ich wäre stolz gewesen, es der ganzen Welt zu sagen, wie sehr ich sie geliebt; und ich glaube, sie wäre nicht errötet zu gestehen, daß meine Neigung erwidert wurde. Aber hatte ich das Recht, es öffentlich zu sagen ohne ihre Zustimmung? Ich hatte immer die Absicht, sie darum zu bitten; doch zögerte ich damit hin, bis es denn endlich nicht mehr nötig war.

Indem Sie«, fuhr Goethe fort, »mit solchem Anteil über das liebenswürdige junge Mädchen reden, das uns jetzt verläßt, erwecken Sie in mir alle meine alten Erinnerungen. Ich sehe die reizende Lili wieder in aller Lebendigkeit vor mir, und es ist mir, als fühlte ich wieder den Hauch ihrer beglückenden Nähe. Sie war in der Tat die erste, die ich tief und wahrhaft liebte. Auch kann ich sagen, daß sie die letzte gewesen; denn alle kleinen Neigungen, die mich in der Folge meines Lebens berührten, waren, mit jener verglichen, nur leicht und oberflächlich.

Ich bin«, fuhr Goethe fort, »meinem eigentlichen Glücke nie so nahe gewesen, als in der Zeit jener Liebe zu Lili. Die Hindernisse, die uns auseinander hielten, waren im Grunde nicht unübersteiglich, – und doch ging sie mir verloren.

Meine Neigung zu ihr hatte etwas so Delikates und etwas so Eigentümliches, daß es jetzt in Darstellung jener schmerzlich-glücklichen Epoche auf meinen Stil Einfluß gehabt hat. Wenn Sie künftig den vierten Band von ›Wahrheit und Dichtung‹ lesen, so werden Sie finden, daß jene Liebe etwas ganz anderes ist, als eine Liebe in Romanen.«

»Dasselbige«, erwiderte ich, »könnte man auch von Ihrer Liebe zu Gretchen und Friederike sagen. Die Darstellung von beiden ist gleichfalls so neu und originell, wie die Romanschreiber dergleichen nicht erfinden und ausdenken. Es scheint dieses von der großen Wahrhaftigkeit des Erzählers herzurühren, der das Erlebte nicht zu bemänteln gesucht, um es zu größerem Vorteil erscheinen zu lassen, und der jede empfindsam Phrase vermieden, wo schon die einfache Darlegung der Ereignisse genügte.

Auch ist die Liebe selbst«, fügte ich hinzu, »sich niemals gleich; sie ist stets original und modifiziert sich stets nach dem Charakter und der Persönlichkeit derjenigen, die wir lieben.«

»Sie haben vollkommen recht,« erwiderte Goethe; »denn nicht bloß wir sind die Liebe, sondern es ist auch das uns anreizende liebe Objekt. Und dann, was nicht zu vergessen, kommt als ein mächtiges Drittes noch das Dämonische hinzu, das jede Leidenschaft zu begleiten pflegt und das in der Liebe sein eigentliches Element findet. In meinem Verhältnis zu Lili war es besonders wirksam; es gab meinem ganzen Leben eine andere Richtung, und ich sage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß meine Herkunft nach Weimar und mein jetziges Hiersein davon eine unmittelbare Folge war.«

 


 

Sonnabend, den 6. [Freitag, den 5.] März 1830*

Goethe liest seit einiger Zeit die ›Memoiren‹ von Saint-Simon.

»Mit dem Tode von Ludwig dem Vierzehnten«, sagte er mir vor einigen Tagen, »habe ich jetzt Halt gemacht. Bis dahin hat mich das Dutzend Bände im hohen Grade interessiert, und zwar durch den Kontrast der Willensrichtungen des Herrn und der aristokratischen Tugend des Dieners. Aber von dem Augenblick an, wo jener Monarch abgeht und eine andere Personnage auftritt, die zu schlecht ist, als daß Saint-Simon sich zu seinem Vorteil neben ihr ausnehmen könnte, machte die Lektüre mir keine Freude mehr; der Widerwille trat ein, und ich verließ das Buch da, wo mich der ›Tyrann‹ verließ.«

Auch den ›Globe‹ und ›Temps‹, den Goethe seit mehreren Monaten mit dem größten Eifer las, hat er seit etwa vierzehn Tagen zu lesen aufgehört. So wie die Nummern bei ihm unter Kreuzband ankommen, legt er sie uneröffnet beiseite. Indes bittet er seine Freunde, ihm zu erzählen, was in der Welt vorgeht. Er ist seit einiger Zeit sehr produktiv und ganz vertieft im zweiten Teile seines ›Faust‹. Besonders ist es die ›Klassische Walpurgisnacht‹, die ihn seit einigen Wochen ganz hinnimmt und die dadurch auch rasch und bedeutend heranwächst. In solchen durchaus produktiven Epochen liebt Goethe die Lektüre überhaupt nicht, es wäre denn, daß sie als etwas Leichtes und Heiteres ihm als ein wohltätiges Ausruhen diente, oder auch, daß sie mit dem Gegenstande, den er eben unter Händen hat, in Harmonie stände und dazu behilflich wäre. Er meidet sie dagegen ganz entschieden, wenn sie so bedeutend und aufregend wirkte, daß sie seine ruhige Produktion stören und sein tätiges Interesse zersplittern und ablenken könnte. Das letztere scheint jetzt mit dem ›Globe‹ und ›Temps‹ der Fall zu sein. »Ich sehe,« sagte er, »es bereiten sich in Paris bedeutende Dinge vor; wir sind am Vorabend einer großen Explosion. Da ich aber darauf keinen Einfluß habe, so will ich es ruhig abwarten, ohne mich von dem spannenden Gang des Dramas unnützerweise täglich aufregen zu lassen. Ich lese jetzt so wenig den ›Globe‹ als den ›Temps‹, und meine ›Walpurgisnacht‹ rückt dabei gar nicht schlecht vorwärts.«

Er sprach darauf über den Zustand der neuesten französischen Literatur, die ihn sehr interessiert. »Was die Franzosen«, sagte er, »bei ihrer jetzigen literarischen Richtung für etwas Neues halten, ist im Grunde weiter nichts als der Widerschein desjenigen, was die deutsche Literatur seit funfzig Jahren gewollt und geworden. Der Keim der historischen Stücke, die bei ihnen jetzt etwas Neues sind, findet sich schon seit einem halben Jahrhundert in meinem ›Götz‹. Übrigens«, fügte er hinzu, »haben die deutschen Schriftsteller niemals daran gedacht und nie in der Absicht geschrieben, auf die Franzosen einen Einfluß ausüben zu wollen. Ich selbst habe immer nur mein Deutschland vor Augen gehabt, und es ist erst seit gestern oder ehegestern, daß es mir einfällt, meine Blicke westwärts zu wenden, um auch zu sehen, wie unsere Nachbarn jenseits des Rheines von mir denken. Aber auch jetzt haben sie auf meine Produktionen keinen Einfluß. Selbst Wieland, der die französischen Formen und Darstellungsweisen nachgeahmt, ist im Grunde durchaus immer deutsch geblieben und würde sich in einer Übertragung schlecht ausnehmen.«

 


 

Sonntag, den 14. [Mittwoch, den 10.] März 1830

Abends bei Goethe. Er zeigte mir alle jetzt geordneten Schätze der Kiste von David, mit deren Auspackung ich ihn vor einigen Tagen beschäftigt fand. Die Gipsmedaillons mit den Profilen der vorzüglichsten jungen Dichter Frankreichs hatte er in großer Ordnung auf Tischen nebeneinander gelegt. Er sprach dabei abermals über das außerordentliche Talent Davids, das ebenso groß sei in der Auffassung als in der Ausführung. Auch zeigte er mir eine Menge der neuesten Werke, die ihm durch die Vermittelung Davids von den ausgezeichnetsten Talenten der romantischen Schule als Autorgeschenke verehrt worden. Ich sah Werke von Sainte-Beuve, Ballanche, Victor Hugo, Balzac, Alfred de Vigny, Jules Janin und anderen. »David«, sagte er, »hat mir durch diese Sendung schöne Tage bereitet. Die jungen Dichter beschäftigen mich nun schon die ganze Woche und gewähren mir durch die frischen Eindrücke, die ich von ihnen empfange, ein neues Leben. Ich werde über die mir sehr lieben Porträts und Bücher einen eigenen Katalog machen und beiden in meiner Kunstsammlung und Bibliothek einen besonderen Platz geben.« Man sah es Goethen an, daß diese Huldigung der jungen Dichter Frankreichs ihn innerlichst beglückte.

Er las darauf einiges in den ›Studien‹ von Emile Deschamps. Die Übersetzung der ›Braut von Korinth‹ lobte er als treu und sehr gelungen. »Ich besitze«, sagte er, »das Manuskript einer italienischen Übersetzung dieses Gedichts, welches das Original bis zum Rhythmus wiedergibt.«

Die ›Braut von Korinth‹ gab Goethen Anlaß, auch von seinen übrigen Balladen zu reden. »Ich verdanke sie größtenteils Schillern,« sagte er, »der mich dazu trieb, weil er immer etwas Neues für seine ›Horen‹ brauchte. Ich hatte sie alle schon seit vielen Jahren im Kopf, sie beschäftigten meinen Geist als anmutige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen, und womit die Phantasie mich spielend beglückte. Ich entschloß mich ungern dazu, diesen mir seit so lange befreundeten glänzenden Erscheinungen ein Lebewohl zu sagen, indem ich ihnen durch das ungenügende dürftige Wort einen Körper verlieh. Als sie auf dem Papiere standen, betrachtete ich sie mit einem Gemisch von Wehmut; es war mir, als sollte ich mich auf immer von einem geliebten Freunde trennen.

Zu anderen Zeiten«, fuhr Goethe fort, »ging es mir mit meinen Gedichten gänzlich anders. Ich hatte davon vorher durchaus keine Eindrücke und keine Ahnung, sondern sie kamen plötzlich über mich und wollten augenblicklich gemacht sein, so daß ich sie auf der Stelle instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben mich getrieben fühlte. In solchem nachtwandlerischen Zustande geschah es oft, daß ich einen ganz schief liegenden Papierbogen vor mir hatte und daß ich dieses erst bemerkte, wenn alles geschrieben war, oder wenn ich zum Weiterschreiben keinen Platz fand. Ich habe mehrere solcher in der Diagonale geschriebene Blätter besessen; sie sind mir jedoch nach und nach abhanden gekommen, so daß es mir leid tut, keine Proben solcher poetischen Vertiefung mehr vorzeigen zu können.«

Das Gespräch lenkte sich sodann auf die französische Literatur zurück, und zwar auf die allerneueste ultraromantische Richtung einiger nicht unbedeutender Talente. Goethe war der Meinung, daß diese im Werden begriffene poetische Revolution der Literatur selber im hohen Grade günstig, den einzelnen Schriftstellern aber, die sie bewirken, nachteilig sei.

»Bei keiner Revolution«, sagte er, »sind die Extreme zu vermeiden. Bei der politischen will man anfänglich gewöhnlich nichts weiter als die Abstellung von allerlei Mißbräuchen, aber ehe man es sich versieht, steckt man tief in Blutvergießen und Greueln. So wollten auch die Franzosen bei ihrer jetzigen literarischen Umwälzung anfänglich nichts weiter als eine freiere Form, aber dabei bleiben sie jetzt nicht stehen, sondern sie verwerfen neben der Form auch den bisherigen Inhalt. Die Darstellung edler Gesinnungen und Taten fängt man an für langweilig zu erklären, und man versucht sich in Behandlung von allerlei Verruchtheiten. An die Stelle des schönen Inhalts griechischer Mythologie treten Teufel, Hexen und Vampire, und die erhabenen Helden der Vorzeit müssen Gaunern und Galeerensklaven Platz machen. Dergleichen ist pikant! Das wirkt! – Nachdem aber das Publikum diese stark gepfefferte Speise einmal gekostet und sich daran gewöhnt hat, wird es nur immer nach Mehrerem und Stärkerem begierig. Ein junges Talent, das wirken und anerkannt sein will, und nicht groß genug ist, auf eigenem Wege zu gehen, muß sich dem Geschmack des Tages bequemen, ja es muß seine Vorgänger im Schreck- und Schauerlichen noch zu überbieten suchen. In diesem Jagen nach äußeren Effektmitteln aber wird jedes tiefere Studium und jedes stufenweise gründliche Entwickeln des Talentes und Menschen von innen heraus ganz außer acht gelassen. Das ist aber der größte Schaden, der dem Talent begegnen kann, wiewohl die Literatur im allgemeinen bei dieser augenblicklichen Richtung gewinnen wird.«

»Wie kann aber«, versetzte ich, »ein Bestreben, das die einzelnen Talente zugrunde richtet, der Literatur im allgemeinen günstig sein?«

»Die Extreme und Auswüchse, die ich bezeichnet habe,« erwiderte Goethe, »werden nach und nach verschwinden, aber zuletzt wird der sehr große Vorteil bleiben, daß man neben einer freieren Form auch einen reicheren verschiedenartigeren Inhalt wird erreicht haben und man keinen Gegenstand der breitesten Welt und des mannigfaltigsten Lebens als unpoetisch mehr wird ausschließen. Ich vergleiche die jetzige literarische Epoche dem Zustande eines heftigen Fiebers, das zwar an sich nicht gut und wünschenswert ist, aber eine bessere Gesundheit als heitere Folge hat. Dasjenige wirklich Verruchte, was jetzt oft den ganzen Inhalt eines poetischen Werkes ausmacht, wird künftig nur als wohltätiges Ingrediens eintreten; ja man wird das augenblicklich verbannte durchaus Reine und Edle bald mit desto größerem Verlangen wieder hervorsuchen.«

»Es ist mir auffallend,« bemerkte ich, »daß auch Mérimée, der doch zu Ihren Lieblingen gehört, durch die abscheulichen Gegenstände seiner ›Guzla‹ gleichfalls jene ultraromantische Bahn betreten hat.«

»Mérimée«, erwiderte Goethe, »hat diese Dinge ganz anders traktiert als seine Mitgesellen. Es fehlt freilich diesen Gedichten nicht an allerlei schauerlichen Motiven von Kirchhöfen, nächtlichen Kreuzwegen, Gespenstern und Vampiren; allein alle diese Widerwärtigkeiten berühren nicht das Innere des Dichters, er behandelt sie vielmehr aus einer gewissen objektiven Ferne und gleichsam mit Ironie. Er geht dabei ganz zu Werke wie ein Künstler, dem es Spaß macht, auch einmal so etwas zu versuchen. Er hat sein eigenes Innere, wie gesagt, dabei gänzlich verleugnet, ja er hat dabei sogar den Franzosen verleugnet, und zwar so sehr, daß man diese Gedichte der ›Guzla‹ anfänglich für wirklich illyrische Volksgedichte gehalten und also nur wenig gefehlt hat, daß ihm die beabsichtigte Mystifikation gelungen wäre.

Mérimée«, fuhr Goethe fort, »ist freilich ein ganzer Kerl; wie denn überhaupt zum objektiven Behandeln eines Gegenstandes mehr Kraft und Genie gehört, als man denkt. So hat auch Byron trotz seiner stark vorwaltenden Persönlichkeit zuweilen die Kraft gehabt, sich gänzlich zu verleugnen, wie dieses an einigen seiner dramatischen Sachen und besonders an seinem ›Marino Faliero‹ zu sehen. Bei diesem Stück vergißt man ganz, daß Byron, ja daß ein Engländer es geschrieben. Wir leben darin ganz und gar zu Venedig und ganz und gar in der Zeit, in der die Handlung vorgeht. Die Personen reden ganz aus sich selber und aus ihrem eigenen Zustande heraus, ohne etwas von subjektiven Gefühlen, Gedanken und Meinungen des Dichters an sich zu haben. Das ist die rechte Art. – Von unsern jungen französischen Romantikern der übertriebenen Sorte ist das freilich nicht zu rühmen. Was ich auch von ihnen gelesen: Gedichte, Romane, dramatische Arbeiten, es trug alles die persönliche Farbe des Autors, und es machte mich nie vergessen, daß ein Pariser, daß ein Franzose es geschrieben; ja selbst bei behandelten ausländischen Stoffen blieb man doch immer in Frankreich und Paris, durchaus befangen in allen Wünschen, Bedürfnissen, Konflikten und Gärungen des augenblicklichen Tages.«

»Auch Béranger«, warf ich versuchend ein, »hat nur Zustände der großen Hauptstadt und nur sein eigenes Innere ausgesprochen.«

»Das ist auch ein Mensch danach,« erwiderte Goethe, »dessen Darstellung und dessen Inneres etwas wert ist. Bei ihm findet sich der Gehalt einer bedeutenden Persönlichkeit. Béranger ist eine durchaus glücklich begabte Natur, fest in sich selber begründet, rein aus sich selber entwickelt und durchaus mit sich selber in Harmonie. Er hat nie gefragt: was ist an der Zeit? was wirkt? was gefällt? und was machen die anderen? damit er es ihnen nachmache. Er hat immer nur aus dem Kern seiner eigenen Natur heraus gewirkt, ohne sich zu bekümmern, was das Publikum oder was diese oder jene Partei erwarte. Er hat freilich in verschiedenen bedenklichen Epochen nach den Stimmungen, Wünschen und Bedürfnissen des Volkes hingehorcht; allein das hat ihn nur in sich selber befestigt, indem es ihm sagte, daß sein eigenes Innere mit dem des Volkes in Harmonie stand, aber es hat ihn nie verleitet, etwas anderes auszusprechen, als was bereits in seinem eigenen Herzen lebte.

Sie wissen, ich bin im ganzen kein Freund von sogenannten politischen Gedichten; allein solche, wie Béranger sie gemacht hat, lasse ich mir gefallen. Es ist bei ihm nichts aus der Luft gegriffen, nichts von bloß imaginierten oder imaginären Interessen, er schießt nie ins Blaue hinein, vielmehr hat er stets die entschiedensten, und zwar immer bedeutende Gegenstände. Seine liebende Bewunderung Napoleons und das Zurückdenken an die großen Waffentaten, die unter ihm geschehen, und zwar zu einer Zeit, wo diese Erinnerung den etwas gedrückten Franzosen ein Trost war; dann sein Haß gegen die Herrschaft der Pfaffen und gegen die Verfinsterung, die mit den Jesuiten wieder einzubrechen droht: das sind denn doch Dinge, denen man wohl seine völlige Zustimmung nicht versagen kann. – Und wie meisterhaft ist bei ihm die jedesmalige Behandlung! Wie wälzt und rundet er den Gegenstand in seinem Innern, ehe er ihn ausspricht! Und dann, wenn alles reif ist, welcher Witz, Geist, Ironie und Persiflage, und welche Herzlichkeit, Naivität und Grazie werden nicht von ihm bei jedem Schritt entfaltet! Seine Lieder haben jahraus jahrein Millionen froher Menschen gemacht; sie sind durchaus mundrecht auch für die arbeitende Klasse, während sie sich über das Niveau des Gewöhnlichen so sehr erheben, daß das Volk im Umgange mit diesen anmutigen Geistern gewöhnt und genötiget wird, selbst edler und besser zu denken. Was wollen Sie mehr? Und was läßt sich überhaupt Besseres von einem Poeten rühmen?«

»Er ist vortrefflich, ohne Frage«, erwiderte ich. »Sie wissen selbst, wie sehr ich ihn seit Jahren liebe; auch können Sie denken, wie wohl es mir tut, Sie so über ihn reden zu hören. Soll ich aber sagen, welche von seinen Liedern ich vorziehe, so gefallen mir denn doch seine Liebesgedichte besser als seine politischen, bei denen mir ohnehin die speziellen Bezüge und Anspielungen nicht immer deutlich sind.«

»Das ist Ihre Sache,« erwiderte Goethe; »auch sind die politischen gar nicht für Sie geschrieben; fragen Sie aber die Franzosen, und sie werden Ihnen sagen, was daran Gutes ist. Ein politisches Gedicht ist überhaupt im glücklichsten Falle immer nur als Organ einer einzelnen Nation, und in den meisten Fällen nur als Organ einer gewissen Partei zu betrachten; aber von dieser Nation und dieser Partei wird es auch, wenn es gut ist, mit Enthusiasmus ergriffen werden. Auch ist ein politisches Gedicht immer nur als Produkt eines gewissen Zeitzustandes anzusehen, der aber freilich vorübergeht und dem Gedicht für die Folge denjenigen Wert nimmt, den es vom Gegenstande hat. – Béranger hatte übrigens gut machen! Paris ist Frankreich, alle bedeutenden Interessen seines großen Vaterlandes konzentrieren sich in der Hauptstadt und haben dort ihr eigentliches Leben und ihren eigentlichen Widerhall. Auch ist er in den meisten seiner politischen Lieder keineswegs als bloßes Organ einer einzelnen Partei zu betrachten, vielmehr sind die Dinge, denen er entgegenwirkt, größtenteils von so allgemein nationalem Interesse, daß der Dichter fast immer als große Volksstimme vernommen wird. Bei uns in Deutschland ist dergleichen nicht möglich. Wir haben keine Stadt, ja wir haben nicht einmal ein Land, von dem wir entschieden sagen könnten: hier ist Deutschland. Fragen wir in Wien, so heißt es: hier ist Östreich! und fragen wir in Berlin, so heißt es: hier ist Preußen! – Bloß vor sechzehn Jahren, als wir endlich die Franzosen los sein wollten, war Deutschland überall; hier hätte ein politischer Dichter allgemein wirken können. Allein es bedurfte seiner nicht. Die allgemeine Not und das allgemeine Gefühl der Schmach hatte die Nation als etwas Dämonisches ergriffen; das begeisternde Feuer, das der Dichter hätte entzünden können, brannte bereits überall von selber. Doch will ich nicht leugnen, daß Arndt, Körner und Rückert einiges gewirkt haben.«

»Man hat Ihnen vorgeworfen,« bemerkte ich etwas unvorsichtig, »daß Sie in jener großen Zeit nicht auch die Waffen ergriffen oder wenigstens nicht als Dichter eingewirkt haben.«

»Lassen wir das, mein Guter!« erwiderte Goethe. »Es ist eine absurde Welt, die nicht weiß, was sie will, und die man muß reden und gewähren lassen. – Wie hätte ich die Waffen ergreifen können ohne Haß! Und wie hätte ich hassen können ohne Jugend! Hätte jenes Ereignis mich als einen Zwanzigjährigen getroffen, so wäre ich sicher nicht der letzte geblieben; allein es fand mich als einen, der bereits über die ersten Sechzig hinaus war.

Auch können wir dem Vaterlande nicht alle auf gleiche Weise dienen, sondern jeder tut sein Bestes, je nachdem Gott es ihm gegeben. Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. Ich kann sagen, ich habe in den Dingen, die die Natur mir zum Tagewerk bestimmt, mir Tag und Nacht keine Ruhe gelassen und mir keine Erholung gegönnt, sondern immer gestrebt und geforscht und getan, so gut und so viel ich konnte. Wenn jeder von sich dasselbe sagen kann, so wird es um alle gut stehen.«

»Im Grunde«, versetzte ich begütigend, »sollte Sie jener Vorwurf nicht verdrießen, vielmehr könnten Sie sich darauf etwas einbilden. Denn was will das anders sagen, als daß die Meinung der Welt von Ihnen so groß ist, daß sie verlangen, daß derjenige, der für die Kultur seiner Nation mehr getan als irgendein anderer, nun endlich alles hätte tun sollen.«

»Ich mag nicht sagen, wie ich denke«, erwiderte Goethe. »Es versteckt sich hinter jedem Gerede mehr böser Wille gegen mich, als Sie wissen. Ich fühle darin eine neue Form des alten Hasses, mit dem man mich seit Jahren verfolgt und mir im stillen beizukommen sucht. Ich weiß recht gut, ich bin vielen ein Dorn im Auge, sie wären mich alle sehr gerne los; und da man nun an meinem Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter. Bald soll ich stolz sein, bald egoistisch, bald voller Neid gegen junge Talente, bald in Sinnenlust versunken, bald ohne Christentum, und nun endlich gar ohne Liebe zu meinem Vaterlande und meinen lieben Deutschen. – Sie kennen mich nun seit Jahren hinlänglich und fühlen, was an all dem Gerede ist. Wollen Sie aber wissen, was ich gelitten habe, so lesen Sie meine ›Xenien‹, und es wird Ihnen aus meinen Gegenwirkungen klar werden, womit man mir abwechselnd das Leben zu verbittern gesucht hat.

Ein deutscher Schriftsteller, ein deutscher Märtyrer! – Ja, mein Guter, Sie werden es nicht anders finden. Und ich selbst kann mich noch kaum beklagen; es ist allen andern nicht besser gegangen, den meisten sogar schlechter, und in England und Frankreich ganz wie bei uns. Was hat nicht Molière zu leiden gehabt, und was nicht Rousseau und Voltaire! Byron ward durch die bösen Zungen aus England getrieben und würde zuletzt ans Ende der Welt geflohen sein, wenn ein früher Tod ihn nicht den Philistern und ihrem Haß enthoben hätte.

Und wenn noch die bornierte Masse höhere Menschen verfolgte! Nein, ein Begabter und ein Talent verfolgt das andere. Platen ärgert Heine, und Heine Platen, und jeder sucht den andern schlecht und verhaßt zu machen, da doch zu einem friedlichen Hinleben und Hinwirken die Welt groß und weit genug ist, und jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht.

Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen! – Das wäre meine Art gewesen! – Aus dem Biwak heraus, wo man nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört: da hätte ich es mir gefallen lassen! Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihm kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir sehr schlecht zu Gesicht gestanden hätte.

Ich habe in meiner Poesie nie affektiert. – Was ich nicht lebte und was mir nicht auf die Nägel brannte und zu schaffen machte, habe ich auch nicht gedichtet und ausgesprochen. Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte. Wie hätte ich nun Lieder des Hasses schreiben können ohne Haß! – Und, unter uns, ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte!

»Überhaupt«, fuhr Goethe fort, »ist es mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. – Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, und ich hatte mich daran lange befestigt, ehe ich mein sechzigstes Jahr erreicht hatte.«

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