Montag, den 3. November 1823

Ich ging gegen fünf zu Goethe. Als ich hinaufkam, hörte ich in dem größeren Zimmer sehr laut und munter reden und scherzen. Der Bediente sagte mir, die junge polnische Dame sei dort zu Tisch gewesen und die Gesellschaft noch beisammen. Ich wollte wieder gehen, allein er sagte, er habe den Befehl, mich zu melden; auch wäre es seinem Herrn vielleicht lieb, weil es schon spät sei. Ich ließ ihn daher gewähren und wartete ein Weilchen, wo denn Goethe sehr heiter herauskam und mit mir gegenüber in sein Zimmer ging. Mein Besuch schien ihm angenehm zu sein. Er ließ sogleich eine Flasche Wein bringen, wovon er mir einschenkte und auch sich selber gelegentlich.

»Ehe ich es vergesse,«sagte er dann, indem er auf dem Tisch etwas suchte, »hier haben Sie ein Billet ins Konzert. Madame Szymanowska wird morgen abend im Saale des Stadthauses ein öffentliches Konzert geben; das dürfen Sie ja nicht versäumen.« Ich sagte ihm, daß ich meine Torheit von neulich nicht zum zweiten Mal begehen würde. »Sie soll sehr gut gespielt haben«, fügte ich hinzu. »Ganz vortrefflich!« sagte Goethe. »Wohl so gut wie Hummel?« fragte ich. »Sie müssen bedenken,« sagte Goethe, »daß sie nicht allein eine große Virtuosin, sondern zugleich ein schönes Weib ist; da kommt es uns denn vor, als ob alles anmutiger wäre; sie hat eine meisterhafte Fertigkeit, man muß erstaunen!« – »Aber auch in der Kraft groß?« fragte ich. »Ja, auch in der Kraft,« sagte Goethe, »und das ist eben das Merkwürdigste an ihr, weil man das sonst bei Frauenzimmern gewöhnlich nicht findet.« Ich sagte, daß ich mich sehr freue, sie nun doch noch zu hören.

Sekretär Kräuter trat herein und referierte in Bibliotheksangelegenheiten. Als er gegangen war, lobte Goethe seine große Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit in Geschäften.

Ich brachte sodann das Gespräch auf die im Jahre 1797 über Frankfurt und Stuttgart gemachte Reise in die Schweiz, wovon er mir die Manuskripte in drei Heften dieser Tage mitgeteilt und die ich bereits fleißig studiert hatte. Ich erwähnte, wie er damals mit Meyer so viel über die Gegenstände der bildenden Kunst nachgedacht.

»Ja,« sagte Goethe, »was ist auch wichtiger als die Gegenstände, und was ist die ganze Kunstlehre ohne sie. Alles Talent ist verschwendet, wenn der Gegenstand nichts taugt. Und eben weil dem neuern Künstler die würdigen Gegenstände fehlen, so hapert es auch so mit aller Kunst der neueren Zeit. Darunter leiden wir alle; ich habe auch meine Modernität nicht verleugnen können.

Die wenigsten Künstler«, fuhr er fort, »sind über diesen Punkt im klaren und wissen, was zu ihrem Frieden dient. Da malen sie z. B. meinen ›Fischer‹ und bedenken nicht, daß sich das gar nicht malen lasse. Es ist ja in dieser Ballade bloß das Gefühl des Wassers ausgedrückt, das Anmutige, was uns im Sommer lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie läßt sich das malen!«

Ich erwähnte ferner, daß ich mich freue, wie er auf jener Reise an allem Interesse genommen und alles aufgefaßt habe: Gestalt und Lage der Gebirge und ihre Steinarten; Boden, Flüsse, Wolken, Luft, Wind und Wetter; dann Städte und ihre Entstehung und sukzessive Bildung; Baukunst, Malerei, Theater; städtische Einrichtung und Verwaltung; Gewerbe, Ökonomie, Straßenbau; Menschenrasse, Lebensart, Eigenheiten; dann wieder Politik und Kriegsangelegenheiten, und so noch hundert andere Dinge.

Goethe antwortete: »Aber Sie finden kein Wort über Musik, und zwar deswegen nicht, weil das nicht in meinem Kreise lag. Jeder muß wissen, worauf er bei einer Reise zu sehen hat und was seine Sache ist.«

Der Herr Kanzler trat herein. Er sprach einiges mit Goethe und äußerte sich dann gegen mich sehr wohlwollend und mit vieler Einsicht über meine kleine Schrift, die er in diesen Tagen gelesen. Er ging dann bald wieder zu den Damen hinüber, wo, wie ich hörte, der Flügel gespielt wurde.

Als er gegangen war, sprach Goethe sehr gut über ihn und sagte dann: »Alle diese vortrefflichen Menschen, zu denen Sie nun ein angenehmes Verhältnis haben, das ist es, was ich eine Heimat nenne, zu der man immer gerne wieder zurückkehrt.«

Ich erwiderte ihm, daß ich bereits den wohltätigen Einfluß meines hiesigen Aufenthaltes zu spüren beginne, daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretischen Richtungen nach und nach herauskomme und immer mehr den Wert des augenblicklichen Zustandes zu schätzen wisse.

»Das müßte schlimm sein,« sagte Goethe, »wenn Sie das nicht sollten. Beharren Sie nur dabei und halten Sie immer an der Gegenwart fest. Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.«

Es trat eine kleine Pause ein; dann brachte ich das Gespräch auf Tiefurt, und in welcher Art es etwa darzustellen. »Es ist ein mannigfaltiger Gegenstand,« sagte ich, »und schwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben. Am bequemsten wäre es mir, ihn in Prosa zu behandeln.«

»Dazu,« sagte Goethe, »ist der Gegenstand nicht bedeutend genug. Die sogenannte didaktisch-beschreibende Form würde zwar im ganzen die zu wählende sein, allein auch sie ist nicht durchgreifend passend. Am besten ist es, Sie stellen den Gegenstand in zehn bis zwölf kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in mannigfaltigen Versarten und Formen, so wie es die verschiedenen Seiten und Ansichten verlangen, wodurch denn das Ganze wird umschrieben und beleuchtet sein.« Diesen Rat ergriff ich als zweckmäßig. »Ja, was hindert Sie, dabei auch einmal dramatisch zu verfahren und ein Gespräch etwa mit dem Gärtner führen zu lassen? Und durch diese Zerstückelung macht man es sich leicht und kann besser das Charakteristische der verschiedenen Seiten des Gegenstandes ausdrücken. Ein umfassendes größeres Ganze dagegen ist immer schwierig, und man bringt selten etwas Vollendetes zustande.«

 


 

Montag, den 10. November 1823

Goethe befindet sich seit einigen Tagen nicht zum besten; eine heftige Erkältung scheint in ihm zu stecken. Er hustet viel, obgleich laut und kräftig; doch scheint der Husten schmerzlich zu sein, denn er faßt dabei gewöhnlich mit der Hand nach der Seite des Herzens.

Ich war diesen Abend vor dem Theater ein halbes Stündchen bei ihm. Er saß in einem Lehnstuhl, mit dem Rücken in ein Kissen gesenkt; das Reden schien ihm schwer zu werden.

Nachdem wir einiges gesprochen, wünschte er, daß ich ein Gedicht lesen möchte, womit er ein neues jetzt im Werke begriffenes Heft von ›Kunst und Altertum‹ eröffnet. Er blieb in seinem Stuhle sitzen und bezeichnete mir den Ort, wo es lag. Ich nahm ein Licht und setzte mich ein wenig entfernt von ihm an seinen Schreibtisch, um es zu lesen.

Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, so daß ich mich nach einmaligem Lesen, ohne es jedoch ganz zu verstehen, davon eigenartig berührt und ergriffen fühlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenstande und war als Trilogie behandelt. Der darin herrschende Ton war mir wie aus einer fremden Welt herüber, und die Darstellung der Art, daß mir die Belebung des Gegenstandes sehr schwer ward. Auch war Goethes persönliche Nähe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hörte ich ihn husten, bald hörte ich ihn seufzen, und so war mein Wesen geteilt: meine eine Hälfte las, und die andere war im Gefühl seiner Gegenwart. Ich mußte das Gedicht daher lesen und wieder lesen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von desto bedeutenderem Charakter und auf einer desto höheren Stufe der Kunst wollte es mir erscheinen.

Ich sprach darauf mit Goethe sowohl über den Gegenstand als die Behandlung, wo mir denn durch einige seiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.

»Freilich,« sagte er darauf, »die Behandlung ist sehr knapp, und man muß gut eindringen, wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldrähten geschmiedete Damaszenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre mit mir herumgetragen, so daß er denn freilich Zeit hatte, sich von allem Ungehörigen zu läutern.«

»Es wird Wirkung tun,«sagte ich, »wenn es beim Publikum hervortritt.«

»Ach, das Publikum!« seufzete Goethe.

»Sollte es nicht gut sein,« sagte ich, »wenn man dem Verständnis zu Hülfe käme und es machte wie bei der Erklärung eines Gemäldes, wo man durch Vorführung der vorhergegangenen Momente das wirklich Gegenwärtige zu beleben sucht?«

»Ich bin nicht der Meinung«, sagte Goethe. »Mit Gemälden ist es ein anderes; weil aber ein Gedicht gleichfalls aus Worten besteht, so hebt ein Wort das andere auf.«

Goethe scheint mir hierdurch sehr treffend die Klippe angedeutet zu haben, woran Ausleger von Gedichten gewöhnlich scheitern. Es frägt sich aber, ob es nicht möglich sei, eine solche Klippe zu vermeiden und einem Gedichte dennoch durch Worte zu Hülfe zu kommen, ohne das Zarte seines innern Lebens im mindesten zu verletzen.

Als ich ging, wünschte er, daß ich die Bogen von ›Kunst und Altertum‹ mit nach Hause nehme, um das Gedicht ferner zu betrachten; desgleichen die ›Östlichen Rosen‹ von Rückert, von welchem Dichter er viel zu halten und die besten Erwartungen zu hegen scheint.

 


 

Mittwoch, den 12. November 1823.

Ich ging gegen Abend, um Goethe zu besuchen, hörte aber unten im Hause, der preußische Staatsminister von Humboldt sei bei ihm, welches mir lieb war, in der Überzeugung, daß dieser Besuch eines alten Freundes ihm die wohltätigste Aufheiterung gewähren würde.

Ich ging darauf ins Theater, wo die ›Schwestern von Prag‹ bei ganz vollkommener Besetzung musterhaft gegeben wurden, so daß man das ganze Stück hindurch nicht aus dem Lachen kam.

 


 

Donnerstag, den 13. November 1823

Vor einigen Tagen, als ich nachmittags bei schönem Wetter die Straße nach Erfurt hinausging, gesellte sich ein bejahrter Mann zu mir, den ich seinem Äußeren nach für einen wohlhabenden Bürger hielt. Wir hatten nicht lange geredet, als das Gespräch auf Goethe kam. Ich fragte ihn, ob er Goethe persönlich kenne. »Ob ich ihn kenne!« antwortete er mit einigem Behagen, »ich bin gegen zwanzig Jahre sein Kammerdiener gewesen.« Und nun ergoß er sich in Lobsprüchen über seinen früheren Herrn. Ich ersuchte ihn, mir etwas aus Goethes Jugendzeit zu erzählen, worein er mit Freuden willigte.

»Als ich bei ihn kam,« sagte er, »mochte er etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; er war sehr mager, behende und zierlich, ich hätte ihn leicht tragen können.«

Ich fragte ihn, ob Goethe in jener ersten Zeit seines Hierseins auch sehr lustig gewesen. Allerdings, antwortete er, sei er mit den Fröhlichen fröhlich gewesen, jedoch nie über die Grenze; in solchen Fällen sei er gewöhnlich ernst geworden. Immer gearbeitet und geforscht und seinen Sinn auf Kunst und Wissenschaft gerichtet, das sei im allgemeinen seines Herrn fortwährende Richtung gewesen. Abends habe ihn der Herzog häufig besucht, und da hätten sie oft bis tief in die Nacht hinein über gelehrte Gegenstände gesprochen, so daß ihm oft Zeit und Weile lang geworden, und er oft gedacht habe, ob denn der Herzog noch nicht gehen wolle. »Und die Naturforschung«, fügte er hinzu, »war schon damals seine Sache.

Einst klingelte er mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete, hat er sein eisernes Rollbette vom untersten Ende der Kammer herauf bis ans Fenster gerollt und liegt und beobachtet den Himmel. ›Hast du nichts am Himmel gesehen?‹ fragte er mich, und als ich dies verneinte: ›So laufe einmal nach der Wache und frage den Posten, ob der nichts gesehen.‹ Ich lief hin, der Posten hatte aber nichts gesehen, welches ich meinem Herrn meldete, der noch ebenso lag und den Himmel unverwandt beobachtete. ›Höre,‹ sagte er dann zu mir, ›wir sind in einem bedeutenden Moment; entweder wir haben in diesem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins.‹ Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bette setzen, und er demonstrierte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.«

Ich fragte den guten Alten, was es für Wetter gewesen.

»Es war sehr wolkig,« sagte er, »und dabei regte sich kein Lüftchen, es war sehr still und schwül.«

Ich fragte ihn, ob er denn Goethen jenen Ausspruch sogleich aufs Wort geglaubt habe.

»Ja,« sagte er, »ich glaubte ihm aufs Wort; denn was er vorhersagte, war immer richtig. Am nächsten Tage«, fuhr er fort, »erzählte mein Herr seine Beobachtungen bei Hofe, wobei eine Dame ihrer Nachbarin ins Ohr flüsterte: ›Höre! Goethe schwärmt!‹ Der Herzog aber und die übrigen Männer glaubten an Goethe, und es wies sich auch bald aus, daß er recht gesehen; denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in derselbigen Nacht ein Teil von Messina durch ein Erdbeben zerstört worden.«

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