Achtes Kapitel: Entwicklung

Unter den Wertunterschieden der Individuen, die sich in der Form ihrer Existenz ausdrücken, scheint mir einer obenan zu stehen: ob der Mensch dies oder jenes leisten soll, eine Summe einzelner Forderungen mit seinem Tun und Sein zu erfüllen bestimmt oder willens ist; oder ob er als ganzer, mit der Totalität seiner Existenz, etwas tun oder etwas sein soll.

Dieses Etwas braucht kein angebbares Ziel oder Werk zu sein; sondern nur dies, dass die Lebenseinheit, über all diesem Einzelnen stehend und es tragend — wie sich ein lebendiger Körper als Einheit zu seinen einzelnen Gliedern verhält — etwas für sich Bedeutsames sei, einem ihr als ganzer gesetzten Ideale untertan, in einer einheitlichen Strömung fliessend, die alle singulären Eigenschaften und Taten in sich einzieht und sie übergreift, aus deren Summe nicht zusammensetzbar.

Die als moralisch angesprochene Wertung pflegt sich hierauf nicht zu richten.

Für sie vielmehr rinnt der Wert eines Individuums aus den Werten seiner einzelnen Charakterzüge und einzelnen Entschlüsse zusammen, während bei jenen Menschen umgekehrt die vielleicht unbenennbare Intention und Bedeutung, das Sollen ihrer Lebenseinheit, den Sinn und die Rolle jeder Lebenseinzelheit bestimmt.

Wenn für Goethes Existenzbild irgendeine Charakteristik unzweideutig ist, so ist es seine Zugehörigkeit zu dieser Seite der Alternative.

Als Ganzes hatte sein Leben ein So-Sein- und Sich-so-Verhalten-Sollen über sich, dem auch seine objektivste Leistung ebenso diente, wie sie aus ihm kam.

Und dies umso vollkommener, als kein bestimmter Inhalt, den sein Leben überhaupt realisieren sollte, hingestellt werden kann.

Denn wo dies der Fall ist, wie bei den spezifisch religiösen, wissenschaftlichen, künstlerischen Menschen, lässt selbst die völligste Konzentration auf dies Eine dennoch eine Anzahl von Energien unergriffen; unser Wesen ist zu differenziert, um wirklich all seine Seiten, auch die peripherischen, in den Dienst eines einzigen Sollens stellen zu können.

Nur wo dieses Wesen schlechthin soll, wo sozusagen »die Aufgabe überhaupt« über ihm steht, wo die Pflicht etwas Funktionelles ist, wie das Leben, dem sie gewöhnlich als das Feste, Substanziell-Unbewegte entgegengestellt wird — nur da kann es sich mit unendlicher Flexibilität in die Aufgaben jedes Tages ergiessen, nur da ist kein Teil seiner Ganzheit im genauen Sinne dem Sollen seines Wesens entzogen.

Darum ist es keine Widerlegung, sondern ein Beweis für jene Struktur der Goetheschen Existenz, dass man für die ideale Forderung, die man deutlich über ihr stehen fühlt, keinen bestimmten Inhalt angeben kann; seine heftige Abneigung gegen alle »Profession« hat zutiefst vielleicht dies zur Ursache.

Wenn irgend ein Leben, so hat das seine als Ganzes etwas gesollt; nicht Dramen dichten oder Naturwissenschaften treiben oder praktisch wirken — dies alles ist das jeweilige Sollen einzelner Begabungen seiner Natur.

Sondern dies Leben war von seiner Wurzel so einheitlich und entschieden zusammengefasst, dass man seine Ungetrenntheit wie durch ein, freilich unbenennbares Sollen, ein Ideal seiner Ganzheit, normiert empfindet, das sich in jene einzelnen Forderungen nur ebenso auseinanderlegt, wie die Wirklichkeit seines Lebens in einzelne wirkliche Leistungen.

Die Arten, auf die sich diese Forderung an die Lebenstotalität in den Intentionen seiner Lebensepochen verwirklicht, gibt diesen ihren unterscheidenden Charakter.

In unmittelbarer, wenn auch ihm selbst nicht formulierbar bewusster Form ist seine Jugend, zuhöchst bis zur Rückkehr aus Italien, diesem Ideal untertan.

So treu und hingegeben sein Schaffen, Handeln, Forschen auch von vornherein war, man fühlt deutlich, dass die Vollendung seiner Existenz das letzte treibende Motiv in alledem ist; er ist hier der subjektive Lyriker, dem diese Lebensform nicht nur Wirklichkeit, sondern ihr zentrales Ideal und dadurch freilich auch etwas Objektives ist.

Auf der Höhe dieser Epoche sagt er im Jahre 1780: »Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und lässt kein augenblickliches Vergessen zu.

Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in Jahren vor und vielleicht bricht mich das Schicksal in der Mitte und der babylonische Turm bleibt unvollendet.

Wenigstens soll man sagen: er war kühn entworfen, und wenn ich lebe, sollen will's Gott die Kräfte bis hinauf reichen.« In demselben Jahre schreibt er (und oft in dem gleichen Sinne) an die Stein: »Sie sehen, ich erzähle immer vom Ich.

Von andern weiss ich nichts, denn mir inwendig ist zu tun genug, von Dingen, die einzeln vorkommen, kann ich nichts sagen.« Und sicherlich ist es die gleiche Basis, von der aus er als fünfundzwanzigjähriger Mensch sagt, da doch ein unerhörter Reichtum von Liebe und Freundschaft, von sachlichen Interessen und Hoffnung auf sachliche Leistungen um ihn war: »Die beste Freude ist das Wohnen in sich selbst.« Dies war die Zeit, in der die Kraft des Lebens als solchen, die reissende Strömung seines Prozesses selbst alle angebbaren Inhalte, so wertvoll und bedeutsam sie in einer Oberschicht für ihn sein mochten, in sich einschlang.

Freilich ist das nur die typische Stimmung und Gerichtetheit der Jugend überhaupt.

Denn wenn es, an den grossen Lebenskategorien gemessen, überhaupt eine polare Entgegengesetztheit zwischen Jugend und Alter gibt, so ist es diese: dass in der Jugend der Prozess des Lebens das Übergewicht über dessen Inhalte hat, im Alter die Inhalte über den Prozess.

Die Jugend will vor allen Dingen ihr Dasein bewähren und fühlen, der Gegenstand ist — in der Hauptsache — nur wesentlich, insofern an ihm dies geschieht, und was man »die Treulosigkeit der Jugend« genannt hat, besagt nur, dass ihr die Lebensinhalte noch nicht recht eigenwertig sind und deshalb leicht gewechselt werden, sobald das dominierende Interesse es fordert: die Äusserung der drängenden Kräfte, die Intensität des Lebensprozesses, die Empfindung des subjektiven Daseins, das die Welt gleichmässig zu seinem Material macht, wenn es sie in sich einschlürft, wie wenn es sich ihr opfert.

Indem das Alter diese Strömung verlangsamt, die Lebensfunktion als solche herabsetzt, steigert sich ihm die übersubjektive Bedeutung des Sachgehaltes der Welt; wie die Dinge ohne Rücksicht auf das eigne Leben sind, bekommt ihm einen definitiveren Ton — eine Entwicklung, die auf ihrem Höhepunkt das eigne Subjekt in ihre Formel zieht; sei es, dass der Mensch nun im Erkennen wie im Handeln das eigne Dasein nach den Normen objektiver Inhalte lebt, dieses Leben selbst aber als subjektive Funktion ganz aus Bewusstsein und Intention ausschaltet; sei es in den Alterswerken des grossen Künstlers, in denen sozusagen der transzendente, durch die Schwebungen des empirischen Lebens hindurchgewachsene Kern der Persönlichkeit sich in ganz neuen, über die Polarität des Subjektiven und des Objektiven triumphierenden Formen ausspricht.

Dass Goethe selbst den Gegensatz so empfunden hat, gibt einer zunächst flach und wunderlich aussehenden Bemerkung der späteren Zeit erst ihre begründende Tiefe: »Der Irrtum ist recht gut, so lange wir jung sind; man muss ihn nur nicht mit ins Alter schleppen.« Der Irrtum ist für die Jugend »gut«, weil es für sie überhaupt nicht auf Erkenntnis in ihrem sachlichen Wert ankommt, sondern auf Werden, Wachsen, Sein; was diesen dient, ist gut, mag es als Inhalt, der in der Gegenhaltung gegen die Objekte sein Kriterium findet, richtig oder falsch sein.

Das Alter aber ist dem Objektiven zugewendet und der Irrtum geht deshalb gegen die spezifische Intention der Altersepoche, wie Goethe sie fasst: als das Auseinandergehen des Lebensprozesses in Erkennen und Handeln, — während die Jugend der Gewalt dieses Prozesses untertan ist und ihm das Wahre und das Irrige gleichmässig zum Material macht.

Und wie mit dem Wahren und Irrigen, so steht es mit dem Guten und Bösen.

In der Jugend erscheinen ihm die moralischen Satzungen oft nichtig gegenüber der überwältigenden Macht des Natürlichen.

Der Begriff des einheitlichen, dynamischen Lebens, der ihn beherrscht, ist einerseits unabhängig von Gut und Böse, andrerseits sind diese selbst ein Sein, sind dessen blosse qualitative Bestimmtheiten.

In seinem Alter wächst diesen Normen eine immer grössere Bedeutung zu, und wenn er sie auch in das natürliche Leben der geschichtlichen Menschheit einstellt und sie sich ineinander verwurzeln und verzweigen lässt, so werden sie doch als »Tugend und Laster« entschieden getrennt.

Dem Jüngling erscheinen gut und böse oft als Eines, weil es ihm nicht auf die Inhalte, sondern auf den Lebensprozess ankommt, der zu jener, von objektiven Normen herkommenden Einteilung gar kein prinzipielles Verhältnis hat: allenfalls sind »gut und böse« etwas, was wir sind, während die Altersbegriffe »Tugend und Laster« etwas sind, was wir haben, was sich von der Lebensgrundlage ideell in höherem Masse gelöst hat.

— Goethes Lebensarbeit ist nun — so verschieden in ihm verteilte Akzente uns die weitere Entwicklung zeigen wird — einerseits nie von dem Streben nach Objektivierung seines Subjekts, andrerseits nie von dem freien, in sich selbst zentrierten und auf die eigene Vollendung gehenden Sich-Darleben des Ichs verlassen.

Was ich eben als das Charakteristikum seiner Jugend ansprach: die Bestimmtheit durch das Ideal des persönlichen Seins, geht mit später aufzuweisenden Wendungen und Differenzierungen durch sein ganzes Leben und trennt dies sehr entschieden von andern Existenzen, die von vornherein auf Herausarbeitung und Bearbeitung von Inhalten des Lebens eingestellt sind.

Im eminenten Sinne war Kant eine solche.

»Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher«, lautet eine in seinem Nachlasse gefundene Notiz.

»Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte.

Es war eine Zeit, da ich glaubte, dieses alles könnte die Ehre der Menschheit machen und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiss.

Rousseau hat mich zu Recht gebracht.

Dieser verblendete Vorzug verschwindet: ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden, als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könnte, die Rechte der Menschheit herzustellen.« So echt und fundamental diese Leidenschaft des Erkennens ist, so ist damit der Wert des subjektiven Lebens von einem Kriterium abhängig, das gegen dieses Leben prinzipiell ganz gleichgültig ist: Kant will das Gefäss der Erkenntnis werden, die sich aus ihrer ideellen Existenz heraus in ihm realisiert.

Und die Wendung, zu der ihn Rousseau veranlasst, richtet seine Wertbetonungen von dem ab, was er »aus Neigung« ist, unterstellt sein Tun einer Ordnung, die völlig jenseits seiner selbst steht.

Es sind immer die objektiven Inhalte seines geistig-innerlichen Lebensprozesses, von denen diesem Form, Bewegung, Wert kommt — während bei Goethe der Lebensprozess das erste ist und von ihm, seinen Normen und Kräften aus, erst die Inhalte nach Art, Schicksal und Bedeutung bestimmt werden.

Die Einheit des Daseins, das sich in Prozess und Inhalt erschöpft, wurde so bei beiden von entgegengesetzten Seiten her gewonnen.

Weil aber, wie gesagt, in der Jugend der Prozess des Lebens das Übergewicht über seine Inhalte hat, im Alter die Inhalte über den Prozess, darum ist in Goethe etwas von ewiger Jugend, während Kant von vornherein etwas Altes hat.

Die besondere Unbedingtheit und Unmittelbarkeit, mit der Goethes Jugend diesen Zug zuspitzt, offenbart sich in der Vorherrschaft derjenigen seelischen Energie, die gleichsam die psychologische Vertretung oder Bewusstheit der so gerichteten Lebensrealität ist: des Gefühles.

Seine Jugend steht durchaus unter dem Zeichen: »Gefühl ist Alles.« Ich führe nur einige Stellen vom Anfang seiner zwanziger Jahre an.

Von einem Freunde schreibt Werther: »Auch schätzt er meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz ist, das ganz allein die Quelle von Allem ist, aller Kraft, aller Seligkeit und alles Elends.

Was ich weiss, kann jeder wissen — mein Herz habe ich allein.« Unmittelbar, ohne dichterische Verlegung, an einen Freund, der ihn religiös beeinflussen will: »Dass du mich immer mit Zeugnissen packen willst! Wozu die? Brauch' ich Zeugnis, dass ich bin? Zeugnis, dass ich fühle? Nur so schätz', lieb', bete ich Zeugnisse an, die mir darlegen, wie Tausende oder einer vor mir eben das gefühlt hat, das mich kräftiget und stärket.« Über den Götz bald nach seinem Erscheinen: »Es ist alles nur gedacht, das ärgert mich genug.

— — Wenn Schönheit und Grösse sich mehr in dein (d. h. mein) Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes tun, reden und schreiben, ohne dass du weisst warum.« Kestner urteilt über ihn als Dreiundzwanzigjährigen: »Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr von dem Gefühl derselben, als von ihrer Demonstration.« Alles, was die ursprüngliche, im Gefühl sich ausdrückende Seinseinheit auseinanderzieht und in Stücke zerlegt, ist ihm jetzt verhasst, so dass er sich über eine ihm zugemutete Kritik so äussert: Was er sagen könne, müsse der Autor in sein Gefühl übertragen, und aus dem so geschaffenen Gefühl erst heraus könne er etwas ändern.

»Ich hasse alle Spezialkritik von Stellen und Worten.

Ich kann leiden, wenn meine Freunde eine Arbeit von mir zu Feuer verdammen, umgegossen oder verbrannt zu werden; aber sie sollen mir keine Worte rücken, keine Buchstaben versetzen.« Seine Produktion selbst leitet er, mit 24 Jahren, ganz unmittelbar und gleichsam unter Ausschluss objektivischer Motive, aus dem Leben und dem Fühlen ab: »Meine Ideale wachsen täglich aus an Schönheit und Grösse und wenn mich meine Lebhaftigkeit nicht verlässt und meine Liebe, so soll's noch viel geben.« Und mit fast 70 Jahren beurteilt er den Gegensatz, der sich als der Träger der weiteren Entwicklung zeigen wird, in entscheidender Weise: »Meine ersten ins Publikum gebrachten Produktionen sind im eigentlichsten Sinne gewaltsame Ausbrüche eines gemütlichen (d. h. gefühlsmässigen) Talents, das sich aber weder zu raten noch zu helfen weiss.« Er setzt also — worauf wir alles ankommen sehen werden — das Gemüt in den Gegensatz zum Theoretischen, mit dem man sich zu »raten« weiss, und zum Praktischen, mit dem man sich zu »helfen« weiss.

Diese Eingestelltheit seines jugendlichen Lebens auf die Herrschaft des Gefühls erweist sich nicht minder an der tragischen Konsequenz, die sie im Werther gewinnt.

Das wunderbar Schöne und Charakteristische dieser Jugend, die Existenz aus der unbegrenzten Fülle des Gefühles heraus, zeigt sich hier, eine echte Tragik, in seinem Selbstwiderspruch und seiner Vernichtungsnotwendigkeit, die ihm gerade im Augenblick seines Absolutwerdens kommt.

Gewiss ist Werthers Gefühl eine äusserste Steigerung des Lebens; aber indem es in sich selbst verbleibt, nur von sich selbst zehrt, muss es sich zerstören — wie später Aurelie und Mignon aus derselben Ursache zugrunde gehn, aus dem ausschliesslichen Leben im Gefühl, das, trotz seiner immanenten Unendlichkeit, doch das Leben sich in eine Sackgasse verrennen, »alle andern Kräfte in mir ungenützt vermodern« lässt.

»Ich bin so glücklich«, schreibt Werther, »so ganz in dem Gefühl vom ruhigen Dasein versunken, dass meine Kunst darunter leidet.

— Aber ich gehe darüber zugrunde, ich unterliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« Vielleicht hängt dies auch so zusammen, dass das Gefühl, so weitgehend seine Vollmacht zur psychologischen Vertretung der Gesamtexistenz ist, eben doch nur deren Reflex in der Subjektivität ist.

Die Idealbildung der Goetheschen Jugend ging auf die Vollendung des Seins als solchen, in allem, was er dachte und tat, war es das unmittelbare, alles tragende und treibende Leben der Persönlichkeit, auf dessen Intensität und innere Ausbildung es ihm ankam.

Indem damit aber unvermeidlich das Gefühl zur Dominante des Lebens wird, entsteht die Gefahr, dass dieses, das doch nur die subjektive Spiegelung und Symbolisierung unsres realen Seins ist, sich von diesem ablöst und sich als Substanz des Lebens auftut.

Dieser Gefahr unterliegt Werther und zehrt damit die tatsächliche Existenz selbst auf.

Goethe aber rettete sich von dieser Konsequenz, indem er den Werther schuf, d. h. indem Objektivierung und Produktivität an die Stelle des blossen, in sich schwingenden Gefühlszustandes trat, die grosse Akzentverlegung seines Lebens, die wir gleich kennen lernen werden, andeutend.

Ich sagte, dass diese, das persönlich-lebendige Sein und das Gefühl zur Grundlage wie zum Ideal nehmende Existenz nur den Typus der Jugendlichkeit überhaupt besonders rein herausarbeitete.

Allein dass dies der Fall ist, geht doch wohl auf die phylogenetische Stellung des Gefühls zurück.

Je undifferenzierter sich unsere Existenz als Gesamtzustand, Gesamtsinn und -wert spiegeln will, desto mehr gelingt ihr dies in den Formen des Gefühls, gegenüber den gespalteneren, vermittelteren des Denkens und des Wollens.

Die ersten Zustände der Seele sind doch wohl Gefühle, und »Wille und Vorstellung« erst sekundäre, vielleicht pari passu ausgebildete.

Aber dieses so aus der Lebenstiefe hervorbrechende Ideal einer einheitlich- subjektiven Seinsvollendung, wie es sich im ersten Faustmonolog als metaphysisches, im Spaziergang mit Wagner als sozusagen vitalistisches ausspricht, alle Sehnsucht der gefühlten Fülle und Vollendung des Erlebens zudrängend — dieses Ideal gibt dem Bilde des jungen Goethe einen Zauber, eine Ahnung menschheitlicher Vollendung, ein unerhörtes Versprechen, dem gegenüber alle Wunder seines späteren Seins und Leistens, obgleich sie die Kraft der Wirklichkeit gegenüber der blossen Möglichkeit besitzen, ein leises Abblassen bedeuten.

Vielleicht liegt hier ein allgemeines Schicksal der Menschheit, das sich nur an ihren höchsten Exemplaren besonders verdeutlicht, weil wir sie als die »höchsten« eben auf Grund von Leistungen zu nennen pflegen, die meistens der Zeit nach, mindestens aber dem Sinne nach jenseits der Jugendlichkeit liegen; daher stammt wohl das seltsam Ergreifende, das so oft die Jugendbildnisse der grossen Menschen für uns haben.

Sie mögen sich nachher zu dem unerhörtesten Schaffen und Wirken erhoben haben — mit irgend einer Einbusse, irgend einer Vereinseitigung, irgend einer Temperatursenkung ist es erkauft, obgleich sie das, was sie verloren haben und um ihrer Leistungen willen verlieren mussten, eigentlich gar nicht als Wirklichkeit besassen, aber doch auch nicht als blosse abstrakte Möglichkeit; sondern unter jener, logisch so schlecht greifbaren Kategorie, in der das lebendige Wesen seine Zukunft schon als Gegenwart besitzt, in der seine ungelösten, vielleicht nie zu lösenden Spannkräfte es schon als eine Wirklichkeit besonderer Art umschweben.

Auch ist in dieser ahnungsvollen Darbietung eines Gesamtseins, gegen die alle spätere konkrete Leistung Zerlegtheit und Einseitigkeit ist, die spezifische »Liebenswürdigkeit« der Jugend begründet; denn Liebe richtet sich eben auf die Ganzheit des Menschen und nicht auf noch so wertvolle einzelne Perfektionen und Taten, die höchstens als Brücke für das Verhältnis zu jener Ganzheit dienen können.

Der Zauber von Goethes Jugend, der ihm die Liebe aller Herzen gewann, scheint in dieser vorbehaltlosen Darlebung und Offenbarung seiner gleichsam in sich ungeteilten Persönlichkeit gelegen zu haben, seiner Existenz, die noch nicht in differenzielle Kanäle geleitet war.

Das Ideal der Vollendung des persönlichen Seins geht ihm in die des Handelns (als Schaffen und als Wirken) und des Erkennens auseinander — in vereinzelten Ansätzen schon in der frühen Weimarer Zeit anklingend, entschieden aber nach der Rückkehr aus Italien.

Und es ist das ganz Unvergleichliche seines Bildes, dass jener damit geschehende Abbruch an Schönheit und Kraft seines Lebens nur das schlechthin, ich möchte sagen: logisch unvermeidliche Minimum war.

Und zwar, weil diese Wandlung ein rein inneres Entwicklungsschicksal, eine von vornherein in dem organischen Gesetz seines Wesens vorgezeichnete Periodik war.

Wo die Kraft aus der Form der Gesammeltheit, die sie nur als jugendhafte Möglichkeit besitzt, in Bewährungen übertritt, aus dem sich selbst genügenden Lebensvorgang in einzelne Inhalte geleitet wird, da büsst sie natürlich den Glanz und Reiz ein, der nun einmal, unvergleichbar, gerade an jener Form haftet.

Aber in den meisten Lebensläufen wird damit auch ein Teil der Kraft selbst lahmgelegt, der Strom der Vitalität, in eine Mehrheit von Adern auseinander- geführt, nun mehr von bestimmten Zielen gezogen, statt von der Einheit seiner Quelle getrieben, verliert dabei an Macht und Gedrängtheit.

Diese weitergehende, weiter verlierende Konsequenz ist bei Goethe nicht eingetreten; als er aus dem Idealismus der subjektiven Lebendigkeit zu dem des objektiven Wirkens und Erkennens überging, war freilich die Jugend mit ihren spezifischen Werten verloren, aber weiter auch nichts.

Jenes dynamische intensive Sein bleibt in der Theorie und in der Praxis, in die es auseinandergeht, als deren Substanz erhalten, es fällt nicht, wie in der Mehrzahl solcher Entwicklungen, zwischen ihnen durch oder wird zwischen sie aufgeteilt.

Aus der Einheit des ursprünglichen Lebenstriebes, der sich in diese beiden hineingelebt, wird die Zusammengehörigkeit verständlich, in der er sie beide fortwährend erblickt.

Wenn er alles Wissen hasste, das seine Tätigkeit nicht belebte, keinen Eindruck anerkannte, der ihn nicht produktiv machte, an der Praxis das Kriterium des theoretisch Wahren fand — so wirkt in all dem die Gemeinsamkeit der Wurzel, die die seines Lebens von Anfang an war.

Nachdem sie sich in Erkennen und Handeln auseinandergezweigt hatte, blieben dieser beiden solidarische Beziehungen als Folge und Symbol jener Wurzelung zurück.

Das klare und prinzipielle Bewusstsein dieser entscheidenden Wendung spricht sich z. B. in einer Äusserung vom Jahre 1805 aus, in der er die Erinnerung an bedeutende Gegenstände, besonders an charakteristische Naturszenen, mit ihrem Eindruck nach langer Zwischenzeit vergleicht.

»Da werden wir denn bemerken, dass das Objekt immer mehr hervortritt, dass, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit, ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen wissen.« Dazu erinnere man sich an alle die Äusserungen über den Wert des praktischen Verhaltens als solchen, die in unsren früheren Zusammenhängen hervortraten und mit seinem steigenden Alter immer entschiednere Form annehmen.

Er ist noch keineswegs ein alter Mann, als er sagt, in seinem Alter gebe es für ihn nur noch Wort und Tat, das sogenannte beredte Schweigen habe er schon lange der lieben und verliebten Jugend überlassen — eine Absage also an die gefühlshafte Lebensepoche zugunsten der theoretisch-praktischen.

Er selbst zwar konstruiert als den Gegensatz gegen diese letztere meistens die des dichterischen Schaffens — sowohl im Verfolg jener Äusserung von 1805 wie zwanzig Jahre später sagt er ausdrücklich, dass die Fähigkeit für das Künstlerische, Ästhetische, die ihm ursprünglich eignete, ihn verlassen habe und dass an dessen Stelle die Naturstudien getreten wären.

Dies sind indes ersichtlich Stimmungen aus dichterisch sterilen Monaten oder Jahren. Die Tatsachen zeigen, dass ihm das Alter die dichterische Fähigkeit keineswegs geraubt hat, aber auch ihr gab er freilich das Cachet der Objektivität; auch sie bewahrend wurde er nun der »Erzählende«, der das eigne Leben und seine Inhalte gegeneinander differenziert hat, und sie nun in der Form des Kunstwerks ebenso wieder zusammenbringt, wie in der des Forsches und des praktischen Handelns.

Das Verhältnis der beiden Teile des Meister bildet die bisher skizzierte Entwicklung nach.

Die Lehrjahre stehen unter dem Ideal, die Persönlichkeit auszubilden und auszuleben. Der Selbstwert objektiver Leistungen kommt kaum in Frage, ausser etwa bei Therese, die aber auch nach dieser Richtung hin eigentlich schon in die Wanderjahre überdeutet.

Dass gerade der Schauspieler und der Edelmann besondere Schätzung erfahren, ist hierfür ausserordentlich bezeichnend. Denn für beide ruht diese Schätzung, wenn auch in ganz verschiedener Motivierung, keineswegs auf den spezifischen Inhalten und substanziellen Resultaten ihrer Existenz.

Die Leistung des einen ist die schlechthin verfliessende, rein funktionelle, deren überindividuelle Wirkung auch nur wieder auf die funktionelle Bildung und Seinserhöhung des Publikums geht, die Leistung des andern wird überhaupt nicht substanziiert.

Worauf es für beide ankommt, ist gerade die Befreitheit von Lebensinhalten, die die sich selbst gehörende, aus dem Seinsideal folgende Entwicklung der Persönlichkeit in einer sachlichen und äusseren Ordnung festlegen könnten.

Zu solcher unsachlichen und undifferenzierten, auf das Leben als solches gerichteten Existenz und Existenzwertung sind die Frauen von vornherein disponierter und gerade dies spezifisch Weibliche ist in fast all seinen möglichen Verwirklichungstypen in den Lehrjahren durchgeführt, in Marianne wie in Mignon, in Philine wie in der Gräfin, in Aurelie wie in Natalie.

In der letzteren am reinsten und vollkommensten, und es spricht deshalb den tiefsten Sinn von Wilhelms Lebensintention aus, dass er in ihr die Erfüllung all seiner Sehnsucht findet, nachdem die erotischen Beziehungen zu den anderen Frauen schon die Parallelität gezeigt haben, die zwischen dem Dominieren des Gefühls und dem Ideal des gesamten Seins, das ihn leitet, besteht.

In der ganzen Breite dieser Wertrichtung des Lebens bilden die Wanderjahre das genaue, ja eigentlich krasse Gegenteil.

Hier liegt aller Ton auf dem objektiven Wirken, den sozialen Institutionen, der überindividuellen Vernunft.

Die Menschen sind nur die eigentlich anonymen Träger bestimmter, durch ihren Inhalt festgelegter Funktionen, an die Stelle der auf sie selbst bezüglichen, für sie selbst wertvollen Ausbildung tritt die für die Ausübung von Tätigkeiten, die sich in ein objektives Ganzes einordnen.

Während die Luft der Lehrjahre so kontinuierlich von Lebenswellen erfüllt ist, wie es nur geschehen kann, wo das Leben um seiner Absolutheit willen, das Sein um seiner eignen Vollendung willen gesucht wird, atmet man in den Wanderjahren dünne Luft, weil die Lebensstrahlen auf je einzelne Ziele festgelegt, gleichsam linear differenzierte sind und dadurch leere Zwischenräume zwischen ihnen bleiben müssen.

Die Spannung der Atmosphäre zwischen dem männlichen und dem weiblichen Pol ist fortgefallen, Männer und Frauen sind dem gleichen objektiven Gesetz unterstellt, das nicht mehr ein Gesetz des Seins, sondern des Wirkens und Leistens ist, und an die Stelle des Gefühls ist die Weisheit getreten.

Das bedeutet einen Begriff der Individualität, der sich gegen dessen frühere Formung antagonistisch abhebt und sich nach dem Begriff der Menschheit orientiert zeigt.

Je älter Goethe wird, desto mehr tritt ihm sozusagen an die Stelle des Menschen die Menschheit. Das Leben hat ihn überzeugt, dass der Einzelne sich zu jener wirklichen individuellen Vollkommenheit, die seiner Jugend vorschwebte, nicht ausbilden kann — so soll es denn die Menschheit: »Das Jahrhundert ist vorgeschritten, aber der Einzelne fängt doch immer von vorn an.« Diese Vollkommenheit aber gewinnt die Menschheit nicht durch eine qualitativ gleiche, sondern — indem er auch dieser Abstraktion das Prinzip des Organismus bewahrt — durch die arbeitsteiligste Ausbildung ihrer Glieder.

»Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu«, heisst es in den Wanderjahren.

»Dass ein Mensch etwas ganz entschieden verstehe, vorzüglich leiste, wie nicht leicht ein Andrer in der nächsten Umgebung, darauf kommt es an.« Während in den Lehrjahren das persönliche Leben als solches differenziert wird und, weil jedes Individuum eine Welt ist, nun ein jedes auch eine differenzierte Welt ist, wird in den Wanderjahren eine einheitliche Welt erstrebt, innerhalb deren also nicht die Personen, sondern nur die Leistungen, die objektiven Bestandteile dieser Welt, differenziert sein müssen.

Hier liegt eine der tiefsten Beziehungen und Begründungen von Goethes Altersideal des Praktischen.

Erst das Handeln, insofern es von seinem Inhalt bestimmt und nach seinem Resultat gemessen wird, stellt sich als Teil in die objektive und gesellschaftliche Welt ein, die Menschheit in diesem letzteren Sinne fordert für Goethe nicht die Differenzierung des selbstgenugsamen, seine eigene Vollendung suchenden Menschen, nicht sein Sein und sein Fühlen, sondern sein Tun, sein sachgemässes Wirken; die Wendung vom Menschen zur Menschheit bedeutet zugleich die vom Individuum als dem Träger eines individuellen Seins zum Individuum als dem Träger einer individuellen Leistung und besiegelte Goethes grosse Wendung vom Wert des personalen Lebens zu dem der objektiven Inhalte des Lebens.

Wenn man die »Idee« der Goetheschen Lebensintention formulieren, seinem einheitlich-totalen Sollen einen Inhalt bestimmen soll, so ist es doch: die Objektivierung des Subjekts.

In einer kaum überschaubaren Arbeit hat er das vielleicht reichste, gedrängteste, bewegteste subjektive Leben, das wir kennen, derart zu objektiver Geistigkeit gebildet, dass man den ganzen Umfang und die unzähligen Ausschlagspole dieses rastlosen innerlichen Werdens, dieser immer schwingenden, immer empfangenden und immer zeugenden Ichfunktion wie lückenlos an dem zeitlos ausgebreiteten Werk ablesen kann.

Die wechselnden Gefahren desjenigen, der wie Goethe sein Werk als eine Konfession bezeichnet: entweder in ein naturalistisches Herausbrodeln zu verfallen oder die Lebensinhalte so fest zu verformen, dass ihre Verbundenheit mit dem Subjekt nicht mehr fühlbar bleibt — diese Gefahren bestanden für Goethe nicht.

Was er von den Wahlverwandtschaften sagt: es wäre keine Zeile darin, die er nicht erlebt hätte, aber auch keine so, wie er sie erlebt hätte, drückt, wenn auch negativ und vielleicht etwas äusserlich, das Entscheidende aus: das rein Subjektive, das er in sein Werk hineingab und das rein Objektive, als das es in diesem erstand.

Die anderen höchsten Künstler, deren Werk gleichfalls als Objektivierung des Subjekts empfunden wird: Michelangelo, Rembrandt und Beethoven, konnten in den, den sprachlichen Mitteln gegenüber spezialistischeren Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Kunst das innere Dasein als Geist, Gefühl und Ethos nicht in dem gleich lückenlosen Umfang ausbreiten.

Diese grosse menschheitliche Leistung wird eigentlich nur in andrer Wendung durch das hier oft Wiederholte ausgedrückt: vermöge der tiefen Einwurzelung seiner individuellen Realität in das Kosmische und Ideelle habe er nur der Triebhaftigkeit, dem aus sich selbst wachsenden Prozess seines subjektiven Lebens zu folgen brauchen, um das objektiv Rechte und Tiefe, das künstlerisch Vollendete, das ethisch Geforderte zu leisten; und so umfassend war diese Einheit, dass alle Selbstbeherrschung, Selbsterziehung und Resignation, deren es zur Herausbildung dieses Ergebnisses bedurfte, zum Charakter und Rhythmus seines unmittelbaren, subjektiven Lebens selbst gehörte.

Aber in seinen verschiedenen Epochen geht diese subjektiv-objektive Einheit verschiedene Verwirklichungswege.

Sie zeigt sich in seiner Jugend mit einer gewissen naiven Reinheit, indem er die Ideale des Lebens auf das Leben selbst sammelt und die zentrale Triebkraft auf die Vollendung des persönlichen Seins richtet.

Die Entwicklung über diese Stufe hinaus mag man als Differenzierung oder als Objektivierung bezeichnen.

Auf sehr klare Art erweist sie die Wechselbedeutung dieser beiden Begriffe. Überall, wo die Einheit des subjektiven Lebens sich in Sonderbetätigungen, Sonderinteressen zerlegt, bedeutet es, dass von dem einheitlichen Persönlichkeitspunkt Radien sich strecken, die in ausserpersonale, objektive Gebiete hineinreichen oder von diesen gewissermassen aus jenem herausgelockt, herausgezogen werden.

Die ganze geistige und soziale Geschichte der Menschheit zeigt — als einen ihrer wenigen, annähernd als gesetzlich anzusprechenden Züge —, dass jede Arbeitsteilung ein Schritt zum Objektivwerden der Interessen und Einrichtungen ist; je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto sachlichere, unpersönlichere Normen bildet sie aus, je geteilter die Funktionen, desto mehr ist das schliessliche Resultat, weil es nicht mehr einer einheitlichen Person genetisch verbunden ist, ein bloss objektives Ganzes, das die subjektiven Teilbeiträge sozusagen in sich eingeschluckt hat und jedem dieser einzelnen als ein Neues und Fremdes gegenübersteht.

In dem Masse also, in dem jene einheitliche Lebensvollendung ihre Stelle in Goethes Idealbildung an das Tun und das Erkennen abgab, in eben dem wurde sein Denken und seine Seinsintention objektiver, bis zu dem Grade, dass schliesslich jede Unmittelbarkeit seines eigenen Erlebens ihm ein objektiv zu registrierendes, objektiv zu begreifendes Ereignis war.

Indem er sich in sich differenzierte, differenzierte er auch sich und die Welt gegeneinander, jene unmittelbare, gefühlsmässige Einheit zwischen dem Ich und der Welt machte dem Bilde einer objektiven Welt Platz, die praktisch zu bearbeiten und theoretisch zu erkennen ist — woneben jene Einheit freilich irgendwie erhalten und ausserdem doch das auf diesen getrennten Wegen zu erarbeitende Ziel bleibt.

Während er also in der Jugend die Totalität des Daseins in der Totalität seines Subjekts empfindet, legt sich ihm später das letztere gleichsam in eine Mehrzahl von Armen auseinander, mit denen ein Gegenüberstehendes ergriffen wird.

In jenem ersten Sinne ruft Faust aus: »Was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, Will ich in meinem innern Selbst geniessen« — und schon am Ende der Lehrjahre verkündet eine merkwürdige Sentenz das andere: »Sobald der Mensch an mannigfaltigen Genuss Anspruch macht, so muss er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich, gleichsam unabhängig von einander, auszubilden.

Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit geniessen will, wer alles ausser sich zu einer solchen Art von Genuss verknüpfen will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen.« Jene Äusserung Fausts enthält den Pantheismus sozusagen in der Form eines Pananthropismus und gerade diese benutzt er, fast achtzig Jahre alt, um die Abwendung von seinem Jugendweg zu charakterisieren.

Der Faust, sagt er, »hält die Entwicklungsperiode eines Menschengeistes fest, der von allem, was die Menschheit peinigt, auch gequält, von allem was sie beunruhigt auch ergriffen, in dem was sie verabscheut gleichfalls befangen, und durch das, was sie wünscht, auch beseligt worden.

Sehr entfernt sind solche Zustände gegenwärtig von dem Dichter.« Viele Jahrzehnte hindurch hat er als Aufgabe, eine mit jenen gesonderten Organen zu lösende, vor sich gesehen, was seine Jugend zu besitzen meinte, und dies eben besagt, dass die grosse Wendung seines Lebens keinen Verlust, sondern nur eine Metamorphose darstellt, und dass so manches, was nur in der Form des jugendlichen Lebensganzen, des jugendlichen Fühlens existenzmöglich schien, doch dem Alter in der Form der Objektivität erhalten blieb.

»Mir kommt immer vor«, schreibt er einmal in späteren Jahren, »wenn man von Schriften wie von Handlungen nicht mit einer liebevollen Teilnahme, nicht mit einem gewissen parteiischen Enthusiasmus spricht, so bleibt so wenig daran, dass es der Rede gar nicht wert ist.

Lust, Freude, Teilnahme an den Dingen ist das einzig Reelle, und was wieder Realität hervorbringt; alles andre ist eitel und vereitelt nur.« Mit diesem Satz scheint mir jener »liebevolle Zustand«, durch den er seine Jugendjahre charakterisierte, gleichsam objektiv geworden zu sein.

Man kann ihm, als Gegenstück des Prinzips: die Welt ist meine Vorstellung — wohl den Satz unterstellen: die Welt ist meine Liebe; aber er hätte für seine Jugend und für sein Alter charakteristisch verschiedenen Sinn.

Dem jugendlichen Herzen, das sozusagen nur sich selbst empfinden, nur seine Liebeskräfte entfalten wollte, war dazu das ganze Dasein gerade gross genug, wie es das Ganze umfasste, so gab es sich dem Ganzen hin, ein Liebespantheismus, der sich etwa im Ganymed herrlich ausspricht.

Dann aber, indem diese Einheit entschiedener in Subjekt und Objekt auseinander geht, empfindet sich die Liebe mehr als hervorbringend, das Dasein wird jetzt in dem Sinne ihr Objekt, dass sie die Kraft im Subjekt ist, vermöge deren für eben dieses das Dasein überhaupt da ist, wie in jenem Kantisch-Schopenhauerischen Satz die Welt gerade dadurch das Objekt für uns ist, dass unser Vorstellen sie erzeugt.

Jetzt ist die »liebevolle Teilnahme das Einzige, was Realität hervorbringt«, sonst ist alles eitel.

Bis in diesen innerlichsten Affekt hinein also zeigt sich die Entwicklung, die den subjektivisch-einheitlichen Zustand seiner Jugend in die mannigfach sich formende Auseinanderlegung von Subjekt und Objekt überführt und diese voraussetzend von neuem, wie auf höherer Stufe, der Einheit entgegenwächst.

Aber noch schärfer bezeichnet es den Epochenwandel, dass neben dieser tiefen Bedeutung von Liebe und Teilnahme in bezug auf ihre nach innen gewandte Seite eine direkt gegenteilige Wertung (nicht nur eine objektivierende) einhergeht.

Man halte sich die rückhaltlosen Hingebungen seiner jungen Jahre, die Seligkeiten am Gefühl als solchen, die Leidenschaft »der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen« vor Augen — und vergleiche damit eine Reihe von Aussprüchen, die alle aus dem Jahre 1810 stammen.

Er sagt zu Knebel, er lebe »wie die unsterblichen Götter und habe weder Freud noch Leid«.

Und: »Es kommt mir nichts so teuer vor, als das, wofür ich mich selbst hingeben muss.« Und: »Lieben heisst Leiden.

Man kann sich nur gezwungen dazu entschliessen, d. h. man muss es nur, man will es nicht.« All jene frühen Äusserungen, nach denen ihm Lust und Leid eigentlich eines und dasselbe, ein substanziell Gleiches und Gleichwertiges sind, ruhen darauf, dass ihm das Fühlen als innere Bewegtheit, als Pulsieren und Auslodern der Lebensenergie das allein Wesentliche war; mit welchem besonderen Inhalt es sich füllte, darauf kam es ihm so wenig oder eigentlich noch weniger an, als später darauf, welchen Inhalt die nachher inthronisierte Praxis ergreift.

Wie sich ihm nun, so sahen wir, Tugend und Laster schärfer auseinanderlegen, so Lust und Leid; weil die Liebe Leiden bringt, erscheint sie ihm als ein nur zwangsmässig Ertragenes, und höchstens stellt er sich jenseits jenes Gegensatzes, wie er sich früher gleichsam diesseits seiner gestellt hatte, auch hier das Entwicklungsschema der undifferenzierten Einheit durch die Trennung hindurch zur Überwindung der Differenzierung wiederholend.

Jetzt steht er den Dingen gegenüber und seine Hingebung muss also einen längeren, kostspieligeren, überlegteren Weg durchmachen, als damals, wo die gefühlsmässig-ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt in der Hingebung nur ihren selbstverständlichen empirischen Ausdruck fand.

Und endlich verrät die Äusserung über den Zwangscharakter der Liebe wieder jenen Ersatz des Gefühls und Seinsideals durch das Willensmässige und Verstandesmässige seines Alters.

Weil das Leben jetzt auf den bewussten Willen gestellt ist, kann ihm als Zwang erscheinen, was in der Jugend ein einheitliches Ausströmen gewesen war: aller Zwang steht auf einem dualistischen Gegenüber.

Und dass man das mit Leiden Verknüpfte nur unfreiwillig auf sich nimmt, ist ein Rationalismus des Alters, eine begriffliche Folgerung, die seiner Jugend, alle logischen und eudämonistischen Gegensätzlichkeiten in die Einheit seines Seins verschmelzend, ganz fern lag.

Dass in diesem Anderswerden seiner Wirklichkeit und seines Ideals nicht nur das gleiche Energiequantum sich umformt, sondern dass hier, bei aller inhaltlichen Entgegengesetztheit, organisch notwendige, gewissermassen ideell präformierte Stufen eines unerhört einheitlichen Lebens vorliegen — eines Lebens, das als solches, als Funktion, als Entwicklung, so einheitlich war, dass es der Einheit besonderer.

Inhalte gar nicht bedurfte —, das ist ihm selbst freilich nicht immer bewusst gewesen.

Er sagt als Siebziger, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst: »Selbst das grösste Talent, welches in seiner Bildung einen Zwiespalt erfuhr, indem es sich zweimal, und zwar nach entgegengesetzten Seiten, auszubilden Anlass und Antrieb fand, ist kaum vermögend, diesen Widerspruch ganz auszugleichen, das Entgegengesetzte völlig zu vereinigen.« Begreiflich genug; im unmittelbaren Erleben einer Periode füllen natürlich ihre Inhalte unser Bewusstsein, und damit gerade das, was sie den anderen Perioden entgegensetzt.

Das Goethesche Alter hat von dem Rhythmus und den Überzeugungen seiner Jugend nichts mehr wissen wollen, hat sie so und so oft ausdrücklich dementiert; es wäre nicht die volle Kraft der einen in das andere übergegangen, wenn es anders gewesen wäre.

Diese Selbsterhaltung der einzelnen Lebensperiode ist ihm sehr wohl bekannt, aber weil er weiss, wie sehr das Spezifische seines Lebens: die volle Hinleitung seiner Einheit in die jeweilige epochale Intention von ihr abhängt — deshalb besteht er umso energischer auf ihr.

Er spricht das einmal ergreifend aus, als er die altdeutschen Bilder der Boisserèeschen Sammlung kennen lernt: »Da hat man nun auf seine alten Tage sich mühsam von der Jugend, welche das Alter zu stürzen kommt, seines eignen Bestehens wegen abgesperrt, und hat sich, um sich gleichmässig zu erhalten, vor allen Eindrücken neuer und störender Art zu hüten gesucht, und nun tritt da mit einem Male vor mich hin eine ganz neue und bisher mir ganz unbekannte Welt von Farben und Gestalten, die mich aus dem alten Gleise meiner Anschauungen und Empfindungen herauszwingt — eine neue, ewige Jugend; und wollte ich auch hier etwas sagen, es würde diese oder jene Hand aus dem Bilde herausgreifen, um mir einen Schlag ins Gesicht zu versetzen und der wäre mir wohl gebührend.«

Unterschieden von den Entwicklungen der Menschen, in denen sich der geistige Prozess von seiner Seinsgrundlage abgehoben hat und gewissermassen ein autonomes Leben, auf die vitale Beschaffenheit des Individuums keinen Schluss zulassend, führt — ist Goethes Bewusstsein immer unmittelbar von seinem Sein gespeist und wenn sich seine bewussten und idealen Richtungen wendeten, so bedeutet das stets eine Entwicklung seines ganzen, substanziellen Persönlichkeitslebens.

Darum sind diese Entwicklungen einerseits so radikal, andrerseits von und zu einer so tiefen Einheit und unabreissbaren Kontinuität zusammengehalten; darum erlebt er die jeweilige Epoche in einer gegen alles Frühere rücksichtslosen Hingabe, während unser überschauender Blick doch allenthalben die — niemals starren, sondern immer funktionellen — Züge entdeckt, die diese Wechselformen durchleben.

Soweit derartige Metamorphosen von Jugendgestaltungen in die ganz entgegengesetzte Altersform, unter Bewahrung eines tiefsten Wesenskernes, biographischen Sinn haben, ruhen sie auf einer selten bewussten Voraussetzung.

Wir können sehr oft solches Kontinuierende unmittelbar und rein kaum ausdrücken, weil wir das individuelle Leben eben nur jeweils unter irgendwelchen Alterskategorien kennen — wie wir die Ideen, die reinen Inhalte des Daseins, immer nur in der Formung als theoretische oder praktische, künstlerische oder religiöse, erlebte oder gedachte ergreifen können.

Was diese in ihrer für sich seienden Inhaltlichkeit sind, können wir nur in einer eigentümlichen, nie bis zu Ende vollziehbaren Abstraktion ahnen, da nur jene Kategorien gleichsam die Hände sind, mit denen wir die reinen Inhalte des Seins fassen können, durch dieses Fassen sie aber unvermeidlich formend und, wenn wir dies nicht wollen, uns jeder Beziehung zu ihnen beraubend.

Dies wiederholt sich an der Betrachtung des Lebens.

Wir kennen keinen Lebensvorgang, keinen verwirklichten Lebensgehalt, der nicht der eines bestimmten Altersmomentes wäre und unter dessen Bedingtheiten stünde.

Gewiss können wir solche Inhalte der Kategorie des Erlebtwerdens überhaupt entrücken und unter irgend einer bloss sachlichen, poetischen, zeitlosen usw. betrachten.

Gelten sie aber als erlebte, so sind sie damit zugleich der Färbung, den Relationen zwischen Stück und Ganzem, der Bewegtheitsform untertan, wie sie eben den Altersabschnitt charakterisieren, an den ihr Erleben gebunden war.

Es ist äusserst schwierig, die unbedingte Einheit, als die sie so gefärbt auftreten, in die Elemente des blossen Inhalts und des Cachets der betreffenden Altersstufe zu zerlegen, bedenklich deshalb, das Hindurchleben eines und desselben seelischen Zustandes, Zieles, Inhaltes durch die gewandelten Gesamterscheinungen verschiedener Lebensstufen hindurch zu behaupten.

Diese Schwierigkeit greift tief in jegliche geschichtliche Nachzeichnung eines individuellen Lebens ein, aber unser tatsächliches Verfahren überwindet sie, zwar nicht mit kontrollierbarer Methode, aber durch einen gewissen Instinkt, der in sehr verschiedenen und je in sich einheitlichen Phänomenen eines ablaufenden Lebens ein Identisches, Sich-Erhaltendes herauszuerkennen glaubt.

Diese Möglichkeit bedingt es, dass wir bei Goethe von gewissen Beschaffenheiten und Intentionen des Lebens sprechen können, die in Erscheinungen seiner Jugend und davon sehr verschiedenen seines Alters als ein Ungeändertes beharrt haben und gerade daran die entgegengesetzten Lebensformationen von Jugend und Alter rein und deutlich offenbaren — wie die beharrende Substanz an dem Wechsel ihrer Ausgestaltungen und dieser Wechsel an dem Beharren der Substanz kenntlich wird.

Unter dieser Voraussetzung also belege ich den Charakter der Umsetzungen innerhalb der Goetheschen Lebensstufen noch mit einem letzten Beispiel.

Ich erwähnte früher die ungeheure Gegensätzlichkeit der Stimmungen, zwischen denen ihn sein jugendliches Temperament hin- und herwarf; das Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt — war nach seinen eigenen Geständnissen und den Zeugnissen anderer die Formel seiner Jugend. Dies war natürlich nicht Launenhaftigkeit der Schwäche, die von einer inneren Richtung in die andere umspringt, weil ihr die Kraft, auf einer zu beharren, fehlt und sie des fortwährenden Wechsels und krassen Gegensatzes der Reize bedarf, um jeden einzelnen und das Leben überhaupt zu fühlen.

Ganz umgekehrt war es hier die mächtige Vitalität, die drängende Dynamik der Existenz, die ihre Inhaltspole so weit ausspannen, sich so rastlos zwischen ihnen hin und her bewegen musste, um Raum für ihre Bewegung zu haben, um ihre Energien nur überhaupt unterzubringen.

Das Mass des Lebens, als blosser Kraft, die sich entladen will, war in seiner Jugend ein so ungeheures, dass es nur in fortwährendem Umspringen zwischen den weitesten Stimmungsgegensätzen sich austoben konnte, vor dem Vernunftinhalt des damit Ergriffenen natürlich oft ratlos, widerspruchsvoll und töricht; aber gerade von hier aus verstehen wir noch einmal das damals oft ausgesprochene Gefühl, dass eigentlich Liebe und Hass, Gut und Böse, Glück und Leid eins und dasselbe wären.

Es war es auch tatsächlich für ihn, weil alle diese logisch sich ausschliessenden Empfindungen gerade in ihrer Gegensätzlichkeit dazu dienten, dem einheitlich mächtigen Fluss seiner Lebensfunktion ein hinreichend breites Strombett zu bieten.

Diese Vitalbestimmung seiner Jugend nun scheint mir in seinem höheren Alter in eine eigentümliche Intellektualbestimmung transformiert zu sein: in die auffallenden Widersprüche, logischer wie sachlicher Art, in denen sich seine späteren Sentenzen bewegen.

Jene funktionellen Polaritäten, zwischen denen sein Jugendleben schwang, sind damit auf die zeitlos-theoretische Inhaltlichkeit übergewachsen, jene gefühlshafte Spannungweite des oszillierenden Lebens ist zur Spannung zwischen einander ausschliessenden Theoremen kristallisiert.

Er ist sich über die Tatsache dieser Widersprüche auch ganz klar, sucht sie objektiv in den Wanderjahren ziemlich umständlich zu rechtfertigen, erwidert, auf sie aufmerksam gemacht, das schon Angeführte: er sei nicht achtzig Jahre alt geworden, um an jedem Tag dasselbe zu sagen wie am andern; jemand, der viel mit ihm verkehrt, bemerkt verwundert, dass man ihn nie auf eine Ansicht der Dinge festlegen könne, ehe man es dächte, wäre er schon an einer ganz verschiedenen.

Er war sich freilich einer höchsten formalen, individual-apriorischen Einheit seines Denkens so bewusst, dass die Widersprüche im relativ Einzelnen (das freilich noch immer von ganz hoher Allgemeinheit war) dagegen nicht aufkamen; andrerseits erschienen ihm wohl diese Widersprüche, bei festgehaltener höchster Attitüde, als der adäquate Ausdruck des Verhältnisses von Mensch und Welt.

Auch deshalb ging er in seiner Ideenbildung immer bis zum Radikalismus und reserveloser Allgemeinheit, weil ihm Einwürfe und Gegeninstanzen, die solche Absolutheit hätten eingrenzen können, im Moment der Produktion als Negatives erscheinen mussten, gegen das seine immer am Positiven hängende Natur sich wehrte.

Zwischen der mit dem Alter immer unbedingteren Wertung des Positiven und Abwehr aller blossen Kritik, alles blossen Einwandes — und der Unbedingtheit und Generalisation jeder Denkrichtung, die unvermeidlich zu Widersprüchen zwischen seinen Aussprüchen führte, besteht ein tiefer Zusammenhang.

Wert und Leben sind nicht darauf eingerichtet (in abstrakter Weise hat er das auch sehr gut gewusst), von einem einzigen, geradlinig ins Unendliche laufenden Gedanken bezwungen zu werden.

Er genügte dem nicht durch Einschränkung der einzelnen Maxime, sondern indem er der unbeschränkten Allgemeinheit der einen eine ebensolche einer andren im entgegengesetzten Sinne gesellte.

Dass seine Geistigkeit aber diese Gestalt annahm, ist die höchste und allgemeinste Erfüllung jener grossen Evolutionsformel, nach der alles, was seine Jugend als Leben, Lebensideal, Gefühl besass, sich in sein Alter überrettete, um hier in der Form theoretischer oder auch praktischer Inhalte an einer objektiven Welt zu bauen.

Diese Wendung zeitlich zu fixieren, ist eigentlich ein nur biographisches und deshalb meiner Aufgabe fremderes Interesse; um so mehr, als — wie es schon mehrfach an Goethes geistigem Charakterbild hervortrat — entscheidende Motive sich bei ihm lange vor ihrer eigentlichen Herrschaft vorbereiten und, auch nachdem sie diese gewonnen haben, die Motive der vorangegangenen Epoche noch keineswegs tot sind, sondern immer noch gelegentlich nachklingen.

Dies ist gleichsam das Mittel, durch das seine Natur durch all ihre ungeheuren Wandlungen ihre ebenso ungeheure Kontinuität hindurchlebte.

Was er im hohen Alter als die »wiederholte Pubertät« bezeichnete, das Auftauchen erneuter jugendlicher Fruchtbarkeiten, ist nichts als eine besonders gedrängte Erscheinung dieser Kategorie, nur aus dem Inhaltlichen in das Funktionelle übertragen: aus der Wiederkehr der Inhalte früherer Zeiten in die ihrer Kräfte und Rhythmen, ohne deren Weiterleben doch übrigens auch jene nicht wiederkehren könnten.

Insofern steht eigentlich sein ganzes Leben im Zeichen der »wiederholten Pubertät«, die manchmal nur aus dem chronischen Zustand in den akut bemerkbaren übergeht.

Und sie hat ein nach der andern Zeitdimension erstrecktes Gegenstück, für das es nur keinen gleich treffenden Einzelausdruck gibt: ein Vorwegnehmen der Zustände und Gedanken, die ihrem Inhalte nach erst in den Zusammenhang späterer Epochen gehören.

Wie es überhaupt das Wesen des Lebens ist, dass seine Gegenwart auch seine Vergangenheit und seine Zukunft in einer, mit allem Mechanischen unvergleichlichen Weise in sich enthält, so streckte sich bei ihm, der das reinste Leben als solches gelebt hat, der Gegenwartsmoment in Vergangenheit und Zukunft hinein — eine Form seines Prozesses, seiner Dynamik, für die jenes Weiterleben des eigentlich Vergangenen und Vorwegnehmen des eigentlich Künftigen nur der an seinen Inhalten aufzeigbare Ausdruck war und die vielleicht eine Basis seines Unsterblichkeitsglaubens war.

Auch an diesem freilich offenbart sich, höchst charakteristisch, der grosse, hier behandelte Richtungswandel seines Lebens.

Er hat in einer berühmten, nachher noch einmal zu betrachtenden Äusserung »die Überzeugung unserer Fortdauer« aus dem »Begriff der Tätigkeit« entspringen lassen: »wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen« usw.

Aber mehr als ein halbes Jahrhundert früher schreibt er: »Dass in den Menschen so viele geistige Anlagen sind, die sie im Leben nicht entwickeln können, die auf eine bessere Zukunft, auf ein harmonisches Dasein deuten, darin sind wir einig, mein Freund.« In beiden Äusserungen das gleiche Motiv: es wird eine Zukunft gefordert, damit die Gegenwart das, was in ihr selbst vorhanden, aber unerlöst und unverwirklicht ist, in sie hinein aktualisieren kann.

In der Jugend aber ist es ein »harmonisches Dasein«, eine Vollendung der Existenz, ein gefühlshaft »Besseres«, womit die Zukunft die Gegenwart fortsetzen soll — im Alter ist es die Tätigkeit, die Wirkung, vor der hier ihre Seinsgrundlage sozusagen verschwindet und die ebenso wenig nach ihren qualitativen Gefühlsfolgen fragt.

Um dieser Kontinuität, dieses Vor- und Zurückgreifens des Lebens willen ist für eine nur auf den geistigen Gehalt gerichtete Betrachtung Goethes die genaue Chronologie an vielen Punkten weder nötig noch möglich, ja, der eigentlichen Intention gegenüber sogar irreführend.

Dennoch wäre es ganz verständnislos, damit die ungeheure Bedeutung des Nacheinander einer grossen Entwicklungsstadien verneint zu meinen.

Gerade darum handelt es sich ja in den jetzigen Erwägungen, dass Goethe — und in dieser Reinheit vielleicht kein andrer der grossen Menschen — die Idee seines Seins in einer organisch gelebten Entwicklungsfolge verwirklicht hat; oder vielmehr, seine Idee war von vornherein keine begrifflich stationäre, sondern die Idee eines Lebens.

In der Zeitfolge seiner Lebensepochen, nicht etwa nur seiner Überzeugungen, drückt sich eine zeitlose, nur sinnhafte Ordnung aus.

Für uns ist es hier nicht im biographischen Interesse, sondern für die sachliche Struktur seiner Geistigkeit wichtig, das oben Gesagte zu bekräftigen, dass die jetzt besprochene Wendung, zu der leise Ansätze schon in den ersten Weimarer Jahren sichtbar werden, im ganzen nach der italienischen Reise entschieden ist.

Man pflegt diese als den Ausgangspunkt einer neuen Lebensepoche anzusehen, eigentlich als die entscheidende Direktive für den ganzen Rest des Goetheschen Lebens.

Dies scheint mir nur in einem besonderen, genau genommen, in einem negativen Sinne richtig zu sein.

Ungeachtet aller Befruchtungen, neuer Perspektiven, Materialgewinnsten dieser Reise, war sie doch in erster Linie der Abschluss einer Lebensepoche und nur insofern der Beginn einer neuen.

Italien war ihm — ich habe das früher ausgeführt — die Sättigung eines Durstes, die Lösung unerträglich gewordener Widersprüche, die Bestätigung seines tiefsten Lebenssinnes durch die Anschauung dieser Natur und dieser Kunst.

Sieht man aber seine späteren Dichterwerke und Produktionen ausser den in unmittelbarer Nachwirkung entstandenen, wie den Römischen Elegien, an, so findet man von seiner italienischen Existenz, in ihrer unvergleichlichen Art und Schönheit, recht wenig Spuren; schon die Venetianischen Epigramme atmen nicht recht italienische Luft.

Die neue, differenzielle, auf Erkennen und Handeln gerichtete Epoche setzt zeitlich allerdings nach Italien sehr bestimmt ein, allein innerlich ist sie doch eine Evolutionsstufe, die die organischen Kräfte, von äusserem Erleben relativ unabhängig, emportrieben.

Es gehört zu dem ungeheuren Glück dieses Lebens, dass seine erste grosse Periode einen so vollendenden, erfüllenden Abschluss fand.

Deshalb bildet es keinen Widerspruch, sondern ist gerade ein bedeutsamer Beweis dieser Auffassung, wenn er, etwa ein Vierteljahrhundert später, mit tiefer Erschütterung bekennt, seit er über Ponte Molle nach Hause gefahren, habe er keinen rein glücklichen Tag mehr erlebt — und doch, schon ein Jahr nach Rom, seinen zweiten Aufenthalt in Italien abbricht, mit der krassen Erklärung, Italien wäre nichts mehr für ihn.

Jene »Pyramide seines Daseins« hatte in Rom einen Gipfel gefunden und der Weiterbau erfolgte auf einer neuen, daneben gelegenen Basis.

Der junge Goethe starb in Rom und es ist begreiflich, dass er sich selbst als Revenant vorkam, als er wieder italienischen Boden betrat.

Das wäre nicht möglich gewesen, wenn das dort Gewonnene der Eingang zu seinem neuen Leben gewesen wäre — es war nur der Ausgang seines alten.

Er mochte dort eine Reihe fruchtbarer, in den späteren Entwicklungen nachweisbarer Inhalte erworben haben; aber in bezug auf den Prozess des Lebens war Italien der Höhepunkt seiner bisherigen, durch die Hemmnisse und Widersprüche der letzten Weimarer Jahre zu äusserster Selbstbejahung gereizten Lebensintention, wie ich sie an einer früheren Stelle darlegte; es ging in der gleichen Richtung nicht weiter, das Leben musste zu neuen Formungen umbiegen und konnte das nun um so freier und entschiedener, als die frühere Epoche sich zu dieser harmonischen, in ihrer innerlich-äusserlichen Vollendung nicht mehr zu übertreffenden Aufgipfelung erhoben hatte.

Er schreibt aus Rom: »Glücklich wäre ich, wenn ich jemand liebes bei mir hätte, mit dem ich wachsen, dem ich meine wachsenden Kenntnisse unterwegs mitteilen könnte, denn zuletzt verschlingt das Resultat die Annehmlichkeiten des Werdens, wie die Herberge abends die Mühe und die Freude des Wegs verschlingt.« Hier ist also noch einmal die Formel seiner Jugend: der überwiegende Wert des Prozesses, des persönlichen Werdens, der Dynamik sich entwickelnder Existenz gegenüber allem blossen Resultat, allem schliesslich fertig darzubietenden Inhalt ausgesprochen.

Dieser Ton des gefühlswarmen, subjektivischen Idealismus ist in Rom für immer verhallt.

Aber wie es als das typische Glück seines Schicksals gelten konnte, dass in dem Augenblick, wo die Richtung und die Spannungen seiner Jugendepoche zu einer höchsten Lösung und Vollendung drängten, sich ihm Italien zu dieser Ausformung der »Idee« seiner Jugend darbot — so war auch das Leiden, das ihn bei seiner Rückkehr erwartete, eine nicht geringere Begünstigung solchen Abschlusses.

Man kennt die Enttäuschungen, die ihm Weimar jetzt bereitete, die leidenschaftlichen Klagen über den kalten Empfang durch die Freunde, über den totalen Mangel an Verständnis für sein jetziges Sein und Wollen.

Er kam noch mit der ganzen Fülle und Schwung seiner Jugend an — und musste vor verschlossenen Herzenstüren umkehren.

Es ist kein Zweifel: damals sprang eine Saite in ihm, für die es keine Wiederknüpfung gab und auch das Herzlichste und Beweglichste, was er seitdem äusserte, hatte den Ton einer gewissen Reserve, Sachlichkeit, ja Rationalisierung.

Aber welche Schmerzen ihm auch diese Erfahrung brachte — auch mit ihnen wurde das Schicksal zum Geburtshelfer der neuen Epoche, auf die sein Leben aus seiner inneren Rhythmik und ideellen Notwendigkeit heraus drängte.

Diese Epoche, die das Ideal des subjektiven Seins durch das des objektiven Wirkens und Erkennens ersetzte, konnte ihre Leitung und seelische Basierung nicht mehr dem Gefühl anvertrauen — was hätte er da noch mit dem ungeänderten Ton jener Beziehungen anfangen sollen, der ganz vom Gefühl, von der bedingungslosen Hingabe bestimmt war? Es ist eine erschütternde Entwicklung von der Strassburger Zeit an, von der er sagt: »Ich war überhaupt sehr zutraulicher Natur«, bis zu dem Geständnis des Greises: »Ich spüre immer mehr Neigung, das Beste, was ich gemacht und machen kann, zu sekretieren.« Die Peripetie dieses langen Dramas lag in der Rückkehr nach Weimar — aber auch damit hat ihm das Schicksal, wenn auch mit rauhen Händen, von aussen her den Weg gebahnt, den er von innen her gehen musste.

Er selbst schiebt, was eine geheimnisvolle Teleologie seines Geschicks war, einer blossen und äusseren Kausalität zu, indem er, die Leiden und Verdüsterungen nach seiner Rückkehr andeutend, sagt: »Die Entbehrung war zu gross, an welche sich der äussere Sinn gewöhnen sollte; der Geist erwachte sonach und suchte sich schadlos zu halten« — worauf dann eine Schilderung seiner wissenschaftlichen Bemühungen folgt.

Gleichviel, ob er das eigentlich Entscheidende: die Evolution seines Lebens, die etwas Positiveres als eine blosse »Schadloshaltung«

war, hier übersah oder verschwieg — es wiederholt sich in seinem Verhältnis zum Schicksal die Formel seines Verhältnisses zur Welt überhaupt.

Wie dieses es mit sich brachte, dass er nur seinen inneren Trieben zu folgen brauchte, um an der Welt die »antwortenden Gegenbilder« zu finden, wie sein autonomer Gedanke sozusagen seine eigne Richtigkeit und Bewährtheit mit sich brachte — so war auch für seine reale Lebensentwicklung das Schicksal da, um jeder seiner organisch notwendig werdenden Epochen die »antwortenden Gegenbilder« zu gewähren, d. h. jetzt, eine jede schon rein durch äussere Notwendigkeit, äussere Anregung und Darbietung so verlaufen zu lassen, wie sie sowieso von innen her verlaufen musste.

Italien und die Weimarer Enttäuschungen gaben ihm die Mittel an die Hand, seine Jugendepoche so reinlich, so anschaulich abzuschliessen, wie die rückblickfreie Entschiedenheit seines neuen Weges es erforderte.

Über die bisherige Entwicklung nun erheben sich in Goethes Greisenzeit Symptome einer dritten Stufe.

Die geistige Reihe, die mit ihr abschliesst, lässt sich vielleicht am besten an den Bedeutungen darstellen, die der Begriff der Form in dieser gesamten Entwicklung annimmt.

Ich kam schon früher auf das ungeheure Problem zu sprechen, in dessen Lösungsgeschichte die Existenz und die Produktivität des Goetheschen Wesens eine individuelle Stelle einnimmt: wie kann das Unendliche Form gewinnen? Nicht nur die typische menschliche Sehnsucht geht auf das Überschreiten jeder gegebenen, verendlichenden Grenze: in der Leidenschaft der Gefühle, nach der Vervollkommnung des Sittlichen, dem Geniessenwollen, der Bewährung von Kräften, der Beziehung zum Transzendenten; sondern schon tatsächlich fühlen wir uns einem Unendlichen verhaftet: um uns ein Weltprozess, der nach jeder Dimension hin ins Grenzenlose geht und dem wir in einer rätselhaften Weise und mit keineswegs scharfer Begrenzung unseres persönlichen Seins einwohnen; in uns ein durch unendlich viele Glieder uns zugeleiteter Lebensprozess, dessen momentane Träger wir sind und dessen Weiterströmen ins Unendliche durch unser Leben hindurchgeführt wird.

Diese doppelte Unendlichkeit, der Sehnsucht und der Wirklichkeit, findet einen gleichfalls doppelt geformten Gegensatz.

Mit all jener Verflechtung in unendliche Reihen und aller Grenzverschwommenheit gegen ihre Kontinuität sind wir eben doch Individuen, d. h. wir empfinden, dass jene unsichere Peripherie unseres Wesens von einem sozusagen unverrückbaren, unverwechselbaren, in seinen Wandlungen nur sich selbst gehorsamen Zentrum zusammengehalten wird; aus dem unendlichen und fluktuierenden Material des Daseins ist unser Ich als eine, wenn auch nicht substanzielle und plastische, so doch als eine funktionelle und charakterologische Form gebildet.

Darüber hinaus aber strebt unser Bedürfnis noch nach festen, unzweideutigen, anschaulichen Formen der Dinge, der Gedanken, der Daseinsinhalte überhaupt; wir sehnen uns nach ihnen als der Rettung vor der Auflösung des Daseins in jene immer weitergehenden Unendlichkeiten, als Haltepunkten für unseren inneren und äusseren Blick, für die Ermüdbarkeiten unserer Auffassungen und unserer Tätigkeiten.

Diese beiden Kategorien, als Wirklichkeiten und als Ideale, stehen in dauerndem Kampf.

Denn alle Form bedeutet Verendlichung, Abschluss, Grenze gegen alles andere; darum geht Kraft und Leidenschaft des Lebens fortwährend über seine Formungen hinaus, verlöscht ihre Grenzstriche, wirft uns über sie, die relativen und vorläufigen, nach aussen wie nach innen hin ins Unendliche, ins Grenzen-freie, d. h. ins Formlose.

Wie wir nun, dieses logischen Widerspruchs ungeachtet, die Mitgift des Unendlichen in die uns unentbehrliche Geformtheit unser selbst und unserer Welt hineinleiten und dabei doch den Reichtum und die Macht jener bewahren könnten; andererseits die Form in ihrer Ruhe und Strenge behaupten könnten, ohne dass sie Starrheit und Enge und nichts als blosse Endlichkeit werde — das ist wohl eine der Formulierungen des tiefsten Lebensproblemes überhaupt.

 Top