Jedes Kunstwerk, das die ganze, aber doch weiterflutende Lebensintensität seines Schöpfers in sich aufnimmt, jedes Dogma einer irgendwie vertiefteren Religion, jede sittliche Norm, die unseren praktischen Kräften ein umfassendstes und höchstes Ziel gibt, jeder echte philosophische Grundbegriff ist je eine Art, die Unendlichkeit von Welt und Leben in eine Form zu fassen, den Widerspruch zwischen dem ewig Weiterschreitenden und Unerschöpflichen des Daseins auf der einen Seite und dem Festen, Anschaulichen, zur Form Verendlichten auf der anderen irgendwie zu lösen.

Die Goethesche Jugend nun legt — ihrer Grundintention nach — allen Ton auf die strömende Unendlichkeit des Lebens und wird darüber so und so oft formlos, zugegeben selbst, dass Selbstbeherrschung, Zusammengefasstheit, Anschaulichkeit bei ihm von vornherein stark genug waren, um es zu der Alleinherrschaft des ungeformten Seins, wie in Sturm und Drang, nicht kommen zu lassen.

Aber die unruhigen Pendelungen seines Lebens, seine eigene Charakterisierung dieser Epoche als einer »sehnsüchtigen«, die Gedichte vom Typus »Wandrers Sturmlied«, die Leidenschaft für Shakespeare, der Stil der Briefe an Kestners und Auguste v. Stolberg, die Opposition gegen alle Schematik und einengende Überlieferung — alles dies zeigt, wie der Rhythmus seiner Innerlichkeit ein fortwährendes Überschreiten von Grenzen, Zerbrechen von Formen, Sich-Hingeben an das als unendlich empfundene Leben war.

Um die Mitte des ersten Weimarer Jahrzehnts sind die ersten Schatten der Grenze in diese innere Unendlichkeit gefallen: »Ach Lotte«, schreibt er, »was kann der Mensch! Und was könnte der Mensch!« Und wenn er, wenige Monate vorher, schreibt, dass er »immer noch im Unmöglichen eine Laufbahn vor sich sieht«, so geschieht es mit einem gewissen Ton von Verwunderung.

Wer nur aus dem subjektiv Wirklichen heraus lebt, wie die Jugend, der kommt leicht in das objektiv Unmögliche.

Vom Subjekt von sich aus gibt es keine Grenze im Objektiven, es fühlt sich eigentlich allmächtig und nur zufällig begrenzt.

Und wenn dann sein hohes Alter, als Resultat lebenslanger Versenkung in das Objektive, die Lebensintention, vom Metaphysischen bis in das Äusserlichst-Praktische hin, auf das »Mögliche« beschränkt — so sind jene Äusserungen, in denen das Unmöglich-Unendliche nur noch in einer Art ideeller Wirklichkeit schwebt, doch schon das Präludium dazu.

— Gilt jenes Unendliche nun, wie wir es wollten, als das Ungeformte, Gestaltlose, so schob zunächst die neue, im Zeichen der Klassik stehende Periode den Akzent auf die Form; in Italien noch nicht so, dass irgendein Übergewicht dieser oder eine Feindseligkeit der Prinzipien bemerkbar wäre.

Dazu lässt es der unmittelbare, über alle Grenzen hin mächtige Lebensstrom, den seine Jugend genährt hatte, nicht kommen.

Goethes italienische Zeit gehört zu den letzten Vollkommenheiten, zu denen es die Menschheit gebracht hat, weil sie einen Gleichungs- oder Einheitspunkt jener grossen Antinomie darstellt: hier fing sich die gefühlte Unendlichkeit, Grenzunbewusstheit eines Lebens in Formen, anschauliche und dichterische Festigkeiten und plastische Gestalten, dauernde und geschlossene Maximen; und das Leben wurde, wenn der paradoxe Ausdruck gestattet ist, nicht weniger unendlich, weil es in Formen, d. h. in Endlichkeiten Platz fand, und die Formen wurden dadurch nicht gelockerter, nicht unplastischer, dem spezifischen Wert der Form als solcher nicht untreuer, weil sie jene Flutung des Lebens, die immer Überflutung war, in sich aufnahmen.

Von hier gesehen ist der italienische Aufenthalt noch einmal ein Zenith des Goetheschen Lebens.

Vielleicht ist Iphigenie hiervon der vollkommenste Ausdruck.

Hier ist, zumindest in den beiden Hauptfiguren, die grenzenlose Fülle des Lebens, des Gefühles, der Leidenschaft; und sie wird von einer Schönheit und Geschlossenheit innerer und äusserer Form aufgenommen, ohne sich in ihr zu verlieren, so dass man die tiefe, vitale Gegnerschaft beider Prinzipien — in der Jugend und Alter Goethes zusammenstossen — wie selbstverständlich als Harmonie hört.

In mehr als einer Hinsicht bezeichnet der Tasso den Schritt, der über diesen Gleichungspunkt hinaus zum Übergewicht der Form führt.

In Tasso selbst zwar ist noch das Leben in seiner ganzen Unendlichkeit, in dem an sich formlosen Drängen seiner Dynamik.

Aber die Welt bietet ihm jetzt keine Form, in die es sich fassen, an der es sich beruhigen könnte, sondern Tasso steht der fest geformten Welt gegenüber, mag diese Formung in dem Palastgesetz von Belriguardo, in der starren Gefügtheit des Antonio-Charakters, oder in dem »Geziemenden« bestehen, das die Prinzessin allein für erlaubt hält.

Tasso ist tatsächlich nur »die sturmbewegte Welle« und muss an der Unnachgiebigkeit der Formen scheitern.

Schon der künstlerisch-stilistische Ausdruck symbolisiert dies: was soll er, in und unter dessen Rede eine ins Unendliche, Masslose drängende Leidenschaft flutet, mit diesen Menschen anfangen, die fortwährend in geschlossenen Sentenzen reden? Es fehlt ja auch in der Iphigenie schon nicht an der scharfen Dialektik logischer Gegenreden; aber noch hält die Herzenswärme, die das Ganze überströmt und sich in den Hauptfiguren sammelt, die Gegensätze zusammen, noch ist das Gefühl mit dem Praktisch-Ethischen und dem Sentenziösen in Gleichgewicht und Einheit, während es im Tasso auseinanderbricht.

Die grosse Krisis von Goethes Leben setzt hier noch einmal die Gegensätze hart gegeneinander, aber die Ohnmacht der blossen Lebensintensität, des alle Grenzen überspülenden, in seiner Geschmolzenheit ungeformten Fühlens ist entschieden: das Praktisch-Normative, wie es von Antonio repräsentiert ist, und das Weisheitshafte, das in dem sentenziösen Wesen der anderen Gestalten dominiert, hat den Sieg davongetragen, und dieser Sieg wird schliesslich auch von Tasso selbst als der gerechte anerkannt.

Immerhin, es war doch noch ein Kampf, die jugendhafte Lebensintention (gerade die Jugend Tassos wird so oft betont!) steht immerhin nicht ohne Kraft und Recht, wenn auch nicht mit dem entscheidenden, dem andern grossen Lebensprinzip gegenüber.

In der Natürlichen Tochter aber ist der Sieg der Form von vornherein festgestellt, mag man den Inhalt des Stückes in subjektiver oder in objektiver Hinsicht betrachten.

Nicht als ob es ihm an innerem Leben fehlte, wie man es ihm oft zu Unrecht vorgeworfen hat.

Aber das Leben führt hier nicht mehr sein autonomes Dasein als Gefühl, dem sich die Formen möglicher Existenz durch eine glückliche Harmonie fügen, wie in der Iphigenie, oder das mächtig und doch ohnmächtig sie über- schwillt, wie im Tasso.

Sondern das Leben will überhaupt nicht anders als in den festen sozialen Geprägtheiten verlaufen und die ganze Frage ist nur, ob in dieser oder in jener.

Hier ist nichts von einer Unendlichkeit um die Menschen herum (wie es wundervoll in der tief religiösen, stets auf das Göttliche hin gerichteten Wesensart Iphigenies und in dem von sich aus zu ewiger Unbefriedigtheit verurteilten Charakter Tassos angedeutet ist), und die tiefen Gegensätze der Unendlichkeit und der Form können deshalb weder das unbegreifliche Glück ihrer Versöhnung feiern, noch ihre Macht in ihrem Aneinanderprall zeigen; die Tragödie liegt nur darin, dass die von den objektiven, sozusagen historischen Schicksalsmächten der Heldin auferlegte Lebensform der von ihr ersehnten — die aber nicht weniger eine objektive, historisch geprägte ist — entgegengesetzt ist.

Auch die Kunstform selbst lässt diese Wendung erkennen: während in Iphigenie und Tasso noch lyrische Töne von subjektiver Unmittelbarkeit klingen, ist die Natürliche Tochter vielmehr bildhaft, an die Stelle der Farbigkeit, die in sich immer etwas Grenzunbestimmtes, weil rein Intensives hat, ist der lineare Stil getreten.

Ersichtlich ist dieser Prozess zwischen dem Unendlichen und der Form nur ein sozusagen abstrakterer Ausdruck für jene Entwicklung, in der der Lebensakzent des Gefühles von dem des Erkennens und des Handelns abgelöst wurde.

Denn das Gefühl untersteht an und für sich nicht dem Prinzip der Form, sondern eher dem der Farbe und der Intensität, es hat sozusagen eine immanente Masslosigkeit, der vielleicht nur durch ein Versagen der Kraft oder durch Hemmungen von andren Seiten her die Grenzen kommen.

Alles Erkennen und alles Handeln dagegen ist von vornherein auf Formen gestellt, auf eine Geprägtheit und Festigkeit, die mit dem Sinne, wenn auch nicht immer mit der Wirklichkeit dieser Energien gegeben ist.

Goethe war zu der Zeit, als ihm alles auf den Gewinn einer Form für Leben und Anschauen ankam, die Klassik als das Muster aller Form entgegengetreten.

Kein Wunder, wenn er in dem Rausch dieser Entdeckung nicht gewahr wurde, dass es Inhalte gibt, die sich diesem Stil nicht fügen.

Aber die geistesgeschichtliche Folge dieser Irrung Goethes ist, dass es vielen von uns noch heute scheint, als hätte, was nicht in den klassischen Stil eingeht, eigentlich überhaupt keine Form.

Mit dem steigenden Alter tritt Goethes Verehrung der »Form« immer entschiedener hervor, bis zur Formalistik hin.

Immer wichtiger werden ihm, über die Individuen hinweg, ihre Verbindungen untereinander, die doch einerseits nur Formungen aus dem Menschen- und Interessenmaterial sind, andrerseits dem Einzelnen durch seine Begrenzung gegen andere und Anweisung einer bestimmten Stelle eine sonst unerreichbare Form geben; immer höher schätzt er die »Zweckmässigkeit«, und zwar als eine formale Struktur der praktischen Welt, da er oft nicht angibt, zu welchem Zweck denn das in dieser Form verlaufende Handeln dienen soll; immer unbedingter notwendig erscheint ihm die »Ordnung«, so dass er geradezu verkündet, er wolle lieber eine Ungerechtigkeit, als eine Unordnung dulden! Und die Natur selbst geht jetzt — für ihn selbstverständlich — dem parallel:

Wenn ihr Bäume pflanzt, so sei's in Reihen, Denn sie lässt Geordnetes gedeihen.

Was an seinen späteren Aussprüchen über politische und soziale Dinge so oft hart konservativ, ja reaktionär ist, hat mit Klassenegoismus nichts zu tun.

Es ruht einerseits auf der Tendenz, dem Positiven des Lebens Raum zu machen.

In allem Revolutionären, Anarchistischen, Übereilten sah er Hemmungen, Negativitäten, Kräfteverbrauch, der nur an das Zerstören gewandt würde.

Er glaubte die Ordnung als Bedingung der positiven Lebensleistungen zu brauchen.

Denn, andrerseits nun, ist es in jenen Äusserungen das kosmische Prinzip der Ordnung und formalen Gefugtheit, das er in die menschlichen Verhältnisse fortsetzt.

Dass er dies nur durch eine streng hierarchische und aristokratisierende Technik für herstellbar hält, das ist freilich diskutabel und zeitgeschichtlich bedingt, aber es trifft nicht das letzte gesinnungsmässige Motiv.

So gilt auch jetzt seine Polemik der rein geistigen Ungeformtheit, Ungeordnetheit, sowohl nach der Vergangenheit (auch der eigenen) hin, wie für die Gegenwart; das Chaotische ist ihm der Feind schlechthin.

In seinen sechziger Jahren bezeichnet er es als die »Hauptkrankheit« der Rousseauperiode, dass »Staat und Sitte, Kunst und Talent mit einem namenlosen Wesen, das man aber Natur nannte, in einen Brei gerührt werden sollte«.

Aber er kennt sehr wohl die Bedeutung dieser Epoche für sich selbst, denn er fährt fort: »Ward ich nicht auch von dieser Epidemie ergriffen, und war sie nicht wohltätig schuld an der Entwicklung meines Wesens, die mir jetzt auf keine andere Weise denkbar ist?« Und ungefähr gleichzeitig spricht er sich über die im Geistesleben herrschende Phantastik aus: »Das will Alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlichen Schönheiten im Einzelnen [was fehlt, ist also die Formung des Ganzen].

Für uns alte Leute ist es zum Tollwerden, wenn wir da um uns herum die Welt müssen vermodern und in die Elemente müssen zurückkehren sehen, dass, weiss Gott wann, ein Neues daraus entstehe.« Diese ethisch-vitale Wertung der Form steht ersichtlich in tiefem Zusammenhang mit dem früher besprochenen Übergewicht, das seine höheren Jahre der Kunstform gegenüber dem Kunstinhalt beilegen — bis zu dem Grade, dass ihm die Bedeutsamkeit des Gegenstandes sogar als Hindernis für die Vollendung des Kunstwerks als solchen erschien.

Der Eigenwert des Gegenstandes schlägt gewissermassen über die Grenzen hinaus, die ihm die artistische Formung auferlegt; nach ihrer eigenen Bedeutung stehen die Gegenstände in den kontinuierlichen, unendlichen Zusammenhängen der Realität, die Kunst schneidet sie heraus zu einem eingerahmten Bilde, formt sie, indem sie ihnen Grenzen gibt, die ihrem natürlichen Sein und seiner Werterstreckung fehlen.

Auch die Reinheit seines späteren Artistentums hat so in der Metaphysik seiner Altersperiode ihre Grundlage.

Auch hierin zeigt er sich gewissermassen als der typische Mensch; nur dass solche Wendungen, die sonst einem Sinken der Kraft parallel gehen, bei ihm etwas durchaus Positives sind, Stadien, die nicht aus einem Verlust, sondern aus der nur ihre Äusserungen wechselnden organischen Entwicklung der Energie hervorgehen.

Im allgemeinen fragt die Jugend nicht viel nach Formen, weil sie aus ihrem blossen Kraftvorrat heraus jeder auftretenden Situation und Forderung meint genügen zu können; das Alter sucht festgeprägte, ideell oder historisch vorbestehende Formen, weil sie ihm den Aufwand immer neuen Einsetzens der Kräfte, zweifelhafter Versuche, absolut eigner Verantwortungen ersparen.

Für Goethe aber ist es nur eine neue prinzipielle Gestaltung, in der seine Kraft auftritt — ungefähr wie die Hingebung und Demut gegen das Göttliche, die bei Unzähligen nur aus eigener Schwäche und Haltlosigkeit hervorgeht, bei dem wahrhaft religiösen Menschen gerade die Ausformung seiner höchsten und zentralsten Kräfte ist.

Diese Verteilung der kategorialen Akzente an Unendlichkeit und Form auf Jugend und Alter geht neben anderem auch auf die Verschiedenheit des Verhältnisses zurück, das die Einzelheiten des Lebens in diesem und in jenem Stadium zu seinem Gesamtquantum besitzen.

Was die Jugend auch erlebe — im Hinblick auf die Zukunftsfülle, die sie noch vor sich hat, ist sein Mass gar nicht abzuschätzen, das Leben ist so unabsehlich, wird noch so unendlich Vieles bringen, dass die Bedeutung der einzelnen Leistung oder Erfahrung eigentlich quantite negligeable wird, wie jede noch so grosse endliche Grösse im Verhältnis zum Unendlichen sich der Null nähert.

Indem das Alter aber den abgeschlossenen Horizont vor sich hat, den Grenzstrich des Lebens mit annähernder Sicherheit setzt, wird der Nenner des Bruches, dessen Zähler das einzelne, in seiner Bedeutung zu fixierende Erlebnis bildet, eine endliche Grösse und mit ihm der Bruch, das Erlebnis selbst.

Lust und Leid, Leistung und Versagen der Leistung ist jetzt ein angebbarer, aliquoter Teil des Lebensganzen, man hat damit soundso vieles definitiv hinter sich gebracht, während eben derselbe in dem Unendlichen, das noch vor der Jugend liegt, als ein gar nicht recht bestimmbarer Teil verschwindet.

Auf diese unterschiedenen Relationen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen des Lebens braucht nur hingewiesen zu werden, damit sofort hervorleuchte, dass auch auf sie die funktionelle Unendlichkeit als Lebensprinzip der Jugend und die feste, zur Anordnung drängende Geformtheit als das des Alters zurückgeht.

Aber ebenso wird gerade an diesem Moment klar, wie hier nur ein Gestaltwechsel des Lebens vorzuliegen braucht, der keineswegs auf einer Änderung des Kraftmasses, sondern nur des Blickes über das Kraftmass beruht.

Dennoch liegt vielleicht hier die Erklärung für einen eigentümlichen negativen Zug in Goethes Gesamtbild.

Ich habe es in diesen Blättern oft genug als die umfassendste Formel seiner Produktion hingestellt, dass zwischen seinem natürlichen, vom terminus a quo her wirkenden Triebe zum Schaffen, Bilden, Handeln — und den wertentscheidenden Normen für das Geschaffene und Erwirkte eine tiefere, selbstverständlichere Harmonie herrschte, als die Menschen sie sonst zu besitzen pflegen, dass er mehr als andere nur seinen unmittelbaren Impulsen, dem, was seiner Natur gemäss war, zu folgen brauchte, damit das theoretisch, dichterisch, sittlich Normgemässe sich ergäbe.

Dieses: dass er auch sein Schwierigstes und Vollkommenstes, nach seinem eigenen Ausdruck, »spielend« und als »Liebhaber« geschaffen habe — gilt sicher für den Goethe, auf den es ankommt, für die »Idee Goethe«.

Allein der Schluss aus dieser Harmonie zwischen der subjektiven Lebensäusserung und der Objektivität der Dinge und Normen: dass all sein Geschaffenes objektiv vollendet wäre — ist durch die Tatsachen keineswegs bestätigt.

Wir wissen sogar von keinem der grossen Schöpfer, dass sein Werk soviel Minderwertiges, soviel theoretisch und künstlerisch Unzulängliches, in seiner Unzulänglichkeit kaum Begreifliches enthielte.

Die bildenden Künstler höchsten Ranges scheiden hier für die Vergleichung von vornherein aus, weil bei ihnen, gemäss der Sonderart ihrer Kunst, schon auf den blossen Duktus der Hand ein solches Mass ihrer Genialität entfällt, dass hier das schlechthin Wertlose und »Gottverlassene« sozusagen a priori ausgeschlossen ist, jedenfalls nur sehr selten vorkommen kann.

Aber obgleich Dante und Shakespeare, Bach und Beethoven die Höhe derjenigen Leistungen, die ihren künstlerischen Rang überhaupt bestimmen, keineswegs mit jedem Werk und Werkteil erreichen, so ist doch das Mass der dahinter zurückbleibenden bei keinem annähernd so gross wie bei Goethe.

Das Quantum von Unpoesie und fahriger Banalität, das er etwa nur in den Theaterreden, den Gedichten an Personen, den Revolutionsdramen geleistet hat, gehört zu den erstaunlichsten Vorkommnissen aller Geistesgeschichte.

Gewiss leidet der Rang, den er als Einheit und Ganzheit einnimmt, darunter nicht, denn dieser wird bei dem Künstler nicht von einem Durchschnitt seiner Leistungen, sondern — mit leicht ersichtlichen Vorbehalten — ausschliesslich durch die Höhe seiner höchsten bestimmt; alles, was erheblich unter dieser bleibt, ist dafür so gleichgültig, wie wenn es überhaupt nicht produziert wäre (es sei denn, dass es als »schlechtes Beispiel« wirkte).

Immerhin stellen diese Wertausfalls-Erscheinungen bei Goethe ein Rätsel, für das mir eine ganz befriedigende Lösung fehlt.

Der Gesichtspunkt, unter den ich es am Anfang dieser Blätter rückte, gibt wohl jenen negativen Werten sozusagen als Lebenstatsachen eine mögliche Stelle.

Allein Goethe lebte doch nicht nur den subjektiven Lebensprozess, der solche Tiefstände durchmachen mochte, sondern er stand dessen Erzeugnissen zugleich oder wenigstens nachher als Urteilender gegenüber; und das Versagen dieser Hemmung, mit der der Mensch sich gleichsam über sein eignes Leben stellt, wird durch die Schwankungen dieses Lebens selbst nicht hinreichend erklärt.

Man könnte allenfalls an eine Art von souveräner Lässigkeit denken, die auf beliebige Anregung hin irgendetwas hinstellt, bloss um sich mit dieser abzufinden, allenfalls mit einer gewissen Ironie gegen das Publikum und gegen sich selbst.

Allein eine solche Begründung mag hier und da zutreffen, dass sie für den ganzen Kreis der fraglichen Produktionen gelte, wird schon durch dessen ausserordentlichen Umfang ausgeschlossen.

Dagegen gibt die hochgestiegene Wertung der Form als solcher vielleicht einen Hinweis, insbesondere da jene eigentümlich leeren, gewichtslosen Erzeugnisse sich fast nur in seinem höheren Alter finden — während gleichzeitige bedeutsame Betätigungen die Begründung aus blosser Senilität nicht aufkommen lassen.

Er hatte schliesslich ein so starkes Bedürfnis, dem subjektiven Leben und den objektiven Daseinsinhalten überhaupt Form zu geben, jedes einzelne in einen bestimmenden Zusammenhang ästhetisch-formaler oder theoretisch-allgemeiner Art einzustellen, auch das Minimalste irgendwie zu gestalten, dass darüber die überformale Bedeutung der Inhalte so und so oft seinem Interesse entschwand.

Man bedenke dazu das durchaus Hierhergehörige, an sich nicht weniger Rätselhafte: die unsägliche Toleranz, die er im Alter für ganz minderwertige Literatur bewies.

Ein grosser französischer Dichter unserer Zeit sagte einmal gegenüber mittelmässigen Gedichten: Faire des vers, c'est toujours tres bien — und dies war keineswegs ironisch gemeint.

Sondern es ist das Interesse, das der schöpferische Mensch oft an der Gestaltung der Weltmaterie nach seinen Schöpfungsformen, nur als Formen, besitzt, und das der bloss Geniessende nicht leicht nachfühlen kann.

Es scheint mir nun höchst bezeichnend, dass Goethes Interesse an künstlerischer und geistiger Formung sogleich zum Gegenteil von Toleranz führt, wenn er jene andere Vitalidee wittert, von der aus er sich zu der der Form und Ordnung hinüberentwickelt hatte: Prinzip und Intention des Unendlichen.

In durchaus verschiedenen, offenen und versteckteren Modifikationen herrscht dies in Jean Paul, in Kleist, in Hölderlin.

Mag das Masslose, Grenzenüberspringende bei dem einen äusserlich sichtbar, bei dem andern nur innerste Lebensbestrebung sein: von Goethes Altersposition aus gesehen fiel die Wesensentscheidung dieser drei auf die Seite des Unendlichen, statt auf die der Formen, und gerade ihre Bedeutung musste Goethes Abneigung noch entschiedener machen — während die inhaltliche Unbedeutendheit aller möglichen kleinen Schriftsteller gerade das sozusagen Formale der geistigen Lebensformung relativ stark hervortreten liess.

Eben die Toleranz, die Goethe gegen diese zeigte, hatte er auch gegen sich selbst.

Er war zufrieden, mit jeder von jenen zahllosen Gelegenheitsproduktionen immer einen Moment dem ins Unendliche fliessenden, in diese Unendlichkeit alle Grenzbestimmtheit der Inhalte auflösenden Leben zu entreissen.

Man mag das immerhin als eine Hypertrophie des Formungssinnes bezeichnen, da es fraglich bleibt, ob die Form einen andern definitiven Sinn haben kann, als die Vollendung jener Lebenssubstanz, die in letzter Instanz doch als unendliche wird gelten müssen.

Dies steht für uns nicht zur sachlichen Entscheidung.

Aber wie er lieber eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung ertragen wollte — während es doch nicht weniger fraglich ist, ob nicht alle Ordnung ihren schliesslichen Zweck in der Gerechtigkeit hat — so wollte er, so paradox dies klingen mag, von einem gewissen Alter an lieber ein unbedeutendes Gedicht machen als gar keines, wenn ein Moment des Lebens sich solcher Formungsmöglichkeit bot — und es ist nicht unmöglich, dass auch sein fortwährendes Betonen, dass gehandelt, gewirkt werden muss, ohne dass er doch immer den Endwert und Inhaltssinn solcher Tätigkeitsforderung angäbe, dem gleichen Streben nach einer begrenzenden, irgendwie ordnenden, formenden Bearbeitung des unendlichen Weltstoffes zugehört.

Und nun endlich komme ich auf den von vielen Seiten angedeuteten Punkt, auf den die Einstellung der Goetheschen Entwicklungsperioden unter die Kategorie der Form führen sollte.

Neben aller Herrschaft dieser Kategorie nämlich zeigen sich in seinem hohen Alter Spuren eines weiteren geistigen Entwicklungsstadiums, das ganz fragmentarisch geblieben ist, das aber nur als ein Durchbrechen und Überwinden des Formprinzips zu bezeichnen ist.

Das entschiedenste Symptom dafür sind die Vergewaltigungen des sprachgebräuchlichen Gefüges, insbesondere im zweiten Teil des Faust.

Dahin gehören schon die Wortzusammenziehungen: Glanzgewimmel, Lebestrahlen, Pappelzitterzweige, Gemeindrang.

Noch entschiedener, wo die einzelnen Ausdrücke nur asyndetisch hingeworfen scheinen: Worte die wahren, Äther im klaren, ewigen Scharen, überall Tag.

In noch weiterem Bezirk: das logisch gar nicht organisierbare Chaos der klassischen Walpurgisnacht.

In diesen Erscheinungen tritt das Spezifische der Alterskunst hervor, mit der manche der allergrössten Künstler eine mit allem früheren unvergleichbare Ausdrucksstufe gewinnen: Michelangelo vor allem mit der Pietä Rondanini und den späten Gedichten und Frans Hals mit den Regentinnen des Waisenhauses, sogar Tizian in den Greisenwerken, am unzweideutigsten Rembrandt mit den späten Radierungen und Porträts, Beethoven mit den letzten Sonaten (insbesondere den beiden Cellosonaten) und Quartetten — bis zum Parsifal und »Wenn wir Toten erwachen«.

Ich versuche, dem Gemeinsamen, in alledem Fühlbaren, begrifflichen Ausdruck zu geben.

Man hat diesen Altersstil als Impressionismus bezeichnet, als sei den Greisen die Kraft, ein Ganzes einheitlich formend zusammenzuhalten, verlorengegangen und als hätte es nur zu den Aufgipfelungen einzelner Momente zugereicht, die subjektiv blieben; denn sie wären eben nicht zu einer für sich bestehenden Form gelangt, die nur als eine ununterbrochene, wechselwirkende Verbundenheit der einzelnen Impulse, Ideen, Schauungen zustande käme.

Dies erscheint mir ganz oberflächlich.

Die Tatsache selbst ist ja unbestreitbar: in all solchen Werken fühlen wir einen in starken Flutwellen hervorbrechenden Subjektivismus und ein Zerbrechen synthetischer Ganzheitsformen.

Die Frage ist nur, in welchem Sinn hier das Subjekt und in welchem die Form verstanden werden muss.

Zunächst: die Formen, die die Alterskunst vernachlässigt, sind die historisch geprägten.

Welche malerischen Mittel, welcher musikalische Satzbau und welche Harmonik, welche Relation zwischen poetischem Ausdruck und gemeintem Inhalt, welche syntaktische Struktur und welcher logische Zusammenhang sonst als der normative anerkannt ist — darum ist die Alterskunst der grossen Künstler sehr unbekümmert.

Unleugbar aber geht sie noch weiter und lässt nicht nur gegen die in der bisherigen Entwicklung vorliegenden Formimperative, sondern allerdings auch gegen das Prinzip der Form überhaupt eine gewisse Sorglosigkeit, ja vielleicht Verneinung und Gegnerschaft in sich aufkommen.

Was sie im letzten Grunde will, entzieht sich nicht nur dieser und jener Form, sondern vielleicht dem Ausdruck, sozusagen, in der Form der Form.

Nun ist Form, insoweit vom Geist Aufgefasstes, vom Geist Gestaltetes in Frage steht, immer ein Prinzip der Objektivität und darin liegt ihre metaphysische Bedeutung in der Ethik wie in der Kunst.

Wo wir einem Inhalt eine Form zusprechen oder verleihen, hat sie, jenseits dieser Verwirklichung, eine ideelle, mindestens zeitlose Präexistenz; indem sie »geschaffen« wird, folgt der Schöpfer einem in innerer Anschauung, innerem Gegebensein Vorgezeichneten — wie schon der griechische metaphysische Mythus den Weltschöpfer auf die ewigen Ideen oder Formen hinblicken liess, um nach ihnen den Dingen ihre Gestalten zu geben.

Jedes Inhaltsstück des Daseins, inbegriffen die seelischen Vorgänge als Realitäten, ist einzig, eben dieses kann nicht zweimal existieren, es ist schlechthin nur es selbst an dieser Stelle von Raum und Zeit und darum kann man jedem realen Inhalte metaphysische Subjektivität zusprechen: er kann über dieses, in seinen Grenzen beschlossene Für-sich-Sein nicht hinaus.

Der Stoff des Daseins, das seinem Begriffe nach Formlose und deshalb ein Indefinitum und Infinitum, kann sowohl als Ganzes wie in jedem Stück schlechthin nur einmal da sein; die Form umgekehrt, das Begrenzte und Begrenzende, ist unbegrenzte Male zu realisieren.

Daher ist sie das Objektive, weil sie über jede einzelne ihrer Verwirklichungen, auch wenn sie zum ersten und zum letzten Male nur an dieser aufträte, dennoch hinausgreift, weil es für sie in ihrem ideellen Bestande gleichgültig ist, ob sie an diesem oder an jenem, an einem oder an tausend Stücken des Stoffes verwirklicht wird.

Dies ist ihre Objektivität, dies macht jede konkrete Existenz ihr gegenüber zu etwas Zufälligem und auf sich selbst Angewiesenem, Subjektivem; und solche Existenz wird in dem Masse objektiv, in dem man eben an ihr die Form spürt.

Je mehr unser Handeln, Denken, Gestalten sich der gegebenen Unmittelbarkeit, der blossen Stofflichkeit entringt, um von Form durchdrungen zu werden, desto objektiver steht es da, desto mehr teilhabend an jener ideellen Freiheit des Formprinzips von der verfliessenden Einmaligkeit subjektiven Daseins.

Dies ist der Grund, weshalb die Alterskunst, in deren Souveränität gegenüber den historisch geprägten Formen sich eine Abweisung des Formprinzips überhaupt versteckt, der blossen Subjektivität anheimzufallen schien.

Aber vielleicht steht hier eine Überwindung des ganzen Gegensatzes in Frage; vielleicht ist das Subjekt, das hier heraustritt, gar nicht mehr das zufällige, vereinzelte, erst durch Formung zu erlösende, wie es in der Jugend der Fall ist.

In ihr bedarf die subjektivische Formlosigkeit der Aufnahme in eine historisch oder ideell vorbestehende Form, durch die sie zugunsten einer Objektivität entwickelt wird.

Im Alter aber hat der grosse gestaltende Mensch — ich spreche hier natürlich von dem reinen Prinzip und Ideal — die Form in sich und an sich, die Form, die jetzt schlechthin nur seine eigene ist; mit der Vergleichgültigung alles dessen, was die Bestimmtheiten in Zeit und Raum uns innerlich und äusserlich anhängen, hat sein Subjekt sozusagen seine Subjektivität abgestreift — das »stufenweise Zurücktreten aus der Erscheinung«, Goethes schon einmal angeführte Definition des Alters.

Jetzt braucht der Mensch keinen umfassenden Rahmen mehr, um die Einzelheiten seiner Äusserungen und Betätigungen zu spannen, weil jede einzelne schon die ganze Lebensweite, die in diesem Menschen wirklich und ihm möglich ist, unmittelbar darstellt.

Es ist also gerade das Gegenteil von Impressionismus, da dieser ein Erlebnis, eine Relation zwischen dem Subjekt und dem, was in irgendeinem Sinne ausserhalb seiner ist, nur von der Einseitigkeit des Subjekts selbst her vorträgt — während hier die absolute Verinnerlichung vorliegt, mit der das Subjekt reine, objektiv geistige Existenz wird, so dass ein Äusseres ihm sozusagen gar nicht mehr existiert.

Da nun aber auch der alte Mensch schliesslich in der Welt lebt, so fern ihm auch ihre Einzelheiten und Äusserlichkeiten rücken mögen, da er als Künstler schliesslich von ihr und den Dingen in ihr reden muss — so ist begreiflich, dass seine Rede, ja sein ganzes geistiges Dasein symbolisch wird; d.h. dass er die Dinge nicht mehr in ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Eigenexistenz ergreifen und benennen will, sondern nur insoweit die Pulsschläge seines mit sich allein lebenden, sich selbst Welt seienden Innern Zeichen für sie sein können, oder sie selbst Vertretungen und Gleichnisse jener.

Goethe spricht, wie ich schon anführte, im hohen Alter einmal von der Äquivalenz verschiedenster Lebensinhalte und begründet das damit, dass er »all sein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen« habe.

Aber darin offenbart sich sein, mit dem Alter immer steigender, oft um hohe Preise durchgesetzter Wille zur Einheit des Lebens.

Denn vielleicht ist jenes symbolische Erfassen der Lebensinhalte überhaupt unser einziges Mittel, das Leben einigermassen als eine Einheit vorzustellen.

Unser »Wirken und Leisten« ist in seinen Zielen und Werten, seinen Zufälligkeiten und Notwendigkeiten, seinem Erreichen und Verfehlen etwas so unendlich Zersplittertes, Zusammenhangloses, in sich Divergentes, dass das Leben, auf seine unmittelbaren Inhalte hin angesehn, als eine wüste Vielheit erscheint; erst wenn man sich entschliesst, alles einzelne Tun nur als ein Gleichnis anzusehen, unsere praktische Existenz, wie sie sich empirisch bietet, als ein blosses Symbol einer tieferen, eigentlich wirksamen Realität -- so ist darin die Möglichkeit einer Einheit gewonnen, einer verborgenen, ungespaltenen Wurzel des Lebens, die all jene auseinanderstrebenden Einzelbewährungen aus sich entlässt.

Eben damit aber ist der mystische Charakter dieser Alterssymbolik dargetan.

Goethe hat einmal, mit deutlicher Beziehung auf sich selbst, »Quietismus« und »Mystik« als die Wesenszüge des Greisenalters bezeichnet.

Unter Mystik versteht er hier sicherlich das, was ich das Symbolische nannte; es ist der Chorus mysticus, der den Symbolcharakter aller gegebenen Welt verkündet: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.« Goethe hat mit jener Doppelqualität die Altersperiode — insofern sich eben Elemente ihrer spezifisch von seinen früheren Existenzformen abheben — unzweideutig bezeichnet.

Dieser »Quietismus« ist nichts anderes als jenes »Zurückgetretensein aus der Erscheinung«, die In-sich-Existenz des Subjekts, das jetzt einen ganz anderen und nicht mehr den relativen Sinn hat, als da es noch ein Objekt sich gegenüber hatte.

Er ist jetzt selbst alles, was er von Welt sein und was er von Welt wissen kann und hat deshalb zu der sogenannten Welt nur noch das Verhältnis des »Symbolischen«.

Zwischen diesem Subjekt und der objektiven »Form« entfällt damit der ganze Gegensatz.

Denn die Objektivierung, die sonst die irgendwie präexistierende, jenseits des Subjekts, wenn auch in seinen eigenen Schöpfungen bestehende Form diesem Subjekt zutrug, die hat es, nun von sich selbst und zu sich selbst erlöst, in der Unmittelbarkeit seines Lebens und Sich- Äusserns.

Es ist fast schon zu viel, hier von der »eigenen Form« zu sprechen, die die vollendete Altersexistenz und Alterskunst zeigte.

Ihrer reinen, wenngleich ersichtlich nie empirisch ganz realisierten Idee und Intention nach hat dieses Leben überhaupt keine »Form« mehr, die von dem Stoff seiner Subjektivität zu scheiden wäre: das ganze Prinzip der Form ist gegenüber diesem schlechthin objektives Selbstsein gewordenen Subjekt belanglos.

In diesem Sinn kann man sagen, dass jene Formlosigkeiten, jener Zerfall der Synthese in Goethes hohem Alter das Anzeichen davon ist, dass seine grosse Lebensbestrebung: die Objektivation des Subjekts, sich in seinem höchsten Alter vor, wenn auch vielleicht nicht in einer neuen, geheimnisvoll absoluten Vollendungsstufe gesehen hat.

Ist hierdurch der Nerv der letzten Epoche Goetheschen Lebens, insoweit sie sich von den anderen unterscheidet, getroffen — obgleich sie ihr Unvergleichliches nur mit Andeutungen und Ansätzen in das Weiterleben dieser früheren mischt —, so verbindet sich gerade damit ein Aspekt für die Totalität dieses Lebens.

Es ist vielfach ausgesprochen worden, dass auch die wissenschaftlichen Theorien Goethes ebenso wie seine ganze Lebensauffassung, beides sowohl in dem Grossen und Bedeutenden wie in dem Zweifelhaften und Unwirksamen, von seinem Künstlertum bestimmt seien.

»Für's Ästhetische«, schreibt er in späterem Überblick, »bin ich eigentlich geboren.« Seine Art der Naturverehrung, die Überzeugtheit von dem sichtbaren Einwohnen der Idee in der Erscheinung, die »Anschaulichkeit« seines Denkens, die Bedeutung der »Form« in seinem Weltbild, die Leidenschaft für Harmonie und Abgerundetheit des theoretischen wie des praktischen Daseins — alles dies sind, namentlich in ihrem Zusammenkommen, Bestimmtheiten der seelischen Existenz nach dem Apriori des Künstlertums; es ist das »Urphänomen« zu seinen Lebensphänomenen, dass er Künstler ist.

Nun aber hat er selbst angedeutet, dass hinter den Urphänomenen, dem letzten für uns Ergreifbaren und Erforschlichen, noch irgendein Allerletztes steht, das sich allem Blick und Bezeichnung entzieht.

Und so nun hat das artistische Fundament und Funktionsgesetz seines Wesens noch etwas Tieferes hinter sich, eine nicht benennbare Wesenheit, die auch seine ganze künstlerisch bestimmte Erscheinung noch trägt und umgreift.

Natürlich ist dies nicht sein Privileg, sondern in eben diese Schicht streckt sich die letzte Realität jeder menschlichen Existenz.

Nur ist sie bei Goethe in besonderer Weise fühlbar, weil eben die Einzelheiten, die primären Phänomene seines Wesens schon zu einer Einheit, zu einem anschaulichen, sie alle tragenden oder durchdringenden Urphänomen — dem künstlerischen — zusammengehen, wie es bei den wenigsten anderen Menschen der Fall ist.

Er hat — gerade in und mittels der Spannung sowohl der gleichzeitigen wie der Entwicklungsgegensätze seiner Persönlichkeit — schon eine Einheit innerhalb des Empirischen, wie wir andern sie erst in der dunkeln Vorstellung jenes noumenalen Absoluten in uns suchen müssen.

Dadurch hebt sich bei ihm dasjenige, was überhaupt empirisch und aussagbar ist, von dem andern, das Geheimnis bleiben muss, reinlicher ab, als wo die unmittelbaren Einzelheiten grade in diesem zu konvergieren scheinen.

Die ganze Weite seiner Existenz, auch insoweit sie von dem Urphänomen des Künstlertums beherrscht scheint, wäre gar nicht möglich, wenn dieses selbst nicht die Ausstrahlung oder die Handhabe eines Höheren, Allgemeineren oder, wenn man will, tiefer Persönlichen gewesen wäre; innerhalb einer mehr empirischen und psychologischen Schicht mag man das so ausdrücken, dass der Künstler eine gewisse letzte Grösse auch rein als Künstler nicht erreicht, wenn er nicht mehr als bloss Künstler ist.

Zweifellos vertieft es das Goethesche Bild in der richtigen Richtung, wenn man alle Äusserungen seines Lebens, auch die intellektuellen, die ethischen, die rein personalen, auf den Generalnenner des Künstlertums zurückführt — aber die letzte Instanz ist damit noch nicht erreicht.

Nur dass diese freilich nicht in Begriffen zu fixieren, sondern nur in einer inneren, gefühlsmässigen Anschauung zu vergegenwärtigen ist.

Und zwar nicht nur wegen der transzendentalen Tiefe, in der dies Letzte der Persönlichkeit bei Goethe, wie bei allen Menschen überhaupt wohnt, sondern weil es sich bei ihm, dem unspezialistischsten aller Menschen, noch mehr als bei allen anderen gegen jede Benennung seiner Färbung wehrt, die unvermeidlich etwas Einseitiges und Exklusives wäre.

Deutlicher als gegenüber irgendwelcher sonstigen historischen Gestalt fühlen wir hier diese eigentümliche, noch wenig betrachtete Kategorie, die uns für jeden Lebenden, sobald wir ihn einigermassen kennen, bestimmend ist: das Allgemeine seiner Persönlichkeit, das aber nicht als Abstraktum aus seinen einzelnen Zügen und Betätigungen zu gewinnen ist, sondern eine Einheit, die nur einem unmittelbaren seelischen Kennen zugängig ist.

Es ist eine andere Wegerichtung, das Allgemeine über Einzelnem zu erfassen, als sie der begriffebildende Verstand geht.

Auch diesem versagen sich ja jene singulären Phänomene des Individuums nicht, und er führt z. B. bei Goethe zu dem Künstlerhaften, das wir als den gemeinsamen Zug aus seinen empirischen Mannigfaltigkeiten abstrahieren können.

Wie wir nun aber jeden uns näherstehenden Menschen jenseits solcher, noch so umfassender Angebbarkeiten »kennen«, in einer besonderen, nicht verstandesmässigen, nur erlebbaren Kategorie, gleich der Unverwechselbarkeit und gleichzeitigen Unbeschreibbarkeit seiner Gesichtszüge — so haben wir von Goethe, als dem grössten historischen Beispiel dieser Möglichkeit, eine Wesensanschauung, die nicht in seinen einzelnen Qualitäten und Leistungen aufgeht, auch nicht in ihrer Summe oder dem Allgemeinen, das wir aus ihnen begrifflich gewinnen könnten; und nun wirkt diese gerade in dem Eindruck jeder solchen Einzelheit mit, wie für den metaphysischen Menschen alle Einzelheiten des Gegebenen von der absoluten Seinseinheit begründet und durchdrungen sind, die nicht durch eine von ihnen benennbar oder durch Abstraktion aus ihnen gewinnbar ist.

Wer nicht hinter und in Goethe dem Dichter, Goethe dem soundso Lebenden, Goethe dem Forscher, Goethe dem Liebenden, Goethe dem Kulturschöpfer — dieses Personal-Allgemeine, dessen Einheit nicht eine aus Vielem zusammengesetzte ist, spürt, diese sozusagen formale Rhythmik und Dynamik, die nicht in der Relation zu der Welt des Vielfachen, sondern zu der »schweigend zu verehrenden« Einheit des Seins ihr Wesen hat — wer dieses nicht spürt, für den leistet Goethe nicht, was nur er leisten kann.

Ich glaube, von jeder Idolatrie für ihn frei zu sein; es mag stärkere, tiefere, anbetungswürdigere Existenzen und Leistungen gegeben haben, als die seinige.

Aber in jenem ist er, dem Grade nach, einzig: ich weiss von keinem Menschen, der den Nachlebenden mit dem, was doch schliesslich nur als seine einzelnen Lebensäusserungen dasteht, die Anschauung einer so hoch über all dies Einzelne erhabenen Einheit seines Seins überhaupt hinterlassen hätte.

Sucht man nun das diesem Höchsten und nur als Anschauung Erfassbaren Nächstgelegene, eben noch Beschreibbare auf, so begegnet man vielleicht einem noch Allgemeineren, die Persönlichkeit noch mehr nach ihrer Form Charakterisierenden, als dem Künstlertum.

Es erscheint als das vollkommenste Leben, wenn man nur aus dem geistigen Detumeszenztrieb heraus, aus dem Bedürfnis, das subjektive Leben zu äussern, existiert und sicher ist, damit das objektiv Wertvolle zu schaffen, das vor den bloss auf die Inhalte gehenden Kriterien bestehen kann.

Ich habe es oft ausgesprochen, dass ich hierin die durchgehende Formel des Goetheschen Lebens sehe, und wenn diese letzten Seiten zeigten, dass er in der Jugend den subjektiven Prozess, im Alter die objektiven Inhalte dominieren liess, so waren das doch nur Akzentverschiebungen und Entwicklungsstadien innerhalb jener Gesamtrelation seines Lebens zum Weltsein.

Die innerpersönlichen Faktoren nun, deren Verhältnis diese Eudämonie seiner Existenz trugen, kann man bezeichnen als: das Mass der Gesamtkraft der Natur und die Talente.

Wie sich beides sonst am Menschen findet, scheint es in erheblichem Masse von einander unabhängig zu sein.

Wie viele sind in Unfruchtbarkeit, in ein Missverhältnis gerade zu dem ihnen äusseren Dasein gefallen, ja, sind zugrunde gegangen, weil ihre Kraft nicht für ihre Talente oder ihre Talente nicht für ihre Kraft ausgereicht haben! oder weil ihre Begabungen so angeordnet waren, dass die Kraft sich in ihnen unwirksam verzehrte, oder dass sie sich in einer Reihenfolge entwickelten, die der allmäligen Entfaltung der Kraft nicht entsprach! Die Maschine hat mehr Dampf, als ihre Konstruktion vertragen kann, oder diese ist auf eine grössere Leistung angelegt, als zu der ihr Dampf zureicht.

Aber von allen glücklichen Harmonien, die man dem Goetheschen Wesen zugesprochen hat, liegt hier vielleicht die tiefste, die sozusagen von ihm selbst aus entscheidende.

Gewiss hat auch seine Kraft sich hier und da in »falsche Tendenzen« verrannt, hat einen Aus- lass da gesucht, wo das Talent ihr keinen hinreichend breiten Kanal bot.

Sieht man aber genau hin, so waren das immer nur Anlaufrückschritte, nach denen sich das Gleichgewicht zwischen Kraft und Talent um so vollkommener herstellte — jene dem subjektiv aus sich herauslebenden Leben entsprechend, dieses das Mittel, durch das dieses Leben dem Dasein ausserhalb seiner und den objektiven Normen gemäss verlaufen kann.

Damit also wurde die Harmonie seiner inneren Struktur zum Träger jener Harmonie ihrer selbst mit allem Objektiven.

Diese formale Grundsubstanz seines Lebens sahen wir nun sich in den Stilgegensätzen zwischen Jugend und Alter entfalten, wie sie so radikal unter den grossen uns bekannten Menschen sich vielleicht nur bei Friedrich d. Gr. spannen — abgesehen von den (unter besonderen Bedingungen stehenden) religiösen Innenrevolutionen, bei denen man aber nicht recht von einer Entwicklung zwischen den Polen, sondern von Umspringen von einem zum andern sprechen kann.

Hieran zeigt sich nun die weitere grosse Gleichgewichtsform seines Lebens: in dessen Bilde ist dasjenige Mass von Beharrendem, Gleichbleibendem, zu fühlen, das den Eindruck des sich Wandelnden, lebendig sich Umgestaltenden auf ein Maximum bringt — und dasjenige Mass von Wechsel, auf Grund dessen das Einheitlich-Durchhaltende zu seiner grössten Eindrucksstärke gelangt.

Indem jede dieser Vitalformen ihren Gegensatz und sich an ihrem Gegensatz aufs vollkommenste entfaltete, realisiert sich der spezifisch organische Charakter dieses Daseins, da uns der Organismus doch als das Wesen erscheint, das, im Unterschied gegen allen Mechanismus, den Fluss unaufhörlichen Wandels mit einem beharrend identischen, nur mit dem Wesen selbst zerstörbaren Selbstsein in Eins fasst.

An Friedrich d. Gr. ist dieser durchhaltende Faden, der sich in Jugend und Alter zu so anders aussehenden Geweben verspinnt, viel weniger zu fühlen.

Nun muss man freilich auch bei Goethe nicht nach einem durch Jugend und Alter hindurch konservierten Inhalt von Leben und Geist suchen; wäre dieser auch zu finden (etwa in dem Künstlertum oder der pantheistischen Tendenz), so würde er doch nicht das hier Entscheidende sein.

Ein beharrender Inhalt ist als solcher immer etwas Starres, ganz genau gesehen ist er nicht dasjenige Bleibende, das dem Leben den Dienst leistet, seine Wandlungen zusammenzuhalten; viel enger vielmehr ist jenes Bleibende diesen Veränderungen verbunden, als ein begrifflich fixierbarer Inhalt es könnte.

Es ist vielmehr ein Funktionelles oder ein Gesetz, das nur von und in Veränderungen existiert oder — bildlich gesprochen — ein Anstoss, der die individuelle Existenz von Anfang bis Ende trägt und sie als der reine und gleiche durch alle ihre Richtungen und Windungen hindurchträgt.

Für Goethes Überzeugung selbst lebt der Charakter des Menschen nur an seinen Handlungen: »die Quelle«, sagt er in bezug darauf, »kann nur gedacht werden, insofern sie fliesst«; und: »die Geschichte des Menschen ist sein Charakter«.

Mit alledem sei nur ausgedrückt, dass die Einheit und Permanenz in den Entwicklungswandlungen des Lebens, davon das Goethesche vielleicht das anschaulichste Beispiel ist, nichts irgendwie ausserhalb dieser Wandlungen Stehendes ist; vielleicht ist sogar der Gegensatz des Bleibenden und des Sich- Verändernden nur eine nachträgliche Zerlegung, durch die wir die an sich unbegreifliche Tatsache des Lebens in unsere Auffassung überführen.

Für die Art nun, wie sehr entgegengesetzte Entwicklungsmomente die durchhaltende, geformte Einheit in sich tragen, gibt Goethe einen, gerade in bezug auf sich selbst höchst bedeutsamen Hinweis.

Es gehört nämlich zu seinen grossen Geistesmotiven, dass das Leben in jedem Augenblick, an jeder seiner Entwicklungsstellen ein in sich vollkommenes, selbständig und nicht erst als Vorbereitung auf ein Endstadium oder als Vollendung eines vorangegangenen wertvolles wäre oder jedenfalls sein kann.

»Der Mensch wird in seinen verschiedenen Lebensstufen wohl ein anderer, aber er kann nicht sagen, dass er ein besserer werde.« Dann beschreibt er die Anforderungen, die ein Schriftsteller auf allen Stufen seines Schaffens erfüllen soll und fährt fort: »Dann wird sein Geschriebenes, wenn es auf der Stufe recht war, wo es entstanden, auch ferner recht bleiben, der Autor mag sich auch später entwickeln und verändern wie er wolle.« Im Tiefsten diesem Motiv zugehörig ist die Bemerkung, das Werk eines grossen Künstlers sei in jedem Stadium seines Vollendetwerdens ein Fertiges.

Diese Selbstgenügsamkeit jedes Lebensmomentes, als welche sich die Fundamentalwertigkeit des Lebens überhaupt ausspricht, liegt nicht nur in der Unabhängigkeit von der Zukunft, sondern auch in der von der Vergangenheit.

Ich verweise auf die wunderbare Äusserung von der »Erinnerung«, die er »nicht statuiert«, weil das Leben dauernde Entwicklung und Höherbildung wäre und sich nicht an ein Starres, als vergangen Gegebenes binden könne, sondern dies nur als dynamische Wirkung in die dadurch erhöhte Gegenwart aufnehmen dürfe.

Er ist 82 Jahre alt, als er sagt: »Da ich immer vorwärts strebe, so vergesse ich, was ich geschrieben habe, wo ich dann sehr bald in den Fall komme, meine Sachen als etwas durchaus Fremdes anzusehen.« Seine tiefe Abneigung gegen alle teleologische Betrachtung muss damit zusammenhängen: seiner Überzeugtheit von dem in sich zulänglichen Sinn jedes Existenzmomentes widersprach es, dass irgendein solcher erst von einem über ihn hinausliegenden Endzweck seine Bedeutung entlehnen sollte.

Wenn man will, kann man auch die pantheistische Tendenz, für die jedem Daseinsstück die Totalität des Daseins überhaupt innewohnt, keines also über sich hinaus kann und hinaus braucht, hier auf den Zeitverlauf des Lebens übertragen sehen.

Jede Lebensperiode enthält die Ganzheit des Lebens in sich, nur jedesmal in anderer Form, und es liegt kein Grund vor, ihre Bedeutung aus einer Relation zu einem Vorher oder Nachher zu schöpfen; jede also hat ihre eigene Möglichkeit der Schönheit und Vollendung, der jeder anderen unvergleichbar, aber als Schönheit und Vollendung gleich.

Dies ist die Art, wie er von der Kategorie des Wertes aus und von der unmittelbaren Wertempfindung seines Lebens her, die Unaufhörlichkeit der Wandlung und die schroffe Entgegengesetztheit der Lebensperioden mit einem durch sie alle hindurchgelebten Einen und Gleichen zusammenfühlen konnte.

Weil aber jede dieser Perioden — wenigstens der Idee und Annäherung nach — in sich vollendet war, darum hat er sich auch wirklich ausgelebt.

War es der grosse Zauber dieses Lebens, seine rastlose Entwicklung mit eben dieser Vollendung und Selbstgenugsamkeit seiner Abschnitte zu vereinen, so hatte nun auch das Greisenalter seine Perfektion in sich.

Es war nicht, wie bei vielen andern, nur der Abschluss der Vergangenheit, der nur von dieser sozusagen formalen Würde und im übrigen nur von dem Inhalte dessen, was war, getragen war und seinen Sinn bezog, wie die abendlichen Wolken noch von der Sonne, die versunken ist, mit ihren Farben gekrönt werden.

Sondern seine Bedeutung verdankte es sich allein, unvergleichbar mit allem Früheren, mit dem es dennoch durch eine kontinuierliche Entwicklung verbunden war.

Aber eben um dieser geschlossenen Positivität willen wies es auch nicht auf ein überirdisches Weitergehen hin, sondern es war dem Hier verhaftet, wie die ganze Goethesche Existenz, und nur soweit in ein Transzendentes hinüberreichend, wie diese ganze Existenz an jedem ihrer Punkte es war.

Dagegen scheint sich natürlich sofort die Äusserung zu Eckermann zu wenden, die Natur sei verpflichtet, ihm eine weitere Existenzform anzuweisen, wenn die jetzige seinen Kräften nicht mehr aushielte.

Ich sehe hier von seinem Unsterblichkeitsglauben überhaupt ab, dessen spekulative Mystik mit den Entwicklungsstadien des empirischen Lebens nichts zu tun hat.

Nur die Begründung aus der unausgelebten Kraft, den unausgeschöpften Möglichkeiten geht uns an.

Und ich kann nicht leugnen, dass ich hier an eine Selbsttäuschung Goethes glaube — eine Unbeweisbarkeit natürlich, die sich nur auf einen aus vielen Imponderabilien unkontrollierbar erwachsenen »Eindruck« gründet.

Der Reichtum seiner Natur gab seiner Gesamtkraft nur ausserordentlich viele Ausformungsmöglichkeiten und weil er jeweils nur eine von ihnen ergreifen konnte, in die dann auch seine ganze Kraft ging, so blieben alle die statt dieser möglichen natürlich unrealisiert — und im Gefühl davon meinte er, dass er auch zu all diesen die Kraft gehabt hätte.

Weil er allerdings Töpfe oder Schüsseln machen konnte, schien es ihm, er hätte Töpfe und Schüsseln machen können.

Ich glaube vielmehr, dass er seine Kraft wirklich zu Ende gelebt hat; und das ist kein Manko, sondern gehört gerade zu den Wundern seiner Existenz; er gehörte zu denen, die wirklich zu Ende kamen und keinen Rest hinterliessen.

Hier kommt ersichtlich dasjenige zu seiner letzten Formulierung, was ich vorhin über die Harmonie zwischen seiner Kraft und seinen Talenten sagte: nicht nur haben sich seine Talente in seiner Kraft ohne Rückstand entfaltet, sondern auch seine Kraft hat sich in seinen Talenten erschöpft.

Soweit wir überhaupt in solchen Dingen urteilen dürfen, sind nur abstrakte Möglichkeiten seines Wesens unrealisiert geblieben (was sozusagen nur ein logischer, aber kein vitaler oder metaphysischer Ausfall ist), seine konkreten Möglichkeiten aber hat er ausgeschöpft und brauchte ihretwegen nicht »in die Ewigkeit zu schweifen«.

All diese in seiner »Idee« angelegten und näher zu ihr, als irgend sonst, anschaubar gewordenen Vollendungen kann man nun endlich als die der reinen, durch keinen speziellen Inhalt differenzierten Menschlichkeit überhaupt ansprechen.

Wir empfinden seine Entwicklung als die typisch menschliche — »auf deinem Grabstein wird man lesen: Das ist fürwahr ein Mensch gewesen«, in gesteigerteren Massen und klarerer Form zeichnet sich an ihm, in und unter all seinen Unvergleichlichkeiten, die Linie, der eigentlich jeder folgen würde, wenn er sozusagen seinem Menschentum rein überlassen wäre.

Auch dass er in vielem ein Kind seiner Zeit war und historisch überwunden ist, gehört dazu: denn der Mensch als solcher ist ein historisches Wesen, und sein allen andern Wesen gegenüber Einziges ist, dass er zugleich ein Träger des Überhistorischen in der Form der Seelenhaftigkeit ist.

Gewiss ist Unklarheit und Missbrauch genug an den Begriff des »Allgemein-Menschlichen« gebunden worden.

Es ist auch vergebens, ihn analytisch aus den Individuen heraus abstrahieren zu wollen.

Er geht vielmehr auf eine noch wenig untersuchte und auch hier nicht näher zu untersuchende, praktisch aber fortwährend ausgeübte Fähigkeit unsres Geistes zurück: in einer vorliegenden, insbesondere seelischen Erscheinung unmittelbar zu unterscheiden, was ihr rein Individuelles und was ihr Typisches, aus ihrer Art oder Gattung ihr Zukommendes ist; durch einen intellektuellen Instinkt oder durch die Wirksamkeit einer Kategorie spüren wir an gewissen Seiten einer menschlichen Erscheinung ein Schwergewicht, ein breiteres Hinausgreifen über dies einmalige Vorkommen, das wir als das Allgemein-Menschliche bezeichnen und mit dem wir ein dauerndes Besitztum oder Entwicklungsgesetz der Gattung Mensch, einen zentralen Nerv, der ihr Leben trägt, meinen.

Und dies ist nun das unsäglich Tröstende und Erhebende der Erscheinung Goethe: dass einer der grössten und exzeptionellsten Menschen aller Zeiten genau den Weg dieses Allgemein-Menschlichen gegangen ist.

In seiner Entwicklung ist nichts von dem sozusagen Monströsen, qualitativ Einsamen, mit nichts in Parallele zu Stellenden, das der Weg des grossen Genies so oft zeigt, mit ihm hat das schlechthin Normale erwiesen, dass es die Dimensionen des ganz Grossen ausfüllen kann, das ganz Allgemeine, dass es, ohne sich selbst zu verlassen, zu einer Erscheinung von höchster Individualität werden kann.

Alles untergeistige Wesen steht jenseits der Frage von Wert und Recht, es ist schlechthin.

Höhe aber und Bedrängnis des Menschen presst sich in die Formel zusammen, dass er sein Sein rechtfertigen muss.

Er glaubt das dadurch vollbracht, dass er, über das Allgemeine der menschlichen Existenz überhaupt hinaus einen einzelnen Inhalt ihrer zu einer Vollendung bringt, die sich an einer sachlichen, nur für diesen Inhalt geltenden Skala misst: einen intellektuellen oder religiösen, einen dynamischen oder gefühlshaften, einen praktischen oder künstlerischen.

Goethe aber hat — das höchste Beispiel einer unendlichen Annäherungsreihe — in der Summe und Einheit seiner Leistungen, in deren Verhältnis zu seinem Leben, in dem Rhythmus, der Tönung, der Entwicklungsperiodik dieses Lebens, das allgemein und absolut Menschliche jenseits oder über all jenen einzelnen Perfektionen nicht nur als Wert gefordert, sondern als Wert gelebt: er ist die grosse Rechtfertigung des blossen Menschentums aus sich selbst heraus.

Er bezeichnet einmal als den Sinn aller seiner Schriften »den Triumph des Rein-Menschlichen«; es ist der Gesamtsinn seiner Existenz gewesen.

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