Sechstes Kapitel: Rechenschaft und Überwindung

»Er war ein Deutscher«, sagt Goethe von Serlo, »und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was sie tut.« Er spricht damit die Erfahrung über eine entscheidende Tendenz seines eigenen Lebens aus.

Vielleicht keinem zweiten unter den im grossen Stile schöpferischen Menschen war es so natürliches Bedürfnis, mit sich selbst abzurechnen, sich des Lebens in einer Periodik bewusst zu sein, deren klare Überschau keinen seiner Inhalte ausliess.

Mit sehr mannigfaltigen Äusserungen tritt dies in die Erscheinung.

In der Jugend begeht er von Zeit zu Zeit ein »Hauptautodaf«, vernichtet mit leidenschaftlicher Selbstkritik eine Unzahl von Produkten des letzten Zeitabschnitts; dann wieder geschieht es in der Form geistigen Einrangierens, er sucht die Kategorien auf, unter die seine Lebensinhalte gehören: »Ich muss nur«, schreibt er an Schiller, »Altes und Neues, was mir in Sinn und Herzen liegt, wieder einmal schematisieren.« In einem Überblick, der alle personalen Hauptmotive seines Lebens zusammenfasst, bezeichnet er sein Bestreben als: »Nie geschlossen, oft geründet«; was sich in dem so besonders Charakteristischen symbolisiert, dass er seine Tagebücher noch einmal zu »Annalen« zusammenfasst.

In ebendieser Tendenz liebt er es von Jugend auf, Kunstwerke zu beschreiben und zu analysieren: er muss sich über alles, was ihn beeindruckt und von irgendwelcher Bedeutung für seine Entwicklung ist, Rechenschaft ablegen.

Ein merkwürdiges Beispiel ist es, wenn er über 200 Gedichte aus »Des Knaben Wunderhorn« einzeln charakterisiert, jedes nach seiner ideellen Bedeutung und seiner Zugehörigkeit zu allgemeinen ästhetischen Begriffen — immer aber im Stile jemandes, der sich über die Nuancen seines persönlichen Eindrucks Rechenschaft ablegen will.

In den späteren Jahren endlich sind es die immer neu begonnenen Gesamtausgaben seiner Werke, die gleichsam als Haltepunkte dienen, um die bisherige Entwicklung zu überschauen und mit Auswählen, Anordnen, Weglassen die Wertrechnung über diese zu schliessen.

Welches ist nun der Zusammenhang mit weiteren und tieferen Wesenszügen, in die sich diese Neigung verständlich einfügt?

Täusche ich mich nicht, so kommt auch in ihr die eine grosse Idee zu Worte, die sozusagen die schöpferische Existenz Goethes formt, und die ich als die »Objektivierung des Subjekts« bezeichne.

Gewiss ist jede künstlerische Produktivität schliesslich unter diese Formel zu bringen; allein wir wissen von niemandem, der ein so reiches subjektives Leben dauernd als eine so objektive Gegebenheit und unter so objektiven Kategorien gelebt und ausgeformt hätte.

Sonst fällt in der Regel der Akzent entweder auf die subjektive Seite, auch das abgelöste Erzeugnis ist ein unmittelbares Sichausströmen des Ichs, es tritt sozusagen für den Schöpfer nicht aus dem Stadium des Innenerlebnisses heraus; oder umgekehrt, es schwingt sich über das Subjekt wie über ein blosses Sprungbrett hinaus, und als wäre es dem Innenerlebnis fremd, zieht es Sinn und Inhalt aus seiner selbstgenugsamen Objektivität.

In der bildenden Kunst, in der Poesie, in der Musik, ja man kann sagen: in allen Lebensäusserungen überhaupt scheiden sich die spezifisch lyrischen Naturen von den spezifisch dramatischen.

Goethes Leben, als Ganzes angesehen, hat diesen Gegensatz mehr als irgend ein anderes überwunden, und zwar nicht durch ein von vornherein festes Verhältnis der Elemente, sondern in einer lebendigen Entwicklung, die von der dämonischen Subjektivität seiner Jugend zu der nicht weniger dämonischen Objektivität seines Alters führte.

Es ist aber sehr merkwürdig, wie schon in der Jugend, in der doch die Fülle und Bewegtheit seines Inneren mit einer ganz einzigen Unmittelbarkeit und Unabgelenktheit in Äusserungen und Lebensgestaltung ausfloss —wie schon in ihr die Objektivierung des Subjekts sich anzeigt.

In all dem leidenschaftlichen Gestammel der Leipziger Briefe an Behrisch zeichnet sich doch die Form des Werther vor, in dem die unbedingte Subjektivität sich durch Formung zu einem objektiven Gebilde von sich selbst erlöst.

Mitten in der heftigsten Liebesraserei schreibt er an Behrisch: »Dieses heftige Begehren und dieses ebenso heftige Verabscheuen, dieses Rasen und diese Wollust werden Dir den Jüngling kenntlich machen.« Und: »Es ist wahr, ich bin ein grosser Narr, aber auch ein guter Junge.« Wenig später, mit zwanzig Jahren: »Das habe ich mit allen tragischen Helden gemein, dass meine Leidenschaft sich gern in Tiraden ergeht.« In all dieser jugendlichen wichtigtuerischen Selbstbespiegelung kündigt sich doch schon die grosse Maxime an, alle Subjektivität des Daseins als eine objektive, in die Kategorien übersubjektiver Welt eingeordnete Wirklichkeit anzuschauen und zu erleben.

Auch in seiner leidenschaftlichsten Zeit hat er nie den typischen Fehler der Jugend gehabt: sein Wesen und seinen Weg für den einzig richtigen zu halten.

Dass er jeden für sich und in seiner eigenen Richtung gelten liess, das ist der Zug, der ihm im Tiefsten immer Eitelkeit und Neid fernhielt.

Mit 21 Jahren tadelte er aufs stärkste »die Vorliebe für unsere eigenen Empfindungen und Neigungen, die Eitelkeit, eines jeden Nase dahin drehen zu wollen, wohin unsere gewachsen ist«.

Die Objektivität, die das andere Selbst in dem gleichen Rechtsstand wie das eigene erblickte, ist ebenso die Veranlassung einer fortwährenden Rechenschaftslegung über uns selbst, wie sie deren Folge ist.

Er hat damit nicht nur aus einer geistigen Form, die die Menschheit freilich oft genug fragmentarisch verwirklicht hatte, eine Art gemacht und anschaulich gemacht, auf die ein ganzes, einheitliches Leben grossen Stiles möglich ist; sondern zugleich der theoretischen und der künstlerischen Kultur neue Provinzen erschlossen.

Durch Goethe hat man — mindestens in Deutschland — erst gelernt, die letzten seelischen Intimitäten in abstrakte wie in dichterische Allgemeinheit und Objektivität zu erheben.

Es bestand, und besteht allerdings zum Teil noch die Vorstellung, dass seelische Vorgänge, die einen gewissen Grad von Zartheit, Komplikation, Differenziertheit zeigen, eben dadurch für immer in den Bezirk der Subjektivität gebannt blieben; sie könnten eben nur erlebt, allenfalls rein persönlich geäussert werden, seien aber gewissermassen zu gebrechlicher Natur, um die Formung zum objektivierten Geist zu ertragen.

Goethe nun hat die Möglichkeitsschwelle dieser Formung weit in jenes Gebiet hineingerückt.

Ein Gedicht wie: »Warum gabst du uns die tiefen Blicke« — ist ein absolutes Novum in der Geschichte des menschlichen Ausdrucks; dass derartig letzte Intimitäten des Gefühls dichterisch und darum ohne jede Verletzung der Scham herausgestellt werden, zeigt mit eins ungeahnte Möglichkeiten der Objektivierung dessen, was man bisher nur für subjektiv möglich hielt.

Nicht anders ist es mit einer Reihe von Sentenzen über das innerste Leben, die vom Werther an seine Schriften durchziehen.

Hier scheinen freilich die französischen Moralisten, besonders Larochefoucauld, ihm vorangegangen zu sein.

Genau angesehen aber halten diese sich in der Sphäre des Geistreichen, es ist, trotz aller treffenden Wahrheit, nicht soviel Realität darin, weil man fühlt, dass nicht eine Tiefe und Breite, aus der es geholt ist, sondern die Pointe, zu der es sich erhoben hat, den eigentlichen Interessenpunkt des Denkers bildet.

In äusserstem Gegensatz hierzu kommt es Goethe allein auf den Erlebnisinhalt an, und dass dieser zu der Form der Sentenz kristallisiert, geschieht sozusagen von selbst, durch ein organisches Wachstum des Vorgangs innerhalb der Seele.

Die Hauptsache aber ist, dass bei jenen Franzosen alles nur psychologisch gemeint ist, allenfalls einer, nicht besonders tiefen, ethischen Wertung unterliegt.

Bei Goethe aber spürt man stets den grossen Zusammenhang, den das Seelische nicht nur psychologisch, d. h. als die Verknüpftheit der Inhalte des Bewusstseins besitzt, sondern als Daseiendes und Geschehendes mit allem Dasein und Geschehen, als Weltelement mit der Welt.

Auch wo er über die verwickeltsten und zartesten seelischen Dinge Allgemeinheiten ausspricht, sind das nicht nur psychologische Generalisationen, sondern sie gehen auf das Leben überhaupt und auf die tiefere, kosmische oder metaphysische Bedeutung, die das Seelische umfasst oder sich in ihm offenbart.

Hier und da mag eine analoge Einzelheit vorher auffindbar sein; aber niemand vor ihm hat den intimsten Feinheiten und Tiefen diese Form allgemeingültigen Ausdrucks gewonnen, erst seit ihm ist es ein Zug unserer geistigen Attitüde geworden, dass wir die seelisch wertvollen Erlebnisse sich einem ganzen Kosmos überindividueller Wahrheit und Weisheit zuentwickeln lassen.

Hier betrifft die Objektivierung des Subjektiven nicht nur die geistige Formung, sondern das Subjektiv-Seelische wird dadurch ein Objektives, dass es als Existenz, als Bestimmung unseres Daseins, einen Weltsinn hat, sich als ein Stück, ein Schicksal oder ein Träger des Lebens überhaupt dem realen oder ideellen, aber immer objektiven Allsein einfügt.

Es bedarf keiner Ausführung, welche sublime »Rechenschaft« nun auch für unser Intimstes und Persönlichstes in diesem Verallgemeinern und Objektivieren liegt.

Denn es hat damit ein Gesetz über sich gestellt, vor dem es sich um so strenger zu verantworten hat, je mehr dies Gesetz aus ihm selbst hervorgegangen ist, nur für es selbst und seine Beziehung zu der Totalität von Sein und Idee gilt.

Man hat das Goethesche Leben oft genug als »ein Kunstwerk« bezeichnet.

Dass man diesem Leben damit den höchsten Wert zuzusprechen meinte, gehört zu dem Grössenwahn modernen Artistentums.

Das Leben wächst aus eigner Wurzel und seine Normen sind autonom, nicht aus denen anderer Gebilde herleitbar, die vielleicht erst aus ihm entsprungen sind: das Leben kann und soll so wenig ein Kunstwerk sein, wie es ein logisches Schlussverfahren oder eine mathematische Rechnung sein kann und soll.

Er spricht es selbst, etwa 1825, aus, er achte das Leben höher als die Kunst, die es nur verschönere.

Mag dieses »Verschönern« ein etwas flüchtig gesprächsmässiger Ausdruck sein, so ist jedenfalls die Einstellung des Lebens in das Ideal des Kunstwerks als in ein übergreifendes entschieden abgelehnt.

Nun mögen gewisse normative Formen dem Leben und der Kunst gemeinsam sein und nur so kommt jenem Ausdruck ein partielles Recht: es ist dem Goetheschen Leben analog, wenn im Kunstwerk ein innerlicher, im persönlichsten Leben gezeugter Vorgang eine Form anschaulichen Daseins gewinnt, als wäre diese Erscheinung seiner nach objektiven Normen, dem Gesetz und der Idee der Sache allein gehorsam, erwachsen.

In diesem Objektivieren des Subjekts vollzieht sich die Arbeit Goethes an seiner eigenen »Bildung«.

Es ist häufig ausgesprochen worden, dass Goethes ganze Entwicklung ein fortwährender Prozess des »Sichbildens« war.

»Ich habe Natur und Kunst«, so gesteht er im höchsten Alter, »eigentlich immer nur egoistisch studiert, um mich zu unterrichten.

Ich schrieb auch nur darüber, um mich weiterzubilden.

Was die Leute daraus machen, ist mir einerlei.« Schon 48 Jahre vorher ist er sich darüber ganz klar: »Meine Sachen gehen ordentlich und Leistung als etwas so Subjektives ansprechen.

Und darum ist es nicht der geringste Widerspruch gegen die letzte Äusserung, wenn er, gleichfalls im hohen Alter, das scheinbar Entgegengesetzte ausspricht: »Was bin ich selbst? Was habe ich getan? Ich habe alles, was ich gesehen, gehört, beobachtet habe, gesammelt und benutzt.

Meine Werke sind von tausend verschiedenen Individuen genährt; Unwissende und Weise, Geistreiche und Dummköpfe, die Kindheit, das reife Alter, das Greisentum haben mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Hoffnung, ihre Seinsart dargeboten; ich habe oft die Ernte gesammelt, die andere gesät haben.

Mein Werk ist das eines Kollektivwesens und trägt den Namen Goethe.«

In höherem Alter erreicht die Einheit von Subjekt und Objekt, die zu leben und zu verkünden den metaphysischen Sinn seiner Existenz ausmacht, ihre höchste und reinste Reife.

Nachdem der Akzent in all seinem Denken und Verhalten ganz auf die Objektseite der Gleichung gerückt war, kann nun von da aus wieder das Subjekt die umfassendste Bedeutung erhalten, können nun, wie man weiss, selbst seine Berichte über die sachlichsten naturwissenschaftlichen Studien autobiographische Form erhalten.

In der Jugend wäre das eine Subjektivierung gewesen; jetzt ist davon keine Rede, sein Subjekt ist nur der Sammelpunkt von Sachlichkeiten, er, inbegriffen alle Inhalte, alle Schicksale, alle Erfahrungen, ist sich ein Gegenstand objektiven Beobachtens und Erlebens — und ebendamit auch objektiven Wertens.

So spricht er z. B. über die »der Natur des Menschen gemässe« Neigung, Erscheinungen für verwandter zu halten, als ihre tatsächliche Ähnlichkeit es rechtfertigt: »Ich habe an mir selbst bemerkt, dass ich diesen Fehler oft begehe.« Ein anderes Mal von der Richtung des Naturbetrachtens, die von dem Eindruck des Ganzen zu der Beobachtung der Teile fortschreitet: »Ich bin mir dabei recht wohl bewusst, dass diese Art der Naturforschung, so gut wie die entgegengesetzte, gewissen Eigenheiten, ja wohl gewissen Vorurteilen unterworfen sei.« So gibt er in höheren Jahren die Subjektivität seines Erkennens oft spontan zu — auch sie war ihm ein objektives Phänomen geworden.

Jener autobiographische Ton des Goetheschen Alters ist eine besondere Form der Konfession, zu der das Alter der Künstler überhaupt zu neigen scheint; ich brauche keine Beispiele dafür zu nennen, wie oft die späten Werke der grossen Künstler Beichten sind, ein Herausstellen des subjektivsten Seelenkernes, um den keine Hülle und Scham mehr ist, weil das Subjekt sich seiner Subjektivität enthoben und schon einer höheren geahnten oder innerlich geschauten Ordnung zugehörig fühlt.

»Alter«, sagt Goethe einmal, »ist stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung« — und das kann ebenso bedeuten, dass das Wesen die Hülle fallen lässt, wie dass es sich aus allem Offenbarsein in ein letztes Geheimnis zurückzieht; und vielleicht kann das erste gelten, da doch das zweite gilt.

In so tiefer und sich mit den Jahren immer vertiefender Einheit empfindet Goethe seine persönliche Existenz mit der Natur und Idee der Dinge, dass jede Mitteilung natur- oder kunstwissenschaftlicher Art den Stil und Ton eines erzählten persönlichen Erlebnisses annimmt, als sei jeder Sachverhalt, der sich ihm neu aufschliesst, eine neue Stufe seiner innerlichsten Entwicklung.

»Der Mensch«, sagt er in dieser späten Zeit, »wird die Welt nur in sich und sich nur in der Welt gewahr.

Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schliesst ein neues Organ in uns auf.« Und nur von der anderen Seite her offenbart sich diese höchste Einheit darin, dass die Art, wie Goethe seinem eigenen Leben im Alter gegenüberstand, die grossartigste Objektivierung des Subjekts ist, von der wir wissen.

Denn nicht nur die Vergangenheit, die er als abgeschlossen ansehen konnte, war ihm ein reines Bild geworden.

Sondern der eben erlebte Tag war ein solches, ja, der Moment des Erlebens selbst war ihm ein objektives Geschehen — nicht nur im Sinne der gleichzeitigen Selbstbeobachtung, der Spaltung des Bewusstseins, die sicher oft gar nicht bestand, wenigstens nicht mehr als bei vielen anderen Menschen auch; vielmehr, der innere Ton des Erlebens, die Art, wie es subjektiv unmittelbar vorging, hatte den Charakter der Objektivität.

Was er dachte und fühlte, war ihm Ereignis, wie Sonnenaufgang oder das Reifen der Früchte, er stellte das Ich nicht nur als ein wissendes den Erlebnissen als dem Gewussten gegenüber, sondern von vornherein war das Erleben dem kosmischen Geschehen eingeordnet; was vielleicht die Gestalt Makariens in absoluter Vollendung symbolisiert.

Nicht nur einzelne Lebensinhalte waren ihm objektiv geworden, sondern sozusagen der Lebensprozess selbst — er bedurfte für diese Objektivität nicht mehr der Form des Gegenüber.

Diese Gegensatzschärfe war der Kategorie genommen, unter der er sich erlebte, als eben derselben, unter der die Ereignisse des Kosmos selbstgenugsam abrollen.

Diese Einheit aber enthält ein Element oder eine Voraussetzung, die auf den ersten Blick gerade der Tiefe ihrer Wurzelung widerstreitet.

Durch das Goethesche Leben geht von sehr früh an ein Zug von Resignation, dem er oft Ausdruck und Nachdruck gibt.

Die Eingeordnetheit in Wirklichkeit und Idee des Seinsganzen, das unmittelbare Sichhingeben und -ausgeben des Lebens, sicher, dass damit der Norm der sachlichen Ordnungen genügt werde — diese Grundformel der Goetheschen Existenz scheint durch das Gefühl fortwährend nötigen Verzichtes, Zurückhaltens und Beherrschens seiner selbst durchbrochen zu sein.

Eine Äusserung aus seinem 33. Jahre weist vielleicht, wenn auch nicht in gerader Linie, auf die Lösung des Widerspruchs hin: »So viel kann ich Sie versichern, dass ich mitten im Glück in einem anhaltenden Entsagen lebe und täglich bei aller Mühe und Arbeit sehe, dass nicht mein Wille, sondern der Wille einer höheren Macht geschieht, deren Gedanken nicht meine Gedanken sind.« Hier liegen die Elemente freilich noch in ungelöster Problematik zusammen: ein subjektives Wollen und Fühlen, das sich zur Einfügung in eine jenseits seiner gelegene, objektiv höhere Ordnung aufgerufen fühlt und dies nur in der Form des Verzichts erreicht.

Der Sinn aber dieses Verzichtens in dem allgemeinsten, sein Leben durchziehenden Sinne scheint mir kein anderer zu sein, als dass ihm nur auf diesem Wege jene Objektivierung seines Subjekts gelang.

Er musste sich dauernd überwinden, damit die Intensität, die unmittelbare, selig-unselige Strömung seines Lebens gegenständlich werden konnte.

Die Selbstüberwindung und die Vergegenständlichung waren nicht ein Nacheinander zweier Akte, sondern einer und derselbe, von zwei Seiten gesehen.

All dem Glühen und Drängen seiner Seele war die Selbstüberwindung sehr früh zugewachsen, damit es Form zu werden vermochte.

Für seine Seele war es die Vollendung, dass sie über die blosse subjektive Lebendigkeit hinaus sich selbst zum Objekt, ja sozusagen an und für sich zum Objekt wurde; und dies errang sie in der Form eines dauernden Sichselbstüberwindens, einer immer bewussteren Herrschaft über sich selbst.

Dies ist keine Zerreissung seines Lebens, sondern dessen ganz einheitlicher Charakter.

Wenn er jene vorhin berührte »Bildung«, das »zum Gebilde Werden«, dadurch gewann, dass er immer mehr objektiven Weltstoff seiner persönlichen Entwicklung an- und einbildete, so weiss er später sehr wohl, wieviel strenge Begrenzung dies fordert: die Bildung ist der geistige Reflex des Geheimnisses des Organismus, sich mit seinem Wachstum zugleich seine Form, d. h. seine Grenze zu geben.

»Jede Bildung«, sagt er als Siebziger, »ist ein Gefängnis, an dessen Eisengitter Vorübergehende Ärgernis nehmen, an dessen Mauern sie sich stossen können; der sich Bildende, darin Eingesperrte, stösst sich selbst, aber das Resultat ist eine wirklich gewonnene Freiheit.« Auch sein Verhältnis zur Natur, mit seinem treuen Eifer und enthusiastischen Eindringen und dem gleichzeitigen Haltmachen vor den letzten Geheimnissen, der Überzeugung, dass ein Unerforschliches da sei, das sich uns versage, — ist die Lebenseinheit von Hingebung und Resignation.

Das Von-sich-Wegtreten, mit dem er sein eigenes Objektsein gewann, war zugleich ein Von-sich-Absehen, ein Verzicht auf das, was das Subjekt, solange es in sich selbst verbleibt, zu sein und zu geniessen begehrte.

Vielleicht aber sind diese Lebenswerte innerlich in umgekehrter Richtung verbunden.

Vielleicht — dies lässt sich nur wie aus der Ferne andeuten — ist ihm Selbstüberwindung und Entsagung das Urphänomen seiner sittlichen Menschlichkeit und alles, was ich die Objektivierung seines Subjekts nannte, nur eine Folge, eine Erscheinung, ein anschaulich Positives zu diesem Letzten — ein Positives, in dem sich die besondere Wertart dieser Resignation äussern musste, da sie doch nicht Askese war.

Wir pflegen in der Resignation vor allem das Moment des Leidens zu betonen und zu empfinden.

Aber dieser Gefühlsreflex ist für Goethe ganz unwesentlich.

Der »Entsagende« ist der Mensch, der seinem subjektiven Dasein die Form gibt, mit der es sich der objektiven Ordnung der Gesellschaft oder des Kosmos überhaupt einfügen kann; oder, in der anderen Richtung gesehen, sobald der Mensch sich über das blosse Ausströmen seiner Existenz hinaus eine Form geben will, in der er sich selbst als Objekt, als ein Weltelement anschaut, — so muss er entsagen.

Jede Form ist Begrenzung, ist Verzicht auf das, was jenseits der Grenze ist; und nur durch Formung entsteht jedes feste, weltmässige Sein, das dem Subjekt gegenübersteht und zu dem es sich selbst zu gestalten hat.

Das Sich-selbst-Beherrschen und Entsagen, das ohne Beziehung auf dies oder jenes Bestimmte und ohne jede Leidseligkeit, sondern als eine allgemeine Bestimmung der Existenz Goethes Lebensentwicklung durchzieht, enthüllt sich so als die ethische Basis oder die ethische Seite jener allgemeinsten Formel seiner Entwicklung.

Vielleicht ist dies noch von einer breiteren Allgemeinheit des Lebenssinnes, als gerade von dem ethischen Gesichtspunkte her, auszudrücken.

Die »Harmonie der Existenz«, unter deren Ägide sich das Goethesche Lebensideal bildete, ist etwas keineswegs Eindeutiges.

Sie setzt, für die häufigste Auffassung, eine Idee voraus, praktischer, religiöser, theoretischer, gefühlshafter Art, zu der nun die einzelnen Energien und Inhalte der Persönlichkeit sich passend, fördernd verhalten, so dass das Leben als Ganzes auf einen ideellen oder realen Ton abgestimmt ist.

Das verlangt Selbstbeherrschung und Verzicht, da die nach allen Seiten hin gestreckten Kräfte und Bedürfnisse des Individuums nicht von selbst die von einer differenziellen Idee her geforderte Form haben.

Doch sind solche Versagungen und Verkürzungen unsres übrigen Wesens sozusagen keine ganz organischen, weil sie nicht aus den eigen-innerlichsten Wachstumsbedingungen hervorgingen, weil die Gestaltung nicht ganz und gar von der gegebenen Individualität her harmonisch ist, sondern von einer Idee her, die dieser irgendwie äusserlich ist — so wenig dieser Sinn des »Äusserlichen« ein tiefstes inneres Verbundensein und Verwachsensein ausschliesst.

Die Harmonie der Persönlichkeit nach Goethescher Norm aber hat ersichtlich einen andern Grundton.

Für seinen metaphysischen Optimismus wird sie von den Anlagen des Individuums her bestimmt, d. h. Harmonie ist der Name für deren völlige Entwickeltheit, das Unharmonische ist ihm das — von der Gegebenheit des Menschen aus gesehen — Verkümmerte, Einseitige, nicht völlig Entwickelte, eine Unvollkommenheit der »Entelechie«.

Auch dies aber bedeutet Beschränkung in mehr als einem Sinne.

Zunächst nicht, wie dort, irgendeine Beschränkung des Selbst, sondern eine Beschränkung auf das Selbst.

Denn dieses wird von allerhand Ansprüchen, Illusionen, Nicht-dazu-Gehörigkeiten umgeben, die mit dem, was wir von innen her sind, gleichsam an dessen Peripherie verschmolzen sind; das eigentliche Ich, das sich ursprünglich durch alles dieses mitzuerstrecken schien, muss es oft erst lernen, sich auf seinen eigenen Umfang zu beschränken, auf die Allumfassung zu verzichten und erst durch diesen Verzicht zu seinem Selbst zu gelangen.

Mehr als einmal spricht Goethe aus, dass »die meisten« Künstler »gar zu gern über den Kreis hinausgehen, den die Natur ihrem Talente gesetzt hat« und dass sich selten einer auf das »beschränke«, was er vermag.

Und ganz entscheidend: »Wer allgemein sein will, wird nichts; die Einschränkung ist dem Künstler so notwendig als jedem, der aus sich was Bedeutendes bilden will.« Wer wie Goethe die Norm des Lebens aus dem Leben selbst entnimmt, kann auch die beschränkende Linie, die diese Norm und die innere Harmonie verlangen, nur von dem Leben selbst ziehen lassen: es ist gar nicht das Selbstverständliche und Erste, dass wir wir selbst sind, tun, was nur aus uns kommt, sondern auch dies und gerade dies ist nur durch Beschränkung und Entsagung möglich.

Nun will aber ferner jene Forderung, für die mit der vollkommenen Entwicklung aller gegebenen Kräfte sich die Harmonie des persönlichen Daseins ergibt, keineswegs ein wildes Auswachsenlassen jedes Triebes besagen.

Es hat vielmehr ein jeder diejenige Beschränkung in sich, die das Zusammenstimmen der vielen zur Einheit einer organischen Selbstentwicklung ihm auferlegt.

Hier liegt noch einmal ein tiefster Zusammenhang des Beschränkungsmotives mit der entscheidenden Goetheschen Lebensform.

Wer sich zu einer bestimmten Leistung erziehen will, vollzieht die Einschränkung von Trieben und Kräften, die dazu etwa erfordert ist, sozusagen von aussen her, denn nicht das Leben selbst, sondern die herantretende Idee, wie adäquat sie auch jenem sei, stellt die Forderung.

Wer aber sein Sein erzieht, wie Goethe, der beschränkt all jene Kräfte und Triebe nur auf das Mass und die Form, die sie sozusagen ganz von selbst gewinnen oder gewinnen würden, wenn sie sich durch ihre Stellung im Ganzen dieser Persönlichkeit, durch ihr Verhältnis zu ihrem Zentrum bestimmen lassen.

Die Selbstbeschränkung kommt hier zu ihrem reinsten Sinn.

Nicht um eines Zweckes willen, sondern um der Einheit und Vollkommenheit des ganzen, sie tragenden Seins, und also schliesslich um ihrer selbst willen verzichtet jede Energie, jede Tendenz auf jenes Übermass, zu dem sozusagen ihr Egoismus, ihrem eigentlichen Sinne dennoch fremd, sie führen will.

So stammt ihre Beschränkung aus eben der Kraft und Zentralität des Gesamtwesens, aus der ihr Wachstum kam.

Deshalb also, weil Goethe nicht dies und jenes »werden« wollte, sondern nur die Vollkommenheit erreichen, die gerade nur die seine war und mit seiner Realität vorgezeichnet war, war seine Selbstbeschränkung ein organischer, rein von innen her bestimmter Prozess, seine Selbsterziehung genau so naturhaft seiner Selbstentwicklung zugehörig wie irgendeine Leidenschaft oder eine Produktivität.

»Wer Bedingung früh erfährt«, sagt er, »gelangt bequem zur Freiheit; wem Bedingung sich spät aufdrängt, gewinnt nur bittre Freiheit« — denn Bedingung, Beschränkung, Verzicht muss von vornherein der Lebensentwicklung einwohnen, die den Menschen zu reinem Er-selbst-Sein, d. h. zur »Freiheit« führt; ist der Organismus schon fertig, wenn sie sich »aufdrängt«, so kann sie ihm nicht mehr einwachsen, sondern verbleibt ihm in Fremdheit, Disharmonie, »Bitterkeit«.

Nun scheint aber auch seine Selbstüberwindung einen sehr durchgängigen Gegenstand gehabt zu haben, der gleichfalls nicht nur als ein bestimmter Inhalt auftrat, sondern den er als einen allgemeinen, formalen, gleichsam aus der Seele als solcher sich entwickelnden Zustand fühlte: die Sehnsucht.

Er hat vielleicht zuerst gewusst, dass die Sehnsucht eine mit unserm Wesen überhaupt verbundene Funktion ist, die wir »nun einmal nicht loswerden sollen«; von diesem Sehnsüchtigen lag, nach seinem eigenen Geständnis, ursprünglich zuviel in seiner Natur, und er suchte es mit vorschreitendem Alter »kräftig zu bekämpfen«.

Die Art aber, wie er diesen Kampf führte, hängt aufs genaueste mit seiner gesamten Lebenstendenz zusammen.

Die eben zitierte Stelle lautet vollständig: »Da der Mensch doch einmal die Sehnsucht nicht loswerden soll, so ist es heilsam, wenn sie sich nach einem bestimmten Objekt hin richtet.« Damit meint er nicht etwa, dass sie nur auf ein Erreichbares gehen solle.

Er weiss vielmehr sehr wohl, dass ihr Wesen als Sehnsucht damit negiert würde, dass sie dann einfach ein Stück willensmässig-teleogischer Vernünftigkeit wäre.

So heisst es in einem Entwurf zu Dichtung und Wahrheit: »Niemand, wenn er auch noch so viel besitzt, kann ohne Sehnsucht bestehen; die wahre Sehnsucht aber muss gegen ein Unerreichbares gerichtet sein, die meinige war es gegen die bildende Kunst.« Also nicht das rationalistische Beschränken der Sehnsucht, die gerade, weil er sie als eine typisch-formale Funktion der Seele entdeckt hat, jede mögliche materiale Befriedigung überleben muss, empfiehlt er, sondern nur ihre jeweilige Anknüpfung an ein »bestimmtes Objekt«.

Sein grosses Lebensmotiv: keine seelische Energie rein, gleichsam leergehend, in sich schwingen zu lassen, sondern für eine jede Anknüpfung, Gegenbild und Halt in der objektiven Welt zu suchen, dieses Motiv, auf dem das ganze Gleichgewicht, das ganze harmonische und fruchtbare Verhältnis seiner Subjektivität zum Dasein überhaupt beruhte, ist auch hier entscheidend geworden.

Selbst wo ein Affekt, wie die Sehnsucht, aus dem Innersten des Subjekts selbst hervorbricht und als elementare Funktion seines Lebens in ihm beharrt, würde er dies Subjekt selbst zerstören, wenn ihm nicht aus dem objektiven Dasein ein Ziel — obgleich ein nie erreichbares — käme.

»Falsche sinnliche Tendenzen«, sagt er deshalb höchst bezeichnend, »sind eine Art realer Sehnsucht, immer noch vorteilhafter als die falsche Tendenz, die sich als ideelle Sehnsucht ausdrückt.« Die reale Sehnsucht, obgleich auch sie die Welt nicht stillen kann, verbindet uns dennoch irgendwie der Welt; die ideelle reisst uns von der Welt los, weil sie eine bloss subjektive Zuständlichkeit bleibt und gerade dies natürlich als ein Streben ins Absolute, gleichsam mit Überspringung der als objektiv gegebenen Welt, empfindet und darstellt.

Hier liegt vielleicht der tiefste Grund für Goethes Abneigung gegen die Romantik.

Es ist jetzt vielfach an der Tagesordnung, sein Verhältnis zu dieser als ein möglichst positives darzustellen, ihn von der Romantik entscheidende Einflüsse erhalten zu lassen.

Die Dokumente scheinen mir diese Tendenz keineswegs zu rechtfertigen.

Was er von der Romantik empfing, war mit dieser nur akzidentell verbunden, der spezifische Lebensakzent, mit dem sie die Geschichte des Geistes bereicherte, musste ihm durchaus eine »falsche Tendenz« sein.

Ich drücke den Punkt, an den mir dieser Akzent sich anzusetzen scheint, zunächst ganz allgemein und scheinbar wenig besagend aus: die Romantik will das Leben und seine Gesamtheit, ja die erlebte Welt überhaupt, auf die Seele stellen; sie ist die Lyrisierung des Kantischen Idealismus und damit freilich die Umkehrung seiner Tendenz.

Die romantische Seele will in alle individuellen Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichsam hineinkriechen und raubt damit dem Wirklichen sein Eigenrecht; so wird es einerseits zu ihrem blossen Mittel — was sich in ihrer starken Gerichtetheit auf Genuss ausspricht —, andrerseits zu ihrem blossen Gegensatz — was das Wesen ihrer spezifischen »Ironie« ausmacht.

Gerade aber die Stärke, mit der hier die Seele in sich selbst schwingt, führt ihre Bewegung aus sich selbst heraus und zwar, ohne weiteres begreiflich, nicht zu dem oder jenem Einzelnen als etwas Definitivem, sondern zu dem Unendlichen oder Absoluten.

Dass die Seele selbst ein Unendliches ist — weil sie das Apriori alles Endlichen ist — drückt sich darin aus, dass sie an dem Unendlichen, mag sie es religiös oder anders fassen, ihren einzigen wirklichen Gegenpart empfindet.

Zu diesem Unendlichen nun sucht sie ein unmittelbares Verhältnis und dies scheint mir der eigentliche Kernpunkt ihres Lebensgefühles zu sein, der zwei Folgen aus sich entlässt, beide gleichmässig den Goetheschen Wertbetonungen entgegengesetzt.

Es geht daraus einerseits eine ganz tiefe, innere Formlosigkeit hervor.

Alle Form ist Grenze und damit Endlichkeit, sie steht zwischen dem an sich formlosen Subjekt und dem ebenso formlosen Unendlichen, und darum ist sie, wo sie vollkommen ist: in der grossen Kunst, in dem zur Wahrheit gewordenen Denken, in dem sittlich gestalteten Handeln — der eigentliche Vermittler zwischen dem Subjekt und dem Absoluten.

Goethe war durch das Leben belehrt worden — oder glaubte mindestens seit dem Einfluss der Klassik und der Wissenschaft belehrt zu sein —, dass das unmittelbare Verhältnis jener beiden ein täuschendes Ideal ist, dass Wissen und Wirken, die in dem Endlich-Geformten leben, zwischen beide treten muss.

Die romantische Seele aber mochte äusserlich noch so sehr an vollendeten Formen hängen, die souveräne Subjektivität, aus der heraus sie lebte, konnte ein letztes, innerlichstes Verhältnis überhaupt nur zum Unendlichen haben und musste deshalb die Zwischeninstanz der begrenzten, d. h. geformten Einzelheiten, den Respekt vor ihnen und die Arbeit an ihnen, überspringen.

Sie siedelte sich gerade an den Punkten diesseits und jenseits des Gebietes an, in dem Goethe schliesslich den entscheidenden Wertsinn seiner Existenz gefunden hatte.

Dazu kommt ein zweites, für uns jetzt wichtigeres.

Jene vermittlungslose Beziehung zum Unendlichen oder Absoluten bedeutet für die Romantik nicht, wie in der religiösen Mystik, einen gewonnenen Besitz, ein unterschiedsloses Verschmelzen jener mit diesem, sondern bleibt in dem Stadium der Sehnsucht gleichsam stecken; und zwar nicht einfach deshalb, weil jenes Ziel überhaupt nur in Annäherungen erreichbar wäre, sondern weil dieses Stadium als etwas Definitives, so paradox es klingt: als etwas Befriedigendes, als der natürliche Dauerzustand der romantischen Seele empfunden wird.

»Sehnsucht« erscheint mir als der spezifische Affekt der Romantik — und zwar, wegen der bezeichneten Richtung ihrer, die »ideelle Sehnsucht«; wo die Seele nur in sich selbst kreist, und dennoch ein Unendliches ausser sich weiss, das sie erfassen möchte, da ist Sehnsucht der unvermeidliche und zentrale Ausdruck ihrer Gesamtlage.

Am reinsten und unüberbietbarsten vielleicht verrät Robert Schumann, der letzte grosse Romantiker, es im Stil seiner Musik, dass für die romantische Seele Sehnsucht der Affekt schlechthin ist.

Solche gleichsam unsubstanziierte Sehnsucht eben war es, die Goethe in langer Arbeit überwunden hatte; sie gerade ist es, in der die Seele hängen bleibt, wenn ihr nicht Wissen und Wirken die Brücken zum Unendlichen schlagen.

Gewiss kannte Goethe die Sehnsucht, wie wohl wenige Menschen sie kennen — der wäre vor Italien beinahe daran zugrunde gegangen.

Aber hier rettete ihn nun gerade Italien — das nachher nur in sentimentalen Missverständnissen ein Nährboden romantischer Gefühle werden konnte.

Scheinbar hat Italien genug Elemente für die Romantik: die efeuumwachsenen Burgruinen, die Villen in dunkeln Zypressenhainen, die Trümmer vergangener Herrlichkeiten.

Goethe aber hat richtig verstanden, dass in alledem nichts Romantisches liegt, weil es auf diesem Boden keine Sehnsucht ausatmet, sondern, wie es nun einmal ist, Wirklichkeit, Form, Gegenwart ist, die sich nicht erst nach der Idee oder nach sonst irgendetwas »sehnt«.

Das Innerste von Goethes Leben ist offenbar zum grossen Teil eine Überwindung der Sehnsucht, eine an Italien angeknüpfte Selbstrettung aus ihr, eine Formung auch dieses gefährlichen Lebenselementes, das uns mit Formlosigkeit und sterilem Hinstarren auf ein problematisches Absolutes bedroht: jene »bestimmten Objekte«, auf die er die Sehnsucht gerichtet haben wollte, erlösten ihn aus solcher Problematik, ordneten auch diesen Affekt dem auf Handeln und Erkennen zugehenden Entwicklungsgesetz seines Lebens unter — ohne dass doch die in ihm gelegene Kraft paralysiert und verloren wurde.

Damit wird die Sehnsucht zu gleicher Zeit überwunden und fruchtbar gemacht — und darum war ihm die Romantik so zuwider, die in der Sehnsucht wohnen blieb und eben darum nichts Rechtes aus ihr zu machen wusste.

Die Seele darf eben nicht bloss in sich kreisen; dies weist sie — und hier sind wir an einem tiefen und dunkeln, von Goethe selbst nur von fern angedeuteten Zusammenhang — unmittelbar dem formlosen Absoluten zu, in das sich die Sehnsucht verlieren, aus dem sie aber nichts zurückgewinnen kann, eine Situation, in der sich schliesslich nur noch der Katholizismus den Romantikern bot, an dem sie sich halten konnten, weil er in einzigartiger Weise das unmittelbare und das vermittelte Verhältnis zum Unendlichen vereinte.

Goethe wusste ja, dass »niemand ohne Sehnsucht bestehen kann«; aber sie ist jenen Naturkräften zu vergleichen, die der Mensch nicht unmittelbar, sondern nur in Umsetzungen in den Bau seiner Werte einfügen kann.

Darum fasst er kurz vor seinem Tode noch einmal, zwar nicht mit ausdrücklicher Beziehung auf die Romantik, aber im Hinblick auf die von ihr erzogene, kümmerliche und deprimierte Jugend, sein Verwerfungsurteil dahin zusammen: von dieser Jugend werde »die Sehnsucht durchaus als das letzte aller Dinge gepriesen«.

Das ist das Entscheidende.

Die Sehnsucht darf nicht »das Letzte« sein, d. h. die Seele darf nicht nur so in sich schwingen, dass sie nur noch jenes unmittelbare Verhältnis zum Absoluten kennt.

Weil sie dem Dasein als ganzem zugehört, muss sie, erkennend und handelnd, zu diesem ein Verhältnis gewinnen, und es ist das letzte Geheimnis ihres Lebens, dass sie nur in solcher begrenzenden, formenden »Bestimmtheit« auf dem wahren Wege sowohl zu sich selbst wie zu dem Unendlichen ist.

Hier liegt eine der letzten, von Goethe gelebten Lösungen des Lebensproblems: es gilt, die Sehnsucht als blosse, mit dem Leben gegebene, aber in sich noch leere Kraft zu überwinden, indem man sie »bestimmt«, und indem dies vielleicht die tiefste Selbstüberwindung seines Lebens war, zeigte sie zugleich dessen vorbildliche Harmonie; denn indem diese Selbstüberwindung sich vermittels der Arbeit an der Welt der Dinge und Formen, der Gedanken und Leistungen vollzog, fand seine Seele gerade dadurch immer zu sich selbst zurück.

Goethes Leben war im höchsten, man möchte sagen, im metaphysischen Sinne: Gegenwart.

Wie er im Hier lebte, in dem allein der Mensch »sich umsehen« solle, so im Jetzt; das Hier und das Jetzt sind sein Fruchtboden.

Und an welchem andern als dem Punkte der Gegenwart sollte ein Mensch wohnen, der so rastlose Entwicklung war, dass er, auf einen Widerspruch gegen früher Gesagtes aufmerksam gemacht, erwiderte, er sei nicht achtzig Jahre alt geworden, um jeden Tag dasselbe zu sagen, wie am vorhergehenden! — Hatte nun sein Überwindungsverhältnis zur Zukunft die Sehnsucht zum seelischen Gegenstand, so das zur Vergangenheit die Erinnerung.

Es ist zwar die allgemeine Meinung, dass Goethe ein grosser Vergesser war: mit dem Vergangenen abgefunden, ruhig alle Schwierigkeiten abstreifend, zu denen die Konsequenzen unsrer Taten werden, alles Nachrückwärtssehen, Nachrückwärtsempfinden vermeidend, sobald es den Blick und Schritt nach vorwärts hemmen wollte.

Dass man ihn so von dem frei glaubt, was man gern die überflüssigen Schmerzen nennt — weil sie freilich für die Lebenszwecke der meisten Menschen nicht notwendig sind —, das ist wohl das wesentliche Ingrediens der Bewunderung einerseits, der moralischen Reserve andrerseits, denen die »Lebenskunst« Goethes begegnet.

Dennoch glaube ich, dass man damit in Goethe eine Oberflächlichkeit hineingedeutet hat, die vielmehr auf der Seite dieser Deutung zu suchen ist; dass ganz umgekehrt Goethe so tief und schwer an Vergangenheiten gelitten, die Folgen seines Tuns so bannend und lastend empfunden hat, wie es wenigen auferlegt ist.

Durch seine Gedankenwelt geht dauernd das Motiv von den Geistern, die man nicht los wird, wenn man sie einmal gerufen hat; von dem Zweiten, bei dem wir Knechte sind, nachdem uns das Erste freigestanden hat; von den Dämonen, die man »schwerlich los wird«: »das geistig strenge Band ist nicht zu trennen«.

»Es ist entsetzlich«, schreibt er aus Rom, »was mich oft Erinnerungen zerreissen«, und über vierzig Jahre später: »Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe.« Und an einer Stelle in den Maskenzügen spricht er von Geistern:

wenn man sie nicht stracks vertreibt
Sie ziehen fort, ein und der andre bleibt
In irgendeinem Winkel hängen,
Und hat er noch so still getan,
Er kommt hervor in wunderlichen Fällen.

Das preist er ja — diese Stimmung ins Überindividuell- Historische streckend — vor allem an den Vereinigten Staaten, dass ihnen das »unnütze Erinnern« erspart bliebe und ihren künftigen Dichtern wünscht er, vor »Gespenstergeschichten« bewahrt zu sein.

Und derselbe Ton klingt, wenn er einmal ganz aphoristisch, ohne jede Begründung oder Folgerung schreibt: »Wir leben alle vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde«; so dass die »Lebensregel«: »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, musst dich um's Vergangene nicht bekümmern« — wie die meisten Lebensregeln aus der bitteren Erfahrung des Gegenteils gequollen ist.

Oder glaubt man im Ernst, dass Goethe seine eigene Existenz so ohne weiteres als »ein hübsch Leben« bezeichnen wollte? Die Zahl solcher Äusserungen kann nicht Zufall sein.

Auch wo sie in Dichtwerken enthalten sind, haben sie vielmehr alle innerhalb ihrer Umgebungen den eigentümlichen Charakter, den man an manchen Harmonien oder Takten bei Beethoven findet: jeder gehört völlig in den sozusagen objektiven Zusammenhang des Stückes hinein, ist durch dessen rein musikalische Logik völlig begreiflich und notwendig — zugleich aber weist er noch in eine ganz andere Dimension, in die des Subjekts; während er nur um seines Vorher und seines Nachher willen dazustehen scheint, schreit doch wie von unten und von innen her gerade in ihm die Seele auf, in die rein künstlerisch-musikalische Kontinuität, die sich auch durch ihn hindurch knüpft, reisst er zugleich ein Loch, durch das man unmittelbar in die Qual der darunter lebenden Seele hinabblickt.

So wirken bei Goethe diese Stellen, deren jede freilich ihre notwendige Rolle in dem ganzen Kunstwerk spielt, in denen aber zugleich ein Erleben jenseits der Kunst hervorbricht.

Und wie er nun fortwährend gegen die Schlingen und Fussangeln anrang, mit denen ihn die Zukunft in der Form der Sehnsucht fangen wollte, so gegen die entsprechenden Gefahren, die von der Vergangenheit her drohten.

Hier scheint nun sein glücklicher Instinkt die Vergangenheit vor allem durch Vergegenwärtigung zu überwinden.

Er hatte den eigentümlichen Trieb, lange nach dem Bruch mit geliebten Frauen sie wiedersehen zu wollen: so Friederike, so Lili; und genau entspricht dem die Äusserung: »Wie sehr die Gegenwart eines geliebten Gegenstandes der Einbildungskraft ihre zerstörende Gewalt nimmt und die Sehnsucht in ein ruhiges

Schauen verwandelt, davon habe ich die wichtigsten Beispiele.« Für diesen Menschen einer unvergleichlich anschaulichen Phantasie, deren Grenze gegen die Halluzination manchmal zu verschwimmen scheint, lebte das Gewesene in der Form der »Dämonen«, der »Geister«, deren quälende Gegenwart man nicht los wird.

Gegen Geister aber gibt es kein Mittel als Wirklichkeit.

Von dem, was uns in der Form des Gespenstes ängstet, erlöst uns oft eben dasselbe, sobald wir ihm in der Form der Wirklichkeit begegnen.

»Das Wirkliche«, schreibt er schon als Siebenundzwanzigjähriger, »kann ich so ziemlich meist tragen; Träume können mich weich machen, wenn's ihnen beliebt.« Das fortwährende Drängen auf Anschauung, das Goethes seelisches Leben durchzieht, ist nicht nur der Ausdruck seines Künstlertums, das im Anschauen der Welt noch einmal die Einheit mit ihr sozusagen physisch vollzieht, die das metaphysische Wesen des Genies ausmacht; sondern es war zugleich das Gegengewicht gegen die dunkeln Mächte des Innern, das Gegenwartslicht, das die Schatten der Vergangenheit auflöste.

Abgesehen von dieser besonderen Art, Erinnerung durch Gegenwart zu heilen, hat er freilich in manchen, vielleicht in vielen Fällen, einfach von der Vergangenheit gewaltsam weggesehen, sich rücksichtslos und scheinbar gefühllos von ihr befreit: er hatte es nötig.

Mit steigenden Jahren wurde ihm dies sozusagen zu einer organischen Funktion, und so kann er im hohen Alter in scheinbar leichtem Ton davon sprechen: »Man bedenke, dass mit jedem Atemzug ein ätherischer Lethestrom unser ganzes Wesen durchdringt, so dass wir uns der Freuden nur mässig, der Leiden kaum erinnern.

Diese hohe Gottesgabe habe ich von jeher zu schätzen, zu nützen und zu steigern gewusst.

Wenn also von Schlägen und Püffen die Rede ist, womit uns das Schicksal, womit uns Liebchen, Freunde, Gegner geprüft haben, so ist das Andenken derselben beim resoluten, guten Menschen, längst hinweggehaucht.« Dies für eine kalte, eudämonistische Selbstsucht zu erklären, ist die grösste Oberflächlichkeit; den Druck, unter den die Erschütterungen seines Erlebens auch noch dessen Erinnerungen und Weiterwirksamkeiten stellten, hat man übersehen, weil man nur die ungeheuere Gegenkraft bemerkte, die freilich in seinem Schaffen, in dem sichtbaren Ausgang des Kampfes, den Sieg behielt.

Dieses Leben, stillstandslos zu neuem objektivem Wirken, neuer subjektiver Selbstgestaltung fortschreitend, musste in jedem Augenblick ganz es selbst, ganz seine Gegenwart sein.

Dass er Sehnsucht und Erinnerung — in ihm bewegender und verlockender, als wohl in den meisten von uns — abtat, war die grossartigste Selbstüberwindung, der Triumph über das eigene Selbst in der Form der Zukunft und der Vergangenheit zugunsten dieses Selbst in der Form seines eigentlichen, höchsten und schöpferischen Lebens.

Die Selbstbegrenzung, Selbstüberwindung seiner Existenz, die an der Erinnerung und der Sehnsucht nur ihre kontinuierlichsten Aufgaben fand, ist — es bedarf darüber nur eines andeutenden Wortes — seiner dauernden Rechenschaft über sich selbst untrennbar verwachsen.

Kein anderer Begriff verknüpft so unmittelbar wie dieser das theoretisch-objektive Bild mit der sittlichen Wertung; Sichrechenschaftgeben heisst: die Einheit von Sichwissen und Sichbeurteilen verwirklichen, und heisst, sich von der Grenze aus sehen, diesseits derer wir uns zu bescheiden haben und jenseits derer der Verzicht liegt.

Der metaphysische Grundwille, sein Subjekt als ein objektives anzuschauen und zu erleben, konnte seine ethische Spannung nicht tiefer und vollkommener spiegeln, als in der Rechenschaft über sich selbst, in der sein Bewusstsein der eigenen Wirklichkeit und das der Grenze, deren strenge Bescheidung dem Leben Wert und Form bestimmte, sich in einem lebenslangen Akte vollzog.

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