Goethes Ideenaustausch mit Lavater

Eine fortwährende Anregung gab dem Briefwechsel Goethes mit Lavater, außer den Artikeln, die jener für dessen Physiognomik lieferte, besonders Lavaters Lieblingsthema, der Streit zwischen Wissen und Glauben. Ein Brief Goethes, vom 24. November 1774, an Lavater und dessen Freund, den Diakonus Pfenninger in Zürich zugleich gerichtet, enthielt in dieser Hinsicht einige charakteristische Bemerkungen. Mit Herzlichkeit und in dem vertraulichen Tone schrieb Goethe: "Glaube mir, lieber Bruder, es wird die Zeit kommen, da wir uns verstehen werden. Du redest mit mir, wie mit einem Ungläubigen, der begreifen will, der bewiesen haben will, der nicht erfahren hat; und von alle dem ist gerade das Gegenteil in meinem Herzen.—Bin ich nicht resignierter im Begreifen und Beweisen, als ihr? Ich bin vielleicht ein Thor, dass ich euch nicht den Gefallen tue, mich mit euren Worten auszudrücken, und dass ich nicht einmal durch eine reine Experimental-Psychologie meines Innern euch darlege, dass ich ein Mensch bin, daher nicht anders sentieren kann, als andere Menschen, und dass Alles, was unter uns Widerspruch scheint, nur Wortstreit ist, der daraus entsteht, weil ich die Sachen unter andern Kombinationen sentiere, und darum, ihre Relativität ausdrückend, sie anders benennen muss, welches aller Kontroversen Quelle ewig war und ewig bleiben wird.—Und dass du mich ewig mit Zeugnissen quälen willst! Wozu das? Brauch ich Zeugnis, dass ich bin? Zeugnis, dass ich fühle? Nur so schätze, liebe, bete ich die Zeugnisse an, die mir darlegen, wie Tausend oder Einer vor mir eben das gefühlt haben, was mich kräftigt und stärkt. Und so ist das Wort der Menschen mir Wort Gottes, mögen's Pfaffen oder Huren gesammelt, und es zum Kanon gerollt oder als Fragmente hingestreut haben. Und mit inniger Seele fall' ich dem Bruder um den Hals— Moses! Prophet! Evangelist! Apostel! Spinoza oder Macchiavell! Darf aber auch zu Jedem sagen: Lieber Freund, geht dir's doch wie mir. Im Einzelnen sentierst Du kräftig und herrlich; das Ganze aber ging in deinen Kopf so wenig, als in den meinigen."

Der briefliche Ideenaustausch Goethes mit Lavater verwandelte sich, als dieser 1774 wieder nach Frankfurt kam, in mündliche Überlieferung. Das Phantastische in Lavaters Natur verkannte Goethe nicht, aber er fand es, wie er in einem früher erwähnten Briefe sich ausgedrückt hatte, "mit dem schönsten, schlichtesten Menschenverstande gepaart." Ihn fesselte damals jede Natur, mochte sie auch von der seinigen noch so verschieden sein. Nach Ems, wohin sich Lavater begab, begleitete ihn Goethe. Kaum wieder nach Frankfurt zurückgekehrt, traf er dort mit Basedow zusammen, der damals in der Pädagogik ein helleres Licht angezündet hatte, doch in allerlei seltsamen religiösen Ansichten befangen war, die er aufs Lebhafteste verteidigte. Durch das Zynische in seinem Äußern und ganzen Wesen fühlte sich Goethe zurückgestoßen, besonders durch den Geruch des schlechten Tabaks, den Basedow auf der Reise nach Ems, wohin ihn Goethe begleitete, fortwährend in die Luft blies. In mehrfacher Weise störte Basedow die gesellige Unterhaltung in dem Hause der Frau v. Stein zu Nassau. Als Goethe mit Lavater und Basedow wieder nach Frankfurt zurückkehrte, und, wie er in einem noch erhaltenen Gedicht sagt: "als das Weltkind zwischen zwei Propheten saß," benutzte er Basedows entschiedene Abneigung gegen die Trinitatslehre zu einer lustigen Rache. Er hieß den Kutscher schnell vorüberfahren bei einem Wirtshause, in welchem Basedow seinen brennenden Durst stillen wollte. Indem Goethe auf das mit zwei verschränkten Triangeln versehene Gasthofschild hinwies, äußerte er schalkhaft, dass Basedow, der schon über einen Triangel außer Fassung gerate, bei diesem Anblick geradezu verrückt hätte werden müssen.

Aufbruch nach Weimar

Unbefriedigt und verletzt durch die ungleichartigen Naturen Lavaters und Basedows, schloss sich Goethe mit größerer Innigkeit den Gebrüdern Jacobi an, die er in Köln kennen gelernt hatte. Der Dichter I.G. Jacobi verzieh ihm den Spott, den er sich über seine mit Gleim gewechselten Briefe und Gedichte, die damals im Druck erschienen waren, erlaubt hatte. Das offene Vertrauen, mit welchem ihm besonders F.H. Jacobi entgegenkam, gewann Goethes Herz. Aber auch sein Geist fand Befriedigung in mannigfachen philosophischen Gesprächen, besonders über das System und die Lehre Spinozas. Im wechselseitigen Austausch ihrer Ideen fühlten sich die Freunde sehr glücklich. Jacobi schrieb damals, den 27. August 1774, an Wieland: "Was Goethe und ich einander sein sollten, sein mussten, war, sobald wir vom Himmel herunter neben einander gefallen waren, sogleich entschieden. Jeder glaubte von dem Andern mehr zu empfangen, als er ihm geben konnte; Mangel und Reichtum auf beiden Seiten umarmten einander; so ward die Liebe unter uns."

In der Gemäldegallerie zu Düsseldorf, wohin Goethe mit den Gebrüdern Jacobi gereist war, fand sein Kunstsinn volle Befriedigung. Mit einem seiner Straßburger Bekannten, mit Jung-Stilling, traf Goethe in Elberfeld zusammen. Heinse, der Verfasser des Ardinghello, den er dort kennen lernte, bewunderte, nach einer brieflichen Äußerung, an dem damals fünf und zwanzigjährigen Goethe "das Genie, vom Wirbel bis zur Zehe, den Geist mit Adlersflügeln."

Nach den verschiedenartigsten Richtungen verlor sich, als er wieder nach Frankfurt zurückgekehrt war, Goethes literarische Tätigkeit. Er äußerte sich darüber in einem damaligen Briefe: "Geschrieben hab' ich allerlei, gewissermaßen wenig, im Grunde nichts. Wir schöpfen den Schaum von dem großen Strom der Menschheit mit unsern Kielen, und bilden uns ein, wenigstens schwimmende Inseln gefangen zu haben." So bezeichnete Goethe seine mannigfachen literarischen Entwürfe, von denen fast keiner ausgeführt ward. Längere Zeit beschäftigte ihn die Idee, das Leben Mahomets dramatisch zu behandeln. Mehrere Szenen wurden teils skizziert, teils vollendet. Erhalten hat sich jedoch von jenem Stück nichts weiter, als das in Goethes Werken aufbewahrte Gedicht: "Mahomets Gesang." Die bekannte Geschichte von dem ewigen Juden, die sich ihm schon früh durch die Volksbücher eingeprägt hatte, wollte er zu einem Epos benutzen. Auch die Fabel vom Prometheus hielt er für eine dramatische Bearbeitung geeignet, von der sich jedoch nichts weiter erhalten hat, als das in Goethes Werken aufbewahrte Gedicht "Prometheus." Vollendet ward von Goethe um diese Zeit (1774) nur das Trauerspiel "Clavigo", wozu ihm die von Beaumarchais geschriebenen Memoiren die nächste Veranlassung gegeben hatten. Gleichzeitig veröffentlichte Goethe aber auch unter dem Titel einer Farce seine dramatische Dichtung: "Götter, Helden und Wieland." In den Anmerkungen zu seiner Übersetzung Shakespeares hatte Wieland den großen Britten scharf getadelt. Durch diesen Tadel und die zu moderne Behandlung der griechischen Götter in dem von Wieland geschriebenen Singspiel "Alceste" gereizt und aufgeregt, schrieb Goethe jenes satirische Produkt, das seinen bisherigen Verhältnissen unvermutet eine ganz andere und für sein späteres Leben einflussreiche Wendung gab.

Durch jene Posse hatte Goethe die Aufmerksamkeit eines jungen Fürsten erregt, der sich für den Verfasser des Götz und Werther bereits lebhaft interessiert hatte. Es war der damalige Erbprinz und nachheriger Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar, der begleitet von seinem jüngeren Bruder, dem Prinzen Constantin und dessen Erzieher v. Knebel, auf einer damaligen Reise Frankfurt berührte. Goethe ward den beiden Fürsten auf deren Wunsch, vorgestellt und bald nachher, im November 1775, als geheimer Legationsrat nach Weimar gerufen, wo er im damaligen geheimen Konsilium Sitz und Stimme erhielt. Sein neues Verhältnis schilderte er in einem Briefe an Lavater vom 21. Dezember 1775 mit den Worten: "Ich bin hier in Weimar wie unter den Meinigen. Der Herzog wird mir immer werter, und ich ihm immer verbundener." In einem späteren Briefe vom 22. Januar 1778 meldete Goethe seinem Freunde Merk: "Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt. Meine Lage ist vorteilhaft genug, und die Herzogtümer Weimar und Eisenach sind immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesichte steht."

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