Die Leiden des jungen Werther
Der Stoff, den Goethe gewählt, war zu einer weit verbreiteten Wirkung geeignet. Indem er seinem eignen Freiheitsgefühl Luft machte, hatte er den deutschen Patriotismus genährt, der durch Klopstocks "Hermannsschlacht" und die Bardenlieder geweckt worden war. Der Anteil des Publikums an jener "wilden dramatischen Skizze," wie Goethe sein Schauspiel in späteren Jahren nannte, war um so größer, je edler und einnehmender die poetische Gestalt des historischen Götz von ihm gezeichnet worden war, der in einer wilden, gesetzlosen Zeit kein Bedenken trug, zur Selbsthülfe zu greifen. Unter dem Lobe, das dem Dichter sowohl der Schilderung der einzelnen Charaktere, als auch des Stils wegen gespendet ward, traf ihn auch mancher bittere Tadel, besonders der Vorwurf, das Faustrecht mit zu glänzenden Farben geschildert, und der gesetzlosen Willkür dadurch das Wort geredet zu haben. Goethe schien sich um die über sein dramatisches Produkt gefällten Urteile wenig zu kümmern. Belustigend aber war für ihn die Idee eines Buchhändlers, der ihn aufforderte, ein Dutzend solcher Stücke zu schreiben, und sie gut zu honorieren versprach.
Mit Goethes mannigfachen poetischen Entwürfen harmonierten nicht die völlig heterogenen Geschäfte, denen er sich in Wetzlar widmen musste. Die kalte Wirklichkeit, die seine Ideale zerstörte, erzeugte in ihm einen tiefen Unmut und beinahe völligen Lebensüberdruss, der noch verstärkt ward durch die leidenschaftliche Neigung zu einem ihm versagten Gegenstande. Durch den vertrauten Umgang mit Charlotte Buff, der Tochter eines Amtmanns in Wetzlar, die mit dem dort sich aufhaltenden Bremischen Gesandschaftssekretär Kestner verlobt war, suchte Goethe die Leere auszufüllen, die das aufgelöste Verhältnis mit der Pfarrerstochter in Sesenheim in seinem Herzen zurückgelassen hatte. Oft allein mit dem Gegenstande seiner Neigung, im Garten und auf einsamen Spaziergängen, fühlte er das Verderbliche seiner wachsenden Leidenschaft. Das Leben ward ihm gleichgültig, da seine hochfliegende Phantasie überall an die Schranken einer bürgerlichen Existenz im gewöhnlichsten Sinne des Worts stieß, die ihm keinen heitern Blick in die Zukunft gewährte. In seiner unmutigen Stimmung kam ihm sogar einige Mal der Gedanke, sich selbst das Leben zu nehmen. Um so erschütternder wirkte auf ihn der Selbstmord eines seiner Bekannten. Es war Karl Wilhelm Jerusalem, ein Sohn des bekannten Braunschweiger Theologen. Gepeinigt von einer unbefriedigten Leidenschaft zu eben dem Gegenstande, welchem Goethe nicht ohne harten Kampf entsagt, hatte jener unglückliche junge Mann sein Leben durch eine Kugel geendet.
Tief ergriffen von der genauen Schilderung jenes tragischen Ereignisses, unternahm es Goethe, in seinem "Werther" den qualvollen Zustand zu schildern, den er aus eigner Erfahrung kannte. Was er selbst empfunden, setzte sein Gemüt in eine leidenschaftliche Bewegung, und so geschah es, dass er seinem Roman das Feuer und die Glut einhauchte, die keinen Unterschied zulässt zwischen der Dichtung und der Wirklichkeit. Nach Goethes eignem Geständnis in späterer Zeit schrieb er, jede äußere Störung so viel als möglich vermeidend, den "Werther" in vier Wochen, ohne zuvor einen eigentlichen Plan entworfen oder einzelne Teile seines Romans ausgeführt zu haben. Er ward beinahe vergöttert wegen seines Werks, fand aber auf der andern Seite auch zahlreiche Gegner, besonders als das unglückliche Ende seines schwärmerischen Helden manche zu gleicher Tat reizte.
Dem vielfachen Unheil, dass man jenem Roman mit und ohne Grund beimaß, wäre zufälliger Weise beinahe vorgebeugt worden, wenn Goethe, verstimmt durch die Gleichgültigkeit Merks bei der Mitteilung seines Romans, den Entschluss ausgeführt hätte, ihn sofort zu verbrennen. Mit dem Buchhändler Weygand in Leipzig war Goethe über den Verlag seines Romans einig geworden. Gerade an dem Hochzeitstage seiner Schwester Cornelia kam der Brief Weigands an, der ihn aufforderte, das Manuskript nach Leipzig zu senden. Der "Werther" erschien 1774, und bereits im nächsten Jahre eine neue Ausgabe mit einigen Zusätzen und mit einigen späterhin weggelassenen Versen auf dem Titelblatte der beiden Teile des Romans.
Die Nachwirkung des Werther
Goethe war, als er sein Werk vollendet, wieder heiterer geworden. Er hatte sich, nach seinem eignen Geständnis in späteren Jahren, "aus einem stürmischen Element gerettet auf dem er durch eigene und fremde Schuld, durch zufällige und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz und Übereilung umhergetrieben worden war."
In Bezug auf die zahllosen Nachahmungen, Kritiken und Parodien seines Werks äußerte er sich unmutig in einem Briefe vom 6. März 1775 mit den Worten: "Ich bin des Ausgrabens und Sezierens meines Werther herzlich satt. Der Eine schilt, der Andere lobt, der Dritte sagt, es gehe doch noch an, und so hetzt mich Einer wie der Andere. Nimmt mir's doch," fügte er hinzu, "nichts von meinem Ganzen, rührt's und rückt mich's doch nicht in meinen Arbeiten, die immer nur die aufbewahrten Freuden und Leiden meines Lebens sind." An einer von dem Berliner Buchhändler Friedrich Nicolai herausgegebenen Schrift, "die Freuden des jungen Werther" betitelt, rächte sich Goethe durch ein satirisches Gedicht: "Nicolai an Werthers Grabe" und durch einen in Prosa geschriebenen Dialog zwischen Lotte und Werther. Beide Produkte blieben ungedruckt.
Den mannigfachen Fragen, die über das Leben und den Charakter des unglücklichen Jünglings, den er in seinem Roman geschildert, an ihn gerichtet wurden, suchte Goethevergebens auszuweichen. Die Neugier des Publikums befriedigte einigermaßen der unbekannte Verfasser einer damals (1775) erschienenen Schrift: "Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers." Ungeachtet der ihm lästigen Zudringlichkeit fühlte sich Goethe doch als Autor geschmeichelt, dass mehrere talentvolle junge Männer seine Bekanntschaft suchten oder den Umgang mit ihm erneuerten. Am innigsten schloss sich, als er wieder nach Frankfurt zurückgekehrt war, der Dichter Lenz an ihn an, den er schon, wie früher erwähnt, in Straßburg kennen gelernt hatte. Er zeigte ihm mehrere seiner dramatischen Produkte, den "Hofmeister," den "neuen Mendoza" u.a.m. Auch Wagner, der als Doktor der Rechte und Advokat in Frankfurt, gleichfalls der Poesie huldigte, kam dem Verfasser des Götz und Werther mit treuherziger Offenheit entgegen. Er täuschte jedoch Goethes Vertrauen, der ihm mehrere seiner dramatischen Pläne mitgeteilt hatte. Gretchens Katastrophe im Faust benutzte Wagner unter andern für ein von ihm geschriebenes Trauerspiel, "die Kindesmörderin" betitelt. Reiner und inniger war das Verhältnis Goethes zu seinem Landsmann, dem Dichter Klinger.
Mit Lavater hatte Goethe schon längere Zeit in Briefwechsel gestanden, und ihm, außer mehreren literarischen Entwürfen, den "Werther" im Manuskript mitgeteilt. Den 20. August 1774 schrieb er an Lavater: "Du wirst großen Anteil nehmen an den Leiden des lieben Jungen, den ich darstelle. Wir gingen neben einander, an die sechs Jahre, ohne uns zu nähern; und nun hab' ich seiner Geschichte meine Empfindungen geliehen, und so macht's ein wunderliches Ganze." In Bezug auf seine Tätigkeit bemerkte er in diesem Briefe: "Ich bin nicht lass; so lange ich auf der Erde bin, erobere ich gewiss meinen Schritt Landes täglich." Über seine Beschäftigungen erteilte er einige Auskunft in einem späteren Schreiben vom 18. Oktober 1774. "Meine Arbeit," äußerte er, "hat bisher in Portraits im Großen und in kleinen Liebesliedern bestanden. Ich habe seit drei Tagen mit dem mir möglichsten Fleiße gearbeitet, und bin noch nicht fertig. Es ist gut, dass man einmal Alles tue, was man tun kann." Lavaters Vorwürfe über die Zersplitterung seiner Zeit und Kräfte fertigte Goethe mit den Worten ab: "Was neckst Du mich wegen meiner Amüsements? Ich wollte, ich hätte eine höhere Bestimmung, so wollte ich weder meine Handlungen Amüsements nennen, noch mich, statt zu handeln, amüsieren."