Goethes Versuch einer Historie

In einem Briefe an Merk, vom 7. April 1780, meldete Goethe seine Genesung von einer langwierigen Krankheit, die ihn bald nach der Rückkehr aus der Schweiz befallen. "Schon in Frankfurt," schrieb er, "und als wir in der Kälte an den Höfen herumzogen, war mir's nicht just. Die Bewegung der Reise ließ es nicht zum Ausbruch kommen. Doch hatte ich eine böse Zusammengezogenheit, eine Kälte, und Unteilnehmung, die Jedermann auffiel und gar nicht natürlich war. Jetzt geht Alles wieder ganz gut."

Dieser Brief Goethes enthielt zugleich flüchtige Andeutungen über manche literarische Entwürfe, die jedoch größtenteils unausgeführt blieben. "Der wichtigste Teil meiner Schweizerreise," schrieb er, "ist aus einzelnen, im Moment geschriebenen Blättchen und Briefchen durch eine lebhafte Erinnerung komponiert. Wieland deklarierte es für ein Poema. Ich habe aber noch weit mehr damit vor, und wenn es mir glückt, so will ich mit diesem Garn viele Vögel fangen. Zur Geschichte Herzog Bernhards von Weimar hab' ich viele Dokumente und Kollektaneen zusammengebracht, kann sie schon ziemlich erzählen, und will, wenn ich erst den Scheiterhaufen gedruckter und ungedruckter Nachrichten, Urkunden und Anekdoten recht zierlich zusammengelegt, ausgeschmückt, und eine Menge schönen Räucherwerks und Wohlgeruchs darauf herumgestreut habe, ihn einmal bei schöner trockner Nachtzeit anzünden, und auch dieses Kunst- und Lustfeuer zum Vergnügen des Publici brennen lassen."

Auch in einem späteren Briefe an Lavater, vom 5. Juni 1780, nahm Goethe die Idee einer Biographie des Herzogs Bernhard wieder auf. "Ich scharre", schrieb er, "nach meiner Art, Vorrat zu einer Lebensbeschreibung dieses als Helden und Herrscher wirklich sehr merkwürdigen Mannes, der in seiner kurzen Laufbahn ein Liebling der Menschen gewesen ist, allmählich zusammen, und erwarte die Zeit, wo mir's vielleicht glücken wird, ein Feuerwerk daraus zu machen. Seine Jahre fallen in den dreißigjährigen Krieg. Sein und seiner Brüder Familiengemälde interessiert mich noch am meisten, da ich ihren Urenkeln, in denen so manche Züge leibhaftig wiederkommen, so nahe bin. Übrigens versuche ich allerlei Beschwörungen und Hocus pocus, um die Gestalten gleichzeitiger Helden und Lumpen in Nachahmung der Hexe zu Endor wenigstens bis an den Gürtel aus dem Grabe steigen zu lassen, und allenfalls irgend einen König, der an Zeichen und Wunder glaubt, ins Bockshorn zu jagen."

Über jene Idee, die er wieder aufgab, äußerte sich Goethe in späteren Jahren mit den Worten: "Manche Zeit und Mühe ward auf den Vorsatz, das Leben Herzog Bernhards zu schreiben, vergebens aufgewendet. Nach vielfachem Sammeln und mehrmaligem Schematisieren ward zuletzt nur allzu klar, dass die Ereignisse des Helden kein Bild machten. In der jammervollen Ilias des dreißigjährigen Krieges spielte er eine würdige Rolle, ließ sich aber von jener Gesellschaft nicht absondern. Einen Ausweg glaubte ich jedoch gefunden zu haben. Ich wollte das Leben schreiben wie einen ersten Band, der den zweiten notwendig machte. Überall sollten Verzahnungen stehen bleiben, damit Jedermann bedauerte, dass ein frühzeitiger Tod den Baumeister verhindert habe, sein Werk zu vollenden. Für mich war diese Bemühung nicht unfruchtbar; denn wie das Studium zu Götz von Berlichingen mir tiefere Einsicht in das fünfzehnte und sechszehnte Jahrhundert gewährte, so musste mir diesmal die Verworfenheit des siebzehnten sich mehr entwickeln, als sonst vielleicht geschehen wäre."

Goethes Kunstinteresse

Auch durch anderweitige Beschäftigungen mochte Goethe jener historischen Arbeit entzogen worden sein. Noch immer betrieb er mit lebhaftem Interesse die seit frühester Jugend ihm liebgewordenen Kunststudien. Seine Briefe an Merk und Lavater enthielten mannigfache Äußerungen über den Entwurf und die Ausführung wertvoller Landschaften, Blätter und Skizzen, die er teils besaß, teils zu erhalten wünschte, um seine Sammlung zu vervollständigen. Über Albrecht Dürer schrieb er den 6. März 1780 an Lavater: "Ich verehre täglich mehr die mit Gold und Silber nicht zu bezahlende Arbeit des Mannes, der, wenn man ihn recht im Innersten erkennen lernt, an Wahrheit, Erhabenheit, und selbst Grazie nur die ersten Italiener zu seines Gleichen hat. Dieses wollen wir laut sagen." In diesem Briefe erwähnte er den Besitz einer Sammlung von "geistigen Handrissen, besonders in Landschaften", die er zu vermehren wünschte. Er schrieb darüber an Lavater: "Passe doch auf, dir geht so vieles durch die Hände. Wenn du so ein Blatt findest, worauf die erste, schnellste, unmittelbarste Äußerung des Künstlergeistes gedruckt ist, so lasse es dir nicht entwischen, wenn du's um leidliches Geld haben kannst. Mir macht's ein besonderes Vergnügen."

Genährt ward Goethes Kunstinteresse durch einen vierzehntägigen Aufenthalt Oesers in Ettersburg. Nichts konnte ihm erfreulicher sein, als das Wiedersehen seines alten Leipziger Freundes und Lehrers, dem er, nach seinem eignen Geständnis in früher mitgeteilten Briefen, einen großen Teil seiner Bildung verdankte. Oeser war vielfach beschäftigt mit der Einrichtung und Anordnung des Liebhabertheaters in Ettersburg, auf welchem das von Goethe nach Aristophanes bearbeitete Lustspiel: "die Vögel" vorgestellt werden sollte. Goethe schrieb über Oeser: "Der Alte hatte den ganzen Tag etwas zu kramen, anzugeben, zu verändern, zu zeichnen, zu deuten, zu besprechen, zu lehren u.s.w., dass keine Minute leer war. Seitdem er fort ist, geht's freilich ein wenig stiller und einfacher zu."

Durch Oesers Abreise wich Goethes Neigung zur Kunst allmählich dem in späteren Jahren wachsenden Interesse an mannigfachen Naturgegenständen. Seinem Freunde Merk hatte er in einem Briefe vom 3. Juli 1780 die Nachricht mitgeteilt, dass der Bildhauer Klauer Oesers Kopf "allerliebst bossiert", und dass derselbe in Gips gegossen und in grauen Stein gehauen werden solle. "Apropos", fügte er hinzu, "von Steinen hab' ich jetzt etwas sehr Angenehmes und Unterhaltendes angefangen. Durch einen jungen Menschen, den wir zum Bergwesen herbeiziehen, lasse ich eine mineralogische Beschreibung von Weimar, Eisenach und Jena machen. Er bringt alle Steinarten mit seiner Beschreibung überein, und nummeriert mit, woraus ein sehr einfaches aber für uns interessantes Kabinett entsteht. Wir finden auch mancherlei, was gut und nützlich, ich will aber nicht sagen, einträglich ist." Seinen Brief schloss Goethe mit der an Merk gerichteten Bitte: "Du tust mir einen großen Gefallen, wenn du mir gelegentlich ein Stück von den Graniten schicktest, die nicht weit von euch im Gebirge liegen, wo große abgesägte Stücke davon glauben machen, dass die Römer ihre Obelisken daher geholt haben. Wenn du einmal Gelegenheit findest zu erforschen, was der Felsberg auf seiner höchsten Höhe für Steine hat, wird es mir auch sehr angenehm sein."

Wiederentdecken der Poesie

Während Goethe das Gebiet der Wissenschaft und Kunst nach den mannigfachsten Richtungen durchstreifte, schien seine poetische Tätigkeit zu schlummern. Geweckt ward sie wieder durch die Erscheinung von Wielands Oberon. Er schrieb darüber an Merk den 7. April 1780: "Du wirst den Oberon gelesen und dich daran erfreut haben. Ich habe Wielandn' dafür einen Lorbeerkranz geschickt, der ihn sehr erfreut hat." Nach einem späteren Briefe an Lavater vom 3. Juli 1780 war Goethe überzeugt: "so lange Poesie Poesie, Gold Gold und Crystall Crystall bleibe, werde auch Wielands Oberon als ein Meisterstück poetischer Kunst geliebt und bewundert werden."

Von dem genannten Epos begeistert, warnte er in einem Briefe vom 24. Juni 1780 vor der seichten und anmaßenden Kritik, die auch das Trefflichste nicht verschone. "Bei Gelegenheit von Wielands Oberon", schrieb er an Lavater, "brauchst du das Wort Talent, als wenn es der Gegensatz von Genie wäre, wo nicht ganz, doch wenigstens etwas Subordiniertes. Wir sollten aber bedenken, dass das eigentliche Talent nichts weiter sein kann, als die Sprache des Genies. Ich will nicht schikanieren, denn ich weiß wohl, was du im Durchschnitt damit sagen willst, und ich zupfe dich nur beim Aermel. Wir sind oft gar zu freigebig mit allgemeinen Worten, und schneiden, wenn wir ein Buch gelesen haben, das uns von Seite zu Seite Freude gemacht, und aller Ehren wert vorgekommen ist, endlich gern mit der Schere so gerade durch, wie durch einen weißen Bogen Papier. Wenn ich ein solches Werk auch bloß als ein Schnitzbildchen ansehe, so wird es doch der feinsten Schere unmöglich, alle kleinen Formenzüge und Linien, worin der Wert liegt, heraus zu sondern. Es ist nachher noch eins, was man nicht so leicht an einem solchen Werke schätzt, weil es so selten ist: dass nämlich der Autor nichts hat machen wollen und gemacht hat, als was eben da steht. Für das Gefühl, die Kunst und Freiheit, vieles wegzulassen, gebührt ihm freilich der größte Dank, den ihm aber auch nur der Künstler und Mitgenosse gibt."

Damit beruhigte sich Goethe bei dem einseitigen Urteil, das von mehreren Seiten seinen "Triumph der Empfindsamkeit" traf, eine harmlose Satire auf das damalige Weimarische Theaterpersonal, mit Anspielungen auf mancherlei Vorfälle und Tagesereignisse. Manchen Tadel musste er auch vernehmen über die vorherrschende Sentimentalität in dem von ihm geschriebenen Schauspiel "Lila", in dem Drama "die Geschwister," und in andern seiner damaligen Produkte. In eine dramatische Form kleidete Goethe auch mehrere teils ernste, teils scherzhafte Gedichte, zu denen er durch Festlichkeiten des Weimarischen Hofes veranlasst ward.

Eine höhere poetische Idee lag seiner "Iphigenie" zum Grunde. Der erste Entwurf dieses Schauspiels und seines erst mehrere Jahre später vollendeten Romans: "Wilhelm Meisters Lehrjahre" fällt in diese Periode von Goethes Leben. Das Urteil seiner Freunde, denen er mehrere von seinen damaligen Produkten handschriftlich mitteilte, war ihm nicht gleichgültig. Den 24. Juli 1780 schrieb er an Lavater: "Dass du Freude gehabt hast an meiner Iphigenie, ist mir ein außerordentliches Geschenk. Da wir mit unsern Existenzen so nahe stehen, und mit unsern Gedanken und Imaginationen so weit auseinander gehen wie zwei Schützen, die mit dem Rücken aneinander lehnend, nach ganz verschiedenen Zielen schießen, so erlaube ich mir niemals den Wunsch, dass meine Sachen dir etwas werden könnten. Ich freue mich deswegen recht herzlich, dass ich auch mit diesem Produkt wieder ans Herz gekommen bin."

In solcher Stimmung verschmerzte Goethe den Verdruss und Unmut, den ihm ein gewinnsüchtiger Buchhändler, Himburg in Berlin, bereitet hatte, als er ohne Goethes Mitwissen eine Sammlung seiner bisherigen Schriften in zwei Oktavbänden veranstaltete. Goethe erhielt von ihm einen Brief, in welchem er dem Publikum einen großen Dienst erwiesen zu haben meinte, und sich erbot, dem Dichter als einen Beweis seiner Erkenntlichkeit einiges Berliner Porzellan zu schicken. Empört über die Anmaßung des unberufenen Verlegers seiner Schriften, ließ Goethe das an ihn gerichtete Schreiben unbeantwortet, und rächte sich im Stillen durch einige satirische Verse.

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