Goethes wissenschaftliche Forschungen
Wissenschaftliche Forschungen der verschiedensten Art behielten für ihn ein lebhaftes Interesse. Immer neuen Genuss schöpfte er aus der Betrachtung der Natur, auch der anorganischen, auf seinen öfteren Reisen in die Umgebung, besonders nach Franken, als Begleiter des Herzogs von Weimar. In Bezug auf seine mineralogischen Studien bemerkte Goethe in einem Briefe an Merk vom 11. Oktober 1780: "Ich habe mich diesen Wissenschaften mit völliger Leidenschaft ergeben, und habe eine sehr große Freude daran. Dabei schränke ich mich aber nicht, wie die neuesten Kursachsen, philisterhaft darauf ein, ob jener Berg dem Herzog von Weimar gehört oder nicht. Wie ein Hirsch, der ohne Rücksicht des Territoriums sich äset, so denk' ich, muss der Mineraloge auch sein. Und so hab' ich vom Gipfel des Inselbergs, des höchsten vom Thüringerwalde, bis ins Würzburgische, Fuldaische, Hessische, Kursächsische, bis über die Saale hinüber, und wieder so weiter bis Saalfeld und Coburg herum, meine schnellen Ausflüge getrieben; habe die meisten Stein- und Gebirgsarten von allen diesen Gegenden beisammen, und finde in meiner Art zu sehen, das bisschen Metallische, das den mühseligen Menschen in die Tiefen hinein lockt, immer das Geringste. Durch dieses alles zusammen und durch die Kramereien meiner Vorgänger bin ich im Stande, einen kleinen Aufsatz zu liefern, der gewiss interessant sein soll. Ich habe jetzt die allgemeinsten Ideen und gewiss einen reinen Begriff, wie alles auf einander steht und liegt, ohne Prätension auszuführen, wie es auf einander gekommen ist. Da ich einmal nichts aus Büchern lernen kann, so fang' ich erst jetzt an, nachdem ich die meilenlangen Blätter unserer Gegenden umgeschlagen habe, auch die Erfahrungen Anderer zu studieren und zu nutzen. Dies Feld ist, wie ich jetzt erst sehe, kurze Zeit her mit großem Fleiße bebaut worden, und ich bin überzeugt, dass bei so viel Versuchen und Hilfsmitteln ein einziger großer Mensch, der mit den Füßen oder dem Geist die Welt umlaufen könnte, diesen seltsam zusammengebauten Ball ein- für allemal erkennen und beschreiben könnte, was vielleicht schon Büffon im höchsten Sinne getan hat, weshalb auch Franzosen und Deutschfranzosen sagen, er habe einen Roman geschrieben, welches sehr wohl gesagt ist, weil das ehrsame Publikum alles Außerordentliche nur durch den Roman kennt."
Durch diese Studien und andere Lieblingsneigungen ward Goethe nicht der Amtstätigkeit entzogen, die seine Stellung als Geheimer Rat mit Sitz und Stimme in mehreren Kollegien von ihm forderte. Die Huld seines Fürsten hatte ihn von manchen lästigen Geschäften befreit. Auch ward ihm, nach einem früher mitgeteilten Geständnisse, "sein Tagewerk leicht." Gleichwohl beklagte er sich in einem im Februar 1781 an Lavater geschriebenen Briefe, dass er fast zu viel auf sich lade. Er fügte hinzu: "Staatssachen sollte der Mensch, der darein versetzt ist, sich ganz widmen, und ich möchte doch auch so vieles Andere nicht fallen lassen."
In gleichem Sinne hatte er schon in einem früheren Briefe an Lavater geäußert: "Den guten Landes- und Hausvater würdest du näher nur bedauern. Was da auszustehen ist, spricht keine Zunge aus. Herrschaft wird Niemand angeboren, und der sie ererbte, muss sie so bitter gewinnen, wie der Eroberer, wenn er sie haben will, und bitterer. Es versteht dies kein Mensch, der seinen Wirkungskreis aus sich geschaffen und ausgetrieben hat." Dann tröstete er sich wieder mit dem behaglichen Gefühl der Gesundheit. In einem Briefe an Lavater vom 18. März 1781 sprach er den Wunsch aus, dass Gott ihn noch lange auf dieser schönen Welt erhalten und ihm Kraft verleihen möchte, ihr zu dienen und sie zu nutzen. "Mit mir steht's gut," schrieb er, "besonders innerlich. In weltlichen Dingen erwerb' ich täglich mehr Gewandtheit, und vom Geiste fallen mir täglich Schuppen und Nebel, dass ich denke, er müsste ganz nackt dastehen, und doch bleiben ihm noch Hüllen genug."
Goethes Liebe zur Natur
Was ihn besonders über den Druck und Wechsel äußerer Lebensverhältnisse erhob, war Goethes Sinn für die Schönheiten der Natur. Mannigfachen Genuss bot ihm sein am Weimarischen Park gelegener Garten. "Die nächsten Wochen des Frühlings," schrieb er den 9. April 1781 an Lavater, "sind mir gesegnet. Jeden Morgen empfängt mich eine neue Blume oder Knospe. Die stille, reine, immer wiederkehrende, leidenslose Vegetation tröstet mich oft über der Menschen Not, ihre moralischen und noch mehr physischen Übel." Ähnliche Äußerungen enthielt ein späterer Brief an Lavater vom 22. Juni 1781. "Glaube mir," schrieb Goethe, "unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniert, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer Bewohner Verhältnisse wohl Niemand denkt und sinnt. Nun wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, und dort einmal ein Rauch aufgeht aus einer Schlucht."
Von solchen Betrachtungen wandte sich Goethe, wie er es schon in seiner Jugend getan, zum Übersinnlichen. "Ich bin," schrieb er an Lavater, "geneigter als Jemand, noch an eine Welt, außer der sichtbaren, zu glauben, und ich habe Dichtungs- und Lebenskraft genug, sogar mein eignes beschränktes Selbst zu einem Swedenborgischen Geister-Universum erweitert zu fühlen. Alsdann mag ich aber gern, dass das Alberne und Ekelhafte menschlicher Exkremente durch eine feine Gärung abgesondert, und der reinlichste Zustand, in den wir versetzt werden können, empfunden werde."
Unter mannigfachen Arbeiten und Zerstreuungen war Goethe, nach seinen eignen Worten, wieder zur Poesie zurückgekehrt. Neben der noch unvollendeten "Iphigenie" beschäftigte ihn die Idee, Torquato Tasso, den Dichter des befreiten Jerusalems, zum Helden eines Dramas zu wählen. Den Stoff zu den Umgebungen seines Schauspiels fand er an dem Hofe der Herzogin Amalie von Weimar. Dort lernte er den Ton kennen, der solchen Umgebungen ziemte. Seinem Freunde Lavater berichtete Goethe den 14. November 1781, er habe den ersten Akt seines "Tasso" vollendet. "Ich wünsche," fügte er hinzu, "dass er auch für dich geschrieben sein möchte." Goethe befand sich übrigens in einer Stimmung und in Verhältnissen, die der raschen Förderung seines Werks nicht günstig schienen. "Die Unruhe, in der ich lebe," schrieb er, "lässt mich nicht über dergleichen vergnügliche Arbeiten bleiben, und so sehe ich auch noch nicht den Raum vor mir, die übrigen Akte zu enden. Es geht mir, wie es den Verschwendern geht, die in dem Augenblicke, wenn über Mangel an Einnahme, überspannte Schulden und Ausgaben geklagt wird, gleichsam von einem Geiste des Widerspruchs außer sich gesetzt, sich in neue Verbindungen und Unkosten zu stürzen pflegen."
Treffend hatte Goethe in diesem Briefe sich selbst und die Beweglichkeit seines Geistes geschildert, die ihn nicht lange bei einem und demselben Gegenstande verweilen ließ. Auch das dramatische Interesse vermochte ihn nicht ausschließlich zu fesseln. In dem eben erwähnten Briefe meldete Goethe: "Auf unserer Zeichnungsakademie hab' ich mir diesen Winter vorgenommen, mit den Lehrern und Schülern den Knochenbau des menschlichen Körpers durchzugehen, sowohl um ihnen als mir zu nützen, sie auf das Merkwürdige dieser einzigen Gestalt zu führen, und sie dadurch auf die erste Stufe zu stellen, das Bedeutende in der Nachahmung sichtlicher Dinge zu erkennen und zu suchen. Zugleich behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles Menschliche anhängen lässt; habe dabei den Vorteil, zweimal die Woche öffentlich zu reden, und über Dinge, die mir wert sind, mich mit aufmerksamen Menschen zu unterhalten." Das sei, meinte er, ein Vergnügen, dem er in dem gewöhnlichen Welt-, Geschäfts- und Hofleben entsagen müsste. Seine Jahre spornten ihn zu verdoppelter Tätigkeit. "Mit meinem Leben," schrieb er, "rückt es stark vor, und ich fange nun bald an zu begreifen, warum wir, sobald wir uns hienieden einzurichten angefangen haben, wieder weiter müssen."
Amtsgeschäfte fesseln Goethes Kraft
Überhäufte Amtsgeschäfte nahmen damals Goethes Kräfte fast übermäßig in Anspruch. Den 16. Juli 1782 schrieb er an Merk: "Es geht mir, wie dem Treufreund in meinen Vögeln. Mir wird ein Stück des Reichs nach dem andern auf einem Spaziergange übertragen. Diesmal muss mir's nun freilich ernst, sehr ernst sein, denn mein Herr Vorgänger hat mir viel Arbeit gemacht. Manchmal wird mir's sauer, denn ich stehe redlich aus. Dann denk' ich wieder: Hic est aut nusquam, quod quaerimus." Auf ähnliche Weise äußerte sich Goethe in einem späteren Briefe vom 29. Juli 1782: "Von mir hab' ich nichts zu sagen, als dass ich mich meinem Beruf aufopfere, in dem ich nichts weiter suche, als wenn es das Ziel meiner Begriffe wäre."
Von den irdischen Angelegenheiten wandte sich Goethe wieder zu dem Übersinnlichen. Sein Interesse daran ward durch den Briefwechsel mit Lavater lebendig erhalten. "Dass du", schrieb er den 4. Oktober 1782, "mir noch einmal den inneren Zusammenhang deiner Religion vorlegen wolltest, war mir sehr willkommen. Wir werden ja nun wohl bald einmal einander über diesen Punkt kennen und in Ruhe lassen. Großen Dank verdient die Natur, dass sie in die Existenz eines jeden lebenden Wesens auch so viel Handlungskraft gelegt hat, dass es sich, wenn es an einem oder dem andern Ende zerrissen wird, selbst wieder zusammenflicken kann; und was sind tausendfältige Religionen anders, als tausendfache Äußerungen dieser Heilungskraft? Mein Pflaster schlägt bei dir nicht an, deins nicht bei mir; in unsres Vaters Apotheke sind viel Rezepte. So hab' ich auf deinen Brief nichts zu antworten, nichts zu widerlegen; aber dagegen zu stellen hab' ich vieles. Wir sollten einmal unsere Glaubensbekenntnisse in zwei Kolumnen neben einander setzen, und darauf einen Friedens- und Toleranzbund errichten."
Näher, als diese religiösen Betrachtungen, lagen Goethes Liebe zur Natur und seinem heitern Weltsinn seine geognostischen und mineralogischen Studien. Auch die Osteologie hatte er, wie bereits erwähnt, in den Kreis seiner Forschungen gezogen. "Ich freue mich", schrieb er den 23. April 1784 an Merk, "dass du so frisch fort arbeitest in deinem Knochenwesen. Ich habe die Zeit über auch Verschiedenes in anatomicis, wie es die Zeit erlauben wollte, gepfuscht, wovon ich vielleicht ehestens etwas werde produzieren können." In einem späteren Briefe an Merk, vom 6. August 1784, schrieb Goethe: "Schicke mir den Schädel deiner Myrmecophaga sobald als möglich; du erzeigst mir dadurch einen außerordentlichen Gefallen. Ich brauche ihn zu meiner Inaugural Disputation, durch welche ich mich in eurem docto corpore zu legitimieren gesonnen bin. Das eigentliche Thema halte ich noch geheim, um euch eine angenehme Überraschung zu machen. Ich komme nunmehr wieder auf den Harz, und werde meine mineralogischen und oryktologischen Beobachtungen, in denen ich bisher unermüdlich fortgefahren, immer weiter treiben. Ich fange an, auf Resultate zu kommen, die ich aber bis jetzt noch für mich behalte." Diese Resultate teilte Goethe bald nachher in einer in seinen Werken aufbewahrten Abhandlung mit, in welcher er zu beweisen suchte, "dass den Menschen, wie den Tieren, ein Zwischenknochen der oberen Kinnlade zuzuschreiben sei."