Goethe im höheren Alter

Zu den erfreulichsten Erscheinungen für Goethe in seinem höheren Alter gehörte die durch zahlreiche Gedichte seiner Freunde und Verehrer und durch sonstige wertvolle Gaben gefeierte Wiederkehr seines Geburtstages. Innig freute er sich, dass sein Talent noch immer eine Anerkennung fand zu einer Zeit, wo eine einseitige und befangene Kritik ihm seinen wohlverdienten Dichterruhm zu schmälern suchte. Zu einer allgemeinen und würdigen Feier, nicht bloß in Weimar, sondern auch in mehreren andern Städten Deutschlands ward Goethes Jubelfest im Jahr 1825. Die fünfzigste Wiederkehr des Tages, an welchem Goethe in den Weimarischen Lebenskreis eingetreten war, sollte zugleich als sein Dienstjubiläum gefeiert werden. Dies geschah auf den Wunsch seines Fürsten, dem er ein halbes Jahrhundert hindurch seine treue Gesinnung als Staatsmann, Dichter, Ratgeber und Freund im höchsten Sinne des Worts in mannigfacher Weise betätigt hatte. Ähnliche Festlichkeiten, von denen eine in Weimar erschienene Schrift eine ausführliche Beschreibung lieferte, hatten einige Monate früher, den 5. November 1825 bei dem durch Goethe mehrfach verherrlichten Regierungsjubiläum seines Fürsten statt gefunden.

Goethe war dadurch seiner gewohnten stillen Tätigkeit entzogen worden. Die Nachwirkungen jener geräuschvollen Tage schien er noch lange zu empfinden. Er schrieb darüber den 16. November 1825: "Wie der Eindruck des Unglücks durch die Zeit gemildert wird, so bedarf das Glück auch dieses wohltätigen Einflusses. Erst nach und nach erhole ich mich vom 7. November. Solchen Tagen sucht man sich im Augenblick möglichst gleich zu stellen, fühlt aber erst hinterher, dass eine solche Anstrengung notwendig einen abgespannten Zustand zur Folge hat. Ich bin höchst bedrängt, zwar nicht von Sorgen, aber doch von Besorgungen, und das kann sich zuletzt zu einem Grade steigern, dass es fast dasselbe wird."

Den Standpunkt, aus welchem Goethe im höheren Alter das Leben mit seinen mannigfach wechselnden Erscheinungen betrachtete, zeigte folgende Stelle in einem Briefe vom 19ten März 1827: "Mir erscheint der zunächst mich berührende Personenkreis wie ein Konvolut sibyllinischer Bücher, deren eins nach dem andern, von Lebensflammen aufgezehrt, in der Luft zerstiebt, und dabei den übrig bleibenden von Augenblick zu Augenblick höheren Wert verleiht. Wirken wir fort, bis wir, vor oder nach einander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren. Möge dann der ewig Lebendige uns neue Tätigkeiten, denen analog, in welchem wir uns schon erprobt, nicht versagen. Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten, was wir hier schon gewollt und geleistet, väterlich hinzu, so werden wir gewiss um desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen. Die entelechische Monade muss sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten; wird ihr diese zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen. Man verzeihe mir diese obstrusen Ausdrücke. Hat der Mensch sich doch von jeher in solche Regionen verloren, in solchen Spracharten sich mitzuteilen versucht, da, wo die Vernunft nicht hinreichte, und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen."

Goethes rastloser Genius

Unter Goethes poetischen Entwürfen beschäftigte ihn vorzüglich eine Fortsetzung seines "Faust." Diese Tragödie, zu welcher er ein Zwischenspiel, "Helena" betitelt, gedichtet hatte, sollte einen zweiten Teil erhalten. Mit dieser poetischen Arbeit beschäftigte er sich größtenteils in seiner am Park gelegenen Gartenwohnung. Heiter gestimmt ward er durch den Anblick der freien Natur. "Die Vegetation," schrieb er, "hat sich dieses Jahr in der ganzen Umgebung auch an alten Bäumen bemerklich gemacht, und so freue ich mich des lange Versäumten und Vernachlässigten noch mehr, als eines Vermissten und Ersehnten. Ich fühle mich genötigt, jeden Tag wenigstens einige Stunden in meinem Garten zuzubringen." Den 21. November 1827 meldete Goethe, der zweite Teil des Faust rücke rasch fort. "Die Aufgabe," schrieb er, "ist hier, wie bei der Helena, das Vorhandene so zu bilden und zu richten, dass es zum Neuen passe und klappe, wobei manches zu verwerfen, manches umzuarbeiten ist."

Sein selten wankender Gesundheitszustand gönnte ihm eine rastlose Tätigkeit. Er hatte daher auch seit einigen Jahren seine gewöhnlichen Sommerreisen nach Karlsbad und Töplitz aufgegeben. Hinsichtlich seiner Arbeiten meinte er in einem Briefe vom 22. April 1828: "Wenn der Mensch nicht von Natur zu seinem Talent verdammt wäre, so müsste man sich als töricht schelten, dass man in einem langen Leben immer neue Pein und wiederholtes Mühsal sich aufläde."

Den Eindruck, den der Tod seines von ihm innig verehrten Fürsten, des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar, der den 14. Juni 1828 zu Graditz bei Torgau gestorben war, auf Goethe machte, schilderte ein aus Dornburg vom 10. Juli datierter Brief. "Bei dem schmerzlichsten Zustande meines Innern," schrieb Goethe, "musste ich wenigstens meine äußern Sinne schonen. Ich begab mich daher den 7. Juli hierher, um den düstern Funktionen zu entgehen, wodurch man, wie billig und schicklich, der Menge symbolisch darstellt, was sie im Augenblicke verloren hat, und was sie diesmal gewiss auch in jedem Sinne empfindet."

Linderung für seinen Schmerz fand Goethe in der schönen Natur Dornburgs und der Umgebung, wo er längere Zeit verweilte. "Ein reich ausgestatteter Blumengarten," schrieb er, "vollhängende Weingelände sind mir überall zur Seite, und da tut sich dann die alte wohlfundierte Liebschaft wieder auf. Gründliche Gedanken sind ein Schatz, der im Stillen wächst, und Interessen zu Interessen schlägt. Davon zehre ich denn auch gegenwärtig, ohne den kleinsten Teil aufzehren zu können. Denn das ächte Lebendige wächst nach, wie das Bösartige der Hydra auch nicht zu tilgen ist." Diese Äußerung entlockten dem greisen Dichter die mannichfachen Versuche seiner Gegner, seine poetischen und wissenschaftlichen Bestrebungen in einem falschen Lichte zu zeigen, und ihn dadurch in der Achtung des Publikums herabzusetzen. Goethe äußerte sich darüber mit den Worten: "Von allem, was gegen mich geschieht, keine Notiz zu nehmen, wird mir im Alter, wie in der Jugend erlaubt sein. Ich habe Breite genug, mich in der Welt zu bewegen, und es darf mich nicht kümmern, ob sich irgend einer da oder dort in den Weg stellt, den ich gegangen bin."

Über die ungenügenden und fehlerhaften Geisteserzeugnisse mancher neueren Schriftsteller, vorzüglich auf dem wissenschaftlichen Felde, äußerte sich Goethe unmutig in einem Briefe vom 2. Januar 1829. "Es gibt," schrieb er, "sehr vorzügliche Leute, aber die Hansnarren wollen alle von vorn anfangen, und unabhängig, selbstständig, original, eigenmächtig, uneingreifend, gerade vor sich hin, und wie man die Torheiten alle nennen möchte, wirken, und dem Unerreichbaren genug tun. Ich sehe diesem Gange seit 1789 zu, und weiß, was hätte geschehen können, wenn irgend Einer rein eingegriffen, und nicht jeder ein Peculium für sich behalten hätte. Mir ziemt jetzt 1829 über das Vorliegende klar zu werden, es vielleicht auszusprechen. Doch wenn mir das auch gelingt, wird's doch nichts helfen; denn das Wahre ist einfach und gibt wenig zu tun; das Falsche giet Gelegenheit, Zeit und Kräfte zu zersplittern."

Goethes Alterswerk

Wissenschaftliche Forschungen behielten für Goethe noch immer ein sehr lebhaftes Interesse. "Ich suche," schrieb er, "meine Stellung gegen Geologie, Geognosie und Oryktognosie klar zu machen, weder polemisch, noch konziliarisch, sondern positiv und individuell. Das ist das Klügste, was man in alten Tagen tun kann. Die Wissenschaften, mit denen wir uns beschäftigen, rücken unverhältnismäßig vor, manchmal gründlich, oft übereilt und modisch. Da dürfen wir denn nicht unmittelbar nachrücken, weil wir keine Zeit mehr haben, auf irgend eine Weise leichtsinnig in der Irre zu gehen. Um aber nicht zu stocken und allzu weit zurück zu bleiben, sind Prüfungen unserer Zustände nötig. Mich bringt nichts ab von meinem alten erprobten Wege: die Probleme sacht wie Zwiebelhäute zu enthüllen, und Respekt zu behalten vor allen wahrhaft stilllebenden Knospen. Je älter ich werde, desto mehr vertrau' ich auf das Gesetz, wonach die Rose und Lilie blüht."

Manche erfreuliche Anerkennung ward Goethes Talenten im In- und Auslande gezollt. Mehrere seiner Freunde und Verehrer in England und Schottland überraschte ihn bei der Wiederkehr seines Geburtstages am 28. August durch das Geschenk eines kostbaren, mit großer Kunstfertigkeit gearbeiteten Petschafts. Fast gleichzeitig erhielt er seine von dem französischen Bildhauer David gefertigte Kolossalbüste, anderer wertvollen Geschenke und Auszeichnungen nicht zu gedenken. Sein Leben war in mehrfacher Hinsicht ein glückliches zu nennen. Gleichwohl blieb er nicht verschont von bitteren Erfahrungen. Seinen einzigen Sohn, den Kammerrat August von Goethe, entriss ihm der Tod zu Rom in der Blüte seiner Jahre, am 28. Oktober 1830. Goethes Fassung bei diesem Verlust schilderte folgende Stelle in einem seiner damaligen Briefe. "Hier kann allein der große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten. Ich habe keine Sorge, als mich im Gleichgewicht zu erhalten. Der Körper muss, der Geist will, und wer seinem Wollen die notwendige Bahn vorgeschrieben sieht, der braucht sich nicht viel zu besinnen."

So ward eine verdoppelte Tätigkeit, die seiner Natur ein dringendes Bedürfnis war, für Goethe zugleich das wirksamste Mittel, schmerzhaften Eindrücken kräftig zu begegnen. Beschäftigte ihn irgend eine große Idee, so entsagte er oft ganze Monate jeder Lektüre, um sich nicht durch andere Gegenstände zu zerstreuen. "Es ist doch," schrieb er, "genau betrachtet, nur eine Philisterei, wenn wir demjenigen zu viel Anteil schenken, worin wir nicht wirken können. Und dann darf ich wohl sagen: ich erfahre das Glück, dass mir in meinem hohen Alter Gedanken aufgehen, welche zu verfolgen und in Ausübung zu bringen, eine Wiederholung des Lebens gar wohl wert wäre. Daher wollen wir uns, so lange es Tag ist, nicht mit Allotrien beschäftigen."

Eine gewisse Begrenzung der Tätigkeit hielt Goethe für notwendig. "Es ist ganz eins," schrieb er, "in welchem Kreise ein edler Mensch wirkt, wenn er nur diesen Kreis genau kennen zu lernen und völlig auszufüllen weiß. Wofür aber der Mensch nicht wirken kann, dafür sollte er auch nicht ängstlich sorgen, nicht über Bedürfnis und Empfänglichkeit des Kreises hinaus, in den ihn Gott und die Natur gestellt, anmaßlich weiter wirken wollen. Alles Voreilige schadet; die Mittelstraße zu überspringen, ist nicht heilsam. Tue nur jeder an seiner Stelle das Rechte, ohne sich um den Wirrwarr zu bekümmern, der fern oder nah die Stunden auf die unseligste Weise verdirbt, so werden Gleichgesinnte sich bald ihm anschließen, und Vertrauen und wachsende Einsicht von selbst immer größere Kreise bilden."

Diesen Lebensregeln und seiner rastlosen Tätigkeit auch in höherem Alter treu zu bleiben, war ihm durch die fast ununterbrochene Dauer seiner Gesundheit gegönnt. Er genas bald wieder von einem Blutsturz, der ihn 1831 befiel, als er sich mit dem Ordnen seines literarischen Nachlasses und mit dem zweiten Teil des "Faust" beschäftigte. Im August des genannten Jahres ging er nach Ilmenau. Nach seinem eignen Geständnis hatte er sich dorthin begeben, um den persönlichen Huldigungen auszuweichen, die ihn bei der Wiederkehr seines Geburtstages zu überraschen pflegten.

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