Schillers Tod - trübe Tage

Wie Goethe die Literatur überhaupt, insonderheit aber die Poesie betrachtete, zeigte folgende Stelle in einem Briefe vom 6. März 1800: "Was die großen Anforderungen betrifft, die man jetzt an den Dichter macht, so glaube ich, dass sie nicht leicht einen Dichter hervorbringen werden. Die Dichtkunst verlangt ein Subjekt, das sie ausüben soll, eine gewisse gutmütige, ins Reale verliebte Beschränktheit, hinter welcher das Absolute verborgen liegt. Die Forderungen von oben herein zerstören jenen unschuldigen produktiven Zustand, und setzen vor lauter Poesie an die Stelle der Poesie etwas, das nun ein für allemal nicht Poesie ist, wie wir in unsern Tagen leider gewahr werden, und so verhält es sich mit den verwandten Künsten, ja mit der Kunst im weitesten Sinne. Dies ist mein Glaubensbekenntnis welches übrigens keine weitern Ansprüche macht."

Unter den mannigfachen Beschäftigungen, auf die sich die Vielseitigkeit seines Geistes lenkte, überraschte ihn eins der trübsten Ereignisse, der Tod Schillers am 9. Mai 1805. Mit seiner eigenen Kränklichkeit hatte Goethe den Freund unter seinen physischen Leiden zu trösten gesucht. Scherzend schrieb er ihm den 24. Januar 1805: "Ob nach der alten Lehre die humores peccantis im Körper herumspazieren, oder ob nach der neuern die verhältnismäßig schwächeren Teile in désavantage sind, genug, bei mir hinkt es bald hier, bald dort, und sind die Unbequemlichkeiten in den Gedärmen ins Diaphragma, von da in die Brust, ferner in den Hals und so weiter ins Auge gefahren, wo sie mir denn am allerwenigsten willkommen sind."

Die scherzhafte Stimmung in diesem Briefe wich bald dem Gefühl der Wehmut und Trauer bei dem lange gefürchteten Verlust seines Freundes. Als Goethe, mehrere Wochen an sein Zimmer gefesselt, zu Anfange Mai sich zum ersten Mal aus dem Hause wagte, traf er Schiller, der eben im Begriff war, ins Theater zu gehen. "Ein Missbehagen," erzählt Goethe selbst, "hinderte mich, ihn zu begleiten, und so schieden wir vor seiner Haustür, um uns nie wiederzusehen. Bei dem Zustande meines Körpers und Geistes wagte Niemand, die Nachricht von seinem Scheiden in meine Einsamkeit zu bringen. Schiller war am neunten Mai verschieden, und ich nun von allen meinen Übeln doppelt und dreifach angefallen." Seine Stimmung schilderte folgende Stelle in einem Briefe vom 1. Juni 1805. "Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere einen Freund, und in demselben die Hälfte meines Daseins. Eigentlich", fügte er hinzu, "sollte ich eine neue Lebensweise anfangen. Aber dazu ist in meinen Jahren auch kein Weg mehr. Ich sehe also jetzt jeden Tag unmittelbar vor mich hin, ohne an eine weitere Folge zu denken."

Mehr als jemals, fühlte Goethe das Bedürfnis einer anhaltenden Tätigkeit. Manche Hindernisse stellten sich der Ausführung des Plans entgegen, das von Schiller unvollendet zurückgelassene Trauerspiel "Demetrius" zu beenden. Unterstützt durch mehrere schätzbare Beiträge F.A. Wolfs gab Goethe damals (1805) das für die Kunstgeschichte wichtige Werk: "Winkelmann und sein Jahrhundert" heraus, und gleichzeitig einen aus dem Französischen übersetzten Dialog Diderots, unter dem Titel: "Rameaus Neffe."

Trübe Tage brachten Goethe die Schlacht bei Jena am 14. Oktober 1806 und die allgemeine Plünderung, welche die Stadt Weimar traf. Mitten unter jenen Kriegsstürmen reichte Goethe, in bereits vorgerücktem Alter einer vieljährigen Freundin am Altar die Hand. Es war Christiane Vulpius, eine Schwester des bekannten Romanschriftstellers und nachherigen Oberbibliothekars in Weimar.

Goethes Dichtung und Wahrheit

Neben einer genauen Durchsicht seiner bisherigen Schriften, die in einer zwölfbändigen Gesamtausgabe 1806 erschienen, beschäftigte sich Goethe mit seinen wissenschaftlichen Forschungen, vor allen mit seiner "Farbenlehre," die 1808 mit einer Zueignung an die Herzogin Louise von Sachsen-Weimar ans Licht trat. Jene Forschungen weckten in ihm die Idee zu einem Roman, in welchem er unter dem Titel "die Wahlverwandtschaften" nach seinem eignen Geständnis, "das Leben von seiner täglichen Licht- und Schattenseite darstellen, und zugleich die Macht begreiflich machen wollte, die das Spiel geheimer Naturgesetze über menschliche Verhältnisse ausübt." Die von ihm begonnene Biographie des Landschaftsmalers Philipp Hackert, mit dem er in Rom genussreiche Tage verlebt hatte, trat in den Hintergrund durch Goethes Beschäftigung mit seiner Selbstbiographie, die er unter dem Titel: "Dichtung und Wahrheit aus meinem Leben" in mehreren Bänden herausgab. Ungeachtet seiner Abneigung gegen alle politischen Tendenzen, verewigte Goethe die Befreiung seines Vaterlandes von französischer Botmäßigkeit durch das Festspiel: "Des Epimenides Erwachen", das zuerst in Berlin vorgestellt ward. Die Stimmung, in welcher er dies Stück, welchem eine alte griechische Mythe zum Grunde lag, gedichtet hatte, kehrte ihm wieder, und er verfasste die Inschrift für das dem Fürsten Blücher in seiner Vaterstadt Rostock errichtete Denkmal.

Das Interesse an botanischen und mineralogischen Studien ward in Goethe erhalten durch seine jährlich nach Karlsbad und Töplitz unternommenen Badereisen, zu denen ihn sein Gesundheitszustand nötigte. Einer seiner Freunde erzählte, wie er unterwegs aus dem Wagen gestiegen sei und mit einem Hammer Steine zerklopft habe. Seine Vaterstadt Frankfurt, die er nach siebzehn Jahren (1814) zum ersten mal wieder besuchte, ehrte ihn durch eine Vorstellung seines "Tasso", und feierte auf eine noch glänzendere Weise (1818) seinen siebzigsten Geburtstag durch Überreichung eines goldenen Lorbeerkranzes, der an Wert die Summe von 1.500 Fl. überstiegen haben soll. Goethe dankte seinen Verehrern durch das in seinen Werken aufbewahrte Gedicht: "Die Feier des 28. August dankbar zu erwidern."

Das von ihm unter dem Titel: "Kunst und Altertum" 1816 herausgegebene Journal, welches kurze Reiseberichte, und Rezensionen über neuere Werke der Dichtkunst, Malerei und Plastik enthielt, war eine Art von Fortsetzung der Aufsätze, die Goethe früher in Verbindung mit den Weimarischen Kunstfreunden in den "Propyläen" und in der Allgemeinen Literaturzeitung mitgeteilt hatte. Für den Teil seiner Studien, dem er seit früher Jugend unverändert treu geblieben war, gründete er eine, in einzelnen Heften fortlaufende Zeitschrift: "Zur Morphologie und Naturwissenschaft überhaupt" betitelt. Das Gebiet der Poesie, aus dem er sich längere Zeit entfernt hatte, betrat er wieder in einer Art von Fortsetzung seines Romans "Wilhelm Meister", die er unter dem Titel "Wilhelm Meisters Wanderjahre" herausgab. In eigentümlicher Weise suchte er in seinem "Westöstlichen Divan" die orientalische Poesie auf den deutschen Boden zu verpflanzen. An der Bühne und ihren Vorstellungen nahm er wenig Anteil mehr. Das Auftreten eines Tieres in dem bekannten Drama. "Der Hund des Aubry" hielt er für eine so tiefe Herabwürdigung der Bühne, dass er sich dadurch bewogen fand, 1817 die bisher von ihm geführte Theaterdirektion niederzulegen.

Goethes Verhältnis zur neueren Literatur

Die ruhige Besonnenheit und Klarheit, die seinem Geiste stets eigen war und die sich im höheren Alter noch steigerte, vermisste Goethe in der neuern Literatur. Mit der Richtung, die sie genommen, konnte er sich eben so wenig befreunden, als mit den eigentümlichen Fortschritten der Kultur überhaupt. Nicht ohne Bitterkeit äußerte er sich darüber in einem Briefe vom 9. Juni 1825 mit den Worten: "Alles ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken, wie im Tun. Niemand kennt sich mehr. Niemand begreift das Element, worin er schwebt und wirkt, Niemand den Stoff, den er bearbeitet. Von reiner Einfalt kann die Rede nicht sein; einfältiges Zeug gibt es genug. Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt, und dann im Zeitstrom fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist es, was die Welt bewundert. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden, und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind."

Eine ruhigere Stimmung herrschte in einem Briefe Goethes vom 3. November 1825. "Von mir," schrieb er, "kann ich so viel sagen, dass ich, meinem Alter und Umständen nach, wohl zufrieden sein darf. Die Verhandlungen wegen einer neuen Ausgabe meiner Werke geben mir mehr als billig zu tun; sie sind nun ein ganzes Jahr im Gange. Alles lässt sich aber so gut an, und verspricht den Meinigen unerwartete Vorteile, um derentwillen es wohl der Mühe wert ist, sich zu bemühen. Auch fehlt es nicht mitunter an guten Gedanken und neuen Ansichten, zu denen man auf der Höhe des Lebens gelangt."

Erhalten ward Goethe in dieser heitern Stimmung durch seinen lebhaften Anteil an zwei Dichtern des Auslandes, mit denen er um diese Zeit in schriftliche Berührung kam. Den Italiener Manzoni, für dessen Tragödie: "Der Graf von Carmagnola," sich Goethe lebhaft interessierte, nannte er in einem seiner Briefe "einen Dichter, der verdiene, dass man ihn studiere." Durch die eigentümliche Art und Weise, wie der Lord Byron die dem "Faust" zu Grunde liegende Idee des unbefriedigten Strebens eines reichen, aber in sich zerfallenen Gemüts für das Drama: "Manfred" benutzt hatte, lenkte sich Goethes Aufmerksamkeit auf diesen Dichter, dessen großes poetisches Talent er zwar anerkannte, doch zugleich sich wieder von ihm zurückgestoßen fühlte durch Byrons an Verzweiflung grenzende Unzufriedenheit mit der Welt und ihren Verhältnissen.

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