Goethes Interesse an der Natur

Entschieden regte sich in dem Knaben der in späteren Jahren wachsende Trieb, mancherlei Naturgegenstände, deren innere Beschaffenheit sich dem Auge entzog, näher kennen zu lernen. Er zerpflückte Blumen, um zu sehen, wie die Blätter in ihren Kelch eingefügt waren. Seine jugendliche Neugier und Forschungslust beschäftigte sich mit den verschiedenartigsten Gegenständen. Er bewunderte die geheime Anziehungskraft des Magnets, und ermüdete nicht, jene ihm unerklärliche Wirkung an Feilspänen und Nähnadeln zu erproben. Mit Hülfe eines alten Spinnrades und einiger Arzneigläser versuchte er fruchtlos den Effekt einer Elektrisiermaschine hervorzubringen. Weniger aus eigner Neigung, als aus Gefälligkeit gegen seinen Vater, unterzog er sich dann und wann der Wartung und Pflege der im elterlichen Garten gehegten Seidenwürmer.

Dieser geschäftige Müßiggang behagte ihm mehr, als der Unterricht im Englischen, zu welchem er von seinem Vater mit Strenge angehalten ward. Indes gelangte er durch Fleiß in kurzer Zeit zu einer ziemlichen Fertigkeit im Englischen. Auch seine übrigen Sprachstudien vernachlässigte er nicht ganz. Seinem Wunsche, hebräisch zu lernen, um das Alte Testament in der Ursprache lesen zu können, gab Goethes Vater seine Zustimmung. Durch den Magister Albrecht in der genannten Sprache unterrichtet, machte er darin ziemlich rasche Fortschritte.

Wichtig und einflussreich wurden Goethes Bibelstudien besonders dadurch, dass sie ihn zu einem epischen Gedicht begeisterten. Den Stoff dazu fand er in der Geschichte Josephs. Über die Form jedoch war er lange Zeit mit sich nicht einig. Nach reiflicher Überlegung wählte er die Prosa. Von jenem Gedicht, das einen ziemlichen Umfang gewann, hat sich nicht einmal ein Fragment erhalten. Auch manche lyrische Poesien, unter andern mehrere Gedichte in Anakreons Manier, gingen verloren. Einigen geistlichen Oden und andern religiösen Dichtungen, unter andern einer "Höllenfahrt Christi", zollte Goethes Vater besonderen Beifall. Auch durch mehrere Predigtauszüge, die er Sonntags in einem verborgenen Kirchstuhl entwarf, empfahl Goethe sich seinem Vater, zog sich jedoch seine lebhafte Missbilligung zu, als er jene Arbeit wieder saumseliger betrieb und zuletzt gänzlich unterließ.

Seinen Sohn zu einem tüchtigen Juristen zu bilden, war ein väterlicher Lieblingswunsch. Goethe erhielt von seinem Vater ein in katechetischer Form abgefasstes Büchlein. Dadurch sollte ihm das Studium des Corpus Juris erleichtert werden. Er erlangte auch ziemliche Gewandtheit im Aufschlagen einzelner Stellen, vermochte jedoch, als er später das Struvische Compendium erhielt, der Rechtswissenschaft keinen sonderlichen Geschmack abzugewinnen. Damit es ihm nicht an der nötigen körperlichen Bewegung fehlen möchte, ließ sein Vater ihn das Fechten, späterhin auch die Reitkunst lernen. Es war im Herbst 1761, als er auf die Reitbahn geschickt ward. Seines Lehrers pedantische Methode war jedoch nicht geeignet, ihn für die Reitkunst besonders zu interessieren.

Der Dichtkunst war Goethe nicht untreu geworden. Eine für einen Jugendfreund geschriebene poetische Epistel, die sich leider nicht erhalten hat, empfahl sich durch ihre innere Wahrheit und Naivität, und hob jeden Zweifel, der über sein poetisches Talent noch obwalten konnte. Sein Produkt in mehreren Händen zu sehen, schmeichelte seiner jugendlichen Eitelkeit. Er teilte es daher mehreren jungen Leuten mit, die er zufällig kennen gelernt hatte. Die nähere Berührung, in die er mit ihnen trat, ward um so entscheidender für ihn, da sich daran ein Liebeshandel mit einem jungen Mädchen knüpfte, deren Namen er späterhin in seinem "Faust" verewigte. Seinem Stande nicht angemessen und für seine sittlichen Grundsätze von keinem wohltätigen Einflusse war der Kreis, in den er eingetreten war, und der ihn von seiner geregelten Lebensweise entfernte und zu manchen Abenteuern und jugendlichen Übereilungen verlockte. Nach seinen eignen Äußerungen in späteren Jahren bestand jener Kreis aus jungen Menschen, sämtlich älter als er, die der mittleren und niederen Volksklasse angehörend, mit oberflächlichen Schulkenntnissen, durch Abschreiben, durch Besorgung kleiner Geschäfte für die Kaufleute und Mäkler sich einen notdürftigen Erwerb sicherten. Ihr zweideutiger Ruf war ihm unbekannt, und ein Licht darüber ging ihm erst auf, als seine Eltern ihn über den gewählten Umgang und seinen jugendlichen Leichtsinn die bittersten Vorwürfe machten. Ein tiefes Gefühl von Scham ergriff ihn, als er erfuhr, dass seine Genossen zum Verfälschen von Papieren, zur Nachahmung von Handschriften und andern sträflichen Handlungen ihre Zuflucht genommen hatten.

Von der trostlosen Stimmung, in die er dadurch versetzt ward, konnte ihn nur Fleiß und Tätigkeit befreien. Er hatte aber auch noch manches nachzuholen, um sich zur Universität vorzubereiten, die er bald beziehen sollte. Ein weites Feld zu mannigfachen Betrachtungen eröffneten ihm seine fortgesetzten philosophischen Studien, größtenteils nach Bruckers Compendium. Dieser Beschäftigung ward er wieder untreu, als der eintretende Frühling ihn in die freie Natur lockte. Mit seinen Freunden besuchte er die in der Umgebung von Frankfurt gelegenen Vergnügungsorte. Noch mehr aber behagte ihm, in seiner Gemütsstimmung die Einsamkeit der Wälder. In dem dunkeln Schatten alter Eichen und Buchen weilte er am liebsten. Unwillkürlich regte sich in ihm wieder der schon früh im elterlichen Hause erwachte Trieb, nach der Natur zu zeichnen. Alles, was er sah, gestaltete sich ihm zum Bilde. Fühlbar aber ward ihm bald, dass ihm nur die Gabe verliehen war, die ihm entgegentretenden Gegenstände im Ganzen aufzufassen. Zum Zeichnen des Einzelnen schien ihn die Natur aber so wenig bestimmt zu haben, als zum betreibenden Dichter. Demungeachtet setzte er seine Übungen mit einer gewissen Hartnäckigkeit fort. Er ermüdete nicht in der schwierigen Zeichnung eines alten Baumstammes, an dessen gekrümmte Wurzeln sich blühende Farrenkräuter hingen.

Erste Skizzen

Mit Goethes Skizzen, so unvollkommen sie auch sein mochten, war sein Vater im Allgemeinen zufrieden, wenn er auch Einzelnes daran tadelte. Gern ließ er seinen Sohn umherstreifen, weil er von solchen Ausflügen eine neue Zeichnung erwartete. Zu Fußwanderungen mit einigen Freunden gönnte er ihm völlige Freiheit. Einen besonderen Reiz hatten für Goethe die Gebirgsgegenden. Er besuchte Homburg, Kroneburg, bestieg den Feldberg und Königsstein, verweilte einige Tage in Wiesbaden und Schwalbach, und kam bis an den Rhein. Den jugendlichen Sinn, der sich mehr in der großen Natur, als in abgeschlossenen Räumen gefiel, konnte Mainz nicht fesseln. Einen erfreulichen Eindruck auf Goethe machte die anmutige Lage von Biberich. Von da kehrte er in seine Vaterstadt zurück, mit einer ziemlich reichen Ausbeute von landschaftlichen Skizzen und Zeichnungen der verschiedensten Art, unter denen manche seines Vaters Beifall erhielten, andere jedoch auch scharf von ihm getadelt wurden.

Dadurch verstimmt, schloss sich Goethe enger an seine Mutter an, die ihm mehr Milde und Nachsicht bewies, und selbst noch jugendlich, mit seinen Gefühlen und Lebensansichten mehr harmonierte, als der ernster gestimmte Vater. Ein fast noch innigeres Verhältnis bestand zwischen Goethe und seiner ungefähr ein Jahr jüngeren Schwester Cornelia. Gemeinschaftliches Spiel und Lernen in den Jahren der Kindheit hatte späterhin, als sich beider physische und geistige Kräfte entwickelten, ein festes Vertrauen und eine wahrhaft geschwisterliche Liebe erzeugt. Goethe ward von seiner Schwester zum Vertrauten aller ihrer Empfindungen und Herzensangelegenheiten gewählt. Ziemlich gut bestand er im Allgemeinen, als sein Vater seine Kenntnisse in einzelnen Materien der Jurisprudenz prüfte. Mehrere wissenschaftliche Fächer beschäftigten seinen strebenden Geist, vorzüglich die Geschichte der älteren Literatur. Durch das fortgesetzte Studium von Geßners Isagoge und Morhofs Polyhistor, geriet er fast auf den Irrweg, selbst ein Vielwisser zu werden. Sein Tag und Nacht fortgesetzter Fleiß drohte ihn eher zu verwirren, als wahrhaft zu bilden. Bayles historisch-kritisches Wörterbuch führte ihn vollends in ein Labyrinth, aus welchem er sich kaum wieder herauszufinden wusste. Von der großen Wichtigkeit einer gründlichen Sprachkenntnis hatte er sich längst überzeugt. Das Hebräische war allmählich in den Hintergrund getreten. Auch Goethes Kenntnisse in der griechischen Sprache reichten nicht viel weiter, als zum Verständnis des Neuen Testaments im Urtexte. Ernstlicher hatte er sich mit dem Lateinischen beschäftigt. Er war, obschon er keinen grammatikalischen Unterricht genossen, ziemlich bewandert in den römischen Klassikern.

Unter diesen Sprachstudien regte sich wieder in ihm der nie ganz schlummernde Trieb poetischer Nachbildung. Seine Produktionskraft, die Leichtigkeit, womit er die Erzeugnisse seines Geistes niederschrieb, hatte sich vermehrt. Jugendliche Eitelkeit ließ ihn seine poetischen Produkte mit einer gewissen Vorliebe betrachten. Der Tadel, den sie mitunter erfuhren, raubte ihm nicht die Überzeugung, künftig wohl Geisteserzeugnisse zu liefern, die sich mit denen eines Gellert, Uz, Hagedorn und andern damals hochgefeierten Dichtern messen könnten. Aber die poetische Laufbahn, so viel Lockendes sie auch für ihn hatte, schien ihm doch zu schwankend und unsicher, um sie zu seinem künftigen Lebensberuf zu wählen. Ein akademisches Lehramt lag im Bereich seiner Wünsche. Dazu wollte er sich fähig machen, um zur Bildung Anderer, wie zu seiner eigenen, etwas beitragen zu können.

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