Goethes erstes Schauspiel
Aus seinem, durch eigene Schuld, vorzüglich durch grundlose Eifersucht wieder aufgelösten Lebensverhältnis schöpfte Goethe die Idee zu seinem ersten dramatischen Werke. 1769 dichtete er sein Schauspiel: "die Laune des Verliebten", das er jedoch erst nach einer bedeutenden Reihe von Jahren dem Druck übergab. Seinem Inhalt nach war das Stück dem später gedichteten Schauspiel: "Erwin und Elmire" ähnlich, so wesentlich es sich von demselben durch die Form und Behandlungsart unterschied. Erhalten hat sich unter mehreren literarischen Entwürfen aus jener Zeit nur der Anfang einer in Alexandrinern verfassten Übersetzung von Corneilles Lustspiel: Le Menteur, unter dem Titel: "der Lügner", und außerdem das Fragment eines in Briefen zwischen "Arianne und Wetty" geschriebenen Romans. Man findet diese Bruchstücke in den neuerlich von A. Scholl herausgegebenen Briefen und Aufsätzen Goethes aus den Jahren 1766-1786. Vollendet ward von Goethe nur das Lustspiel: "Die Mitschuldigen." Er bedauerte in späteren Jahren, dass er über der ernsten Richtung in seinen ersten dramatischen Werken manchen heitern Stoff, den ihn das Studentenleben darbot, unbenutzt gelassen hatte. Seine Empfindungen legte er in einzelnen Liedern und Epigrammen nieder, die jedoch, nach seinem eignen Geständnisse in späterer Zeit, zu subjektiv waren, um außer ihn selbst, noch irgend Jemand zu interessieren.
Einen frühen Jugendeindruck erneuerte in Goethe Gellerts wiederholte und dringende Ermahnung an seine Zuhörer, sich dem öffentlichen Gottesdienste und dem Genuss des heiligen Abendmahls nicht zu entziehen. Etwas Furchtbares hatte für Goethe von jeher die neutestamentliche Vorstellung gehabt: wer das Sakrament unwürdig genösse, äße und tränke sich selbst den Tod. Von mannigfachen Gewissensskrupeln beunruhigt, hatte er sich der Abendmahlsfeier lange entzogen, und Gellerts Ermahnungen fielen ihm um so schwerer aufs Herz. Über die ernsten Betrachtungen, denen er sich eine Zeit lang überließ, siegte indes bald wieder angeborener Humor und jugendlicher Leichtsinn.
Einflussreich und belehrend durch seine vielseitigen Sprach- und Literaturkenntnisse ward für Goethe die Bekanntschaft mit dem Hofmeister eines jungen Grafen von Lindenau. Er hieß Behrisch, und war, nach Goethes eigner Schilderung, ungeachtet seines redlichen Charakters und seiner vielen löblichen Eigenschaften, einer der größten Sonderlinge. Trotz der Würde seines äußern Benehmens war er immer zu allerlei mutwilligen Possen aufgelegt. Durch seine sarkastischen Bemerkungen weckte er in Goethe den Hang zur Satire. Zur besonderen Zielscheibe seines Witzes wählte sich dieser den Professor Clodius, der die stilistischen Vorlesungen übernommen, welche Gellert, seiner Kränklichkeit wegen, hatte aufgeben müssen. Durch den Tadel eines Gedichts, mit welchem Goethe die Hochzeit eines Oheims in Frankfurt verherrlichen wollte, hatte Clodius seine Autoreitelkeit verletzt. Gemeinschaftlich mit seinem Freunde Behrisch rächte sich Goethe durch lauten Spott über die mittelmäßigen Oden, mit denen Clodius mehrmals bei feierlichen Gelegenheiten hervorgetreten war. Die darin enthaltenen Kraftsprüche und Sentenzen benutzte Goethe zu einer Parodie. Es war ein an den damals sehr beliebten Conditor Händel gerichtetes Gedicht, welches zwar nicht gedruckt, doch bald in mehreren Abschriften verbreitet ward. Die Wirkung seiner Parodie verstärkte Goethe noch durch einen satirischen Prolog, den er bald nachher zu dem von Clodius geschriebenen Lustspiel: "Medon oder die Rache des Weisen" dichtete. Nach seiner eignen Schilderung in späteren Jahren hatte Goethe in jenem Prolog Harlekin mit zwei Säcken auftreten lassen, mit moralisch-ästhetischem Sande gefüllt, den die Schauspieler den Zuschauern in die Augen streuen sollten. Der eine Sack, äußerte Harlekin, sei mit Wohltaten gefüllt, die nichts kosteten, der andere mit allerlei hochtrabenden Sentenzen, hinter denen nichts stecke. Darum möchten die Zuschauer ja die Augen zudrücken u.s.w.
Goethes Besuch in Dresden
Getrennt von seinem Freunde Behrisch, dem seine vielseitigen Kenntnisse die Stelle eines Erziehers des Erbprinzen von Dessau verschafft hatten, sank Goethe wieder aus Mangel an Selbstständigkeit in das vielfach bewegte und leidenschaftliche Treiben zurück, dem er durch Behrisch kaum entrissen worden war. Auf einen bessern Weg führte ihn das Studium der Kunst. Bei dem berühmten Oeser, der als Direktor der Leipziger Zeichenakademie in dem alten Schlosse Pleißenburg wohnte, nahm Goethe Unterricht im Zeichnen. Durch die Betrachtung vorzüglicher Werke und Oesers geistreiche Bemerkungen darüber ward sein früh erwachter Kunstsinn wieder vielfach angeregt und genährt. Reichen Genuss verschafften ihm besonders die wertvollen Gemälde- und Kupferstichsammlungen mehrerer Leipziger Kunstfreunde. Er vermehrte dadurch seine Kenntnisse in einem Fache, worin er, nach einer Äußerung in späteren Jahren, "einst die größte Zufriedenheit seines Lebens finden sollte." Von der bloßen Anschauung zum Denken erhob er sich durch das Studium der Schriften d'Argenvilles, Christs, Winkelmanns u.A. Völlig klar ward ihm jedoch der Unterschied zwischen den bildenden und den Redekünsten erst durch Lessings Laokoon. Der Triumph des Schönen über das Hässliche zeigte sich ihm in der Vorstellung der Griechen, die sich den Tod als den Bruder des Schlafs und diesem bis zum Verwechseln ähnlich dachten.
Einen reinen Kunstgenuss bot ihm ein kurzer Aufenthalt in Dresden und die Betrachtung der dortigen Gemäldegallerie. Vielfache Belehrung verdankte er dem Inspektor Riedel. Kurz vor seiner Rückreise nach Leipzig lernte er auch den Direktor der Kunstakademie, von Hagedorn, einen Bruder des Dichters, persönlich kennen. In Leipzig fühlte Goethe, obgleich er jenen reichen Kunstgenuss dort entbehren musste, nach seinem eignen Geständnis, sich ganz behaglich durch freundschaftlichen Umgang und einen Zuwachs an Kenntnissen. Beides fand er in dem Hause des Buchhändlers Breitkopf, der auf dem Neumarkt im silbernen Bären wohnte. Der älteste Sohn jenes Mannes spielte mit ziemlicher Fertigkeit die Violine, und komponierte einige von Goethes Gedichten, die ohne Angabe des Druckorts 1768 zu Leipzig in Quart erschienen. Oft wurden in Breitkopfs Hause, dessen zweiter Sohn ebenfalls musikalisch war, Konzerte veranstaltet. Manchen Genuss und Nutzen schöpfte Goethe auch aus Breitkopfs auserlesener Bibliothek, welche vorzüglich an Werken reich war, die sich auf den Ursprung und die Fortschritte der Buchdruckerkunst bezogen.
Wichtig ward für Goethe die Bekanntschaft des aus Nürnberg gebürtigen Kupferstechers Stock, der ein Mansardenzimmer im Breitkopfischen Hause bewohnte. Die Technik der Kupferstecherkunst hatte für Goethe einen so unwiderstehlichen Reiz, dass er der Begierde nicht widerstehen konnte, sich selbst in diesem Fache zu versuchen. Zur Zufriedenheit seines Lehrers Stock radierte er einige Landschaften nach Thiele und andern Künstlern. Erhalten haben sich aus jener Zeit noch zwei radierte Blätter Goethes. Beide stellen Landschaften dar, mit kleinen Kaskaden, umschlossen von Felsen und Grotten. An dem untern Rande beider Landschaften befinden sich die Worte. Peint par A. Thiele, gravé par Goethe. Das eine Blatt hatte Goethe mit den nachstehenden Worten seinem Vater gewidmet: Dedié à Monsieur Goethe, Conseiller actuel de S.M. Imperiale, par son fils très-obeissant. Das andere Blatt führt die Unterschrift: Dedié à Mr. le Docteur Hermann, Assesseur de la cour provinciale supréme de justice S. A. Elect. de Saxe et Sénateur de la ville de Leipsic, par son ami Goethe. Eine genaue und ausführliche Beschreibung der erwähnten Blätter lieferte ein Aufsatz Karl Buchners im Morgenblatt vom Jahr 1828. No. 3-6.
Den der Gesundheit nachteiligen Dünsten, die sich beim Ätzen von Kupferstichen entwickelten, gab Goethe eine gefährliche Brustbeklemmung schuld, die er sich aber auch wohl durch den zu reichlichen Genuss des Merseburger Biers und starken Kaffees zugezogen haben mochte. Der Organismus seiner Natur ward so heftig erschüttert, dass er einst Nachts von einem heftigen Blutsturz erwachte. Die ärztliche Hülfe des Doktor Reichel beschleunigte seine Genesung. Er ward wieder heiter gestimmt für den Umgang mit seinen Freunden, die er durch Kränklichkeit und üble Laune von sich gescheucht hatte.
Abschied von Leipzig
Die Zeit, wo Goethe nach beendigten Studien wieder in das elterliche Haus zurückkehren sollte, war nahe. Kurz vor seiner Abreise ereignete sich ein Tumult zwischen den Studenten und Stadtsoldaten. Goethe hatte keinen Anteil an diesen Händeln. Mit jenem Nachklange akademischer Großtaten verließ er Leipzig im September 1768. Er hatte dort manche Freundschaftsverhältnisse angeknüpft. Den Einfluss, den der Aufenthalt in Leipzig auf seine Bildung gehabt, konnte er nicht verkennen. Gestehen musste er sich freilich, dass er den Aussichten und Hoffnungen seiner Eltern nicht sonderlich entsprochen. Er hatte sich ganz andern Studien gewidmet, als sein Vater wünschen mochte, der nur mühsam den Unmut verbarg, seinen Sohn, der nun promovieren und die ihm vorgeschriebene Bahn durchlaufen sollte, noch nicht hinlänglich dazu vorbereitet, und überdies geistig und körperlich leidend heimkehren zu sehen.
Goethe aber bereute nicht den selbst gewählten Pfad, und seine Dankbarkeit vergaß nie den Mann, der ihn zuerst darauf hingeleitet. Den 9. November 1768 schrieb er nach Leipzig an Oeser: "Was bin ich Ihnen nicht alles schuldig, dass Sie mir den Weg zum Wahren und Schönen gezeigt, dass Sie mein Herz für den Reiz fühlbar gemacht haben. Ich bin Ihnen mehr schuldig, als ich Ihnen danken könnte. Der Geschmack, den ich am Schönen habe, meine Kenntnisse, meine Einsichten, hab' ich die nicht alle durch Sie? Wie gewiss, wie einleuchtend wahr ist mir der seltsame, fast unbegreifliche Satz geworden, dass die Werkstatt eines großen Künstlers mehr den keimenden Philosophen, den keimenden Dichter entwickle, als der Hörsaal des Weisen und des Kritikers. Lehre tut viel, aber Aufmunterung tut Alles. Aufmunterung nach dem Tadel ist Sonne nach dem Regen, fruchtbares Gedeihen. Wenn Sie meiner Liebe zu den Musen nicht aufgeholfen hätten, ich wäre verzweifelt. Sie wissen, was ich war, als ich zu Ihnen kam, und was ich war, als ich von Ihnen ging. Der Unterschied ist Ihr Werk."
Als Goethe diesen Brief schrieb, war er unlängst genesen von einer gefährlichen Krankheit, die durch gestörte Verdauung und ein dadurch erzeugtes Asthma die lebhaftesten Besorgnisse seiner Eltern erregte. Unvergesslich blieb ihm die liebreiche Pflege seiner Mutter und die zärtliche Teilnahme seiner Schwester Cornelia. Durch seine Krankheit allen irdischen Angelegenheiten entfremdet, wandte sich sein Geist dem Himmlischen zu. Mit der ganzen Wärme und Innigkeit seines Gefühls suchte er das Unsichtbare zu ergreifen. Wie ihn als Kind vorzugsweise das Alte Testament angesprochen, so beschäftigte er sich nun, von einem ähnlichen schwärmerischen Enthusiasmus ergriffen, mit den neutestamentlichen Schriften.
In dieser Geistesrichtung begegnete ihm eine seelenkranke Freundin seiner Mutter, ein Fräulein von Klettenberg, aus deren Unterhaltungen und Briefen Goethe später den Stoff hernahm zu den in seinem "Wilhelm Meister" enthaltenen "Bekenntnissen einer schönen Seele." Sein Verhältnis zu dem Fräulein von Klettenberg blieb, ungeachtet der schwärmerischen Richtung ihres Geistes, der dem irdischen Dasein gänzlich entfremdet, sich nur mit dem ewigen Heil der Seele beschäftigte, doch nicht ohne Einfluss auf Goethes moralische Veredlung. Jedenfalls hätte er indes seine Zeit besser verwenden können, als zu dem Lesen von allerlei mystischen Schriften. Durch Theophrast, Paracelsus u.A. ward er in das Gebiet der Chemie geführt. Mit Hülfe eines kleinen Laboratoriums machte er, nach Anleitung des Boerhave'schen Compendiums einige chemische Experimente, die, so unvollkommen sie auch ausfielen, seine Kenntnisse in mannigfacher Weise bereicherten. Auch das Zeichnen, Ätzen und Radieren trat wieder in die Reihe seiner Lieblingsbeschäftigungen. Nach den mannigfachsten Richtungen schweifte seine Tätigkeit, die erst eine feste Basis gewonnen zu haben schien, als er sich wieder zu philosophischen Studien wandte.