Hinwendung zur Philosophie

Den Weg, den seine Bildung nahm, zeigte ein Brief an die Tochter seines Freundes Oeser, vom 13. Februar 1769. "Meine gegenwärtige Lebensart," schrieb Goethe, "ist der Philosophie gewidmet. Eingesperrt, allein, Zirkel, Papier, Feder und Tinte und zwei Bücher ist mein ganzes Rüstzeug; und auf diesem einfachen Wege komme ich der Erkenntnis der Wahrheit oft so nah und weiter, als Andere mit ihrer Bibliothekswissenschaft. Ein großer Gelehrter ist selten ein großer Philosoph, und wer mit Mühe viel Bücher durchblättert hat, verachtet das leichte, einfache Buch der Natur, und es ist nichts wahr, als was einfältig ist. Freilich eine Recommendation für die wahre Weisheit! Wer den einfältigen Weg geht, der gehe ihn, und schweige still. Demut und Bedächtigkeit sind die notwendigsten Eigenschaften unserer Schritte darauf, deren jeder endlich belohnt wird. Ich danke es Ihrem lieben Vater, er hat meine Seele zuerst zu diesem Wege bereitet. Die Zeit wird meinen Fleiß segnen, dass er ausführen kann, was angefangen ist. Wenn man anders denkt, als große Geister, so ist es gewöhnlich ein Zeichen eines kleinen Geistes. Ich mag nicht gern Eins und das Andere sein. Ein großer Geist irrt so gut wie ein kleiner; jener, weil er keine Schranken kennt, dieser, weil er seinen Horizont für die Welt nimmt. O meine Freundin, das Licht ist die Wahrheit, von der doch das Licht quillt. Die Nacht ist Unwahrheit. Und was ist Schönheit? Sie ist nicht Licht und nicht Nacht, Dämmerung, eine Geburt von Wahrheit und Unwahrheit, ein Mittelding. In ihrem Reiche liegt ein Scheideweg, so zweideutig, so schielend, ein Herkules unter den Philosophen könnte sich vergreifen."

In dankbarer Rückerinnerung an seinen "lieben Oeser" schrieb Goethe den 20. Februar 1770 an den Buchhändler Reich in Leipzig: "Nach Oeser und Shakespeare ist Wieland der Einzige, den ich für meinen ächten Lehrer erkenne. Andere hatten mir gezeigt, dass ich fehlte; diese zeigen mir, wie ich's besser machen sollte." Der erwähnte Brief enthielt zugleich einige charakteristische Bemerkungen über Wieland. "Mein Urteil über den Diogenes von Sinope," schrieb Goethe, "werden Sie nicht verlangen. Empfinden und Schweigen ist Alles, was man bei dieser Gelegenheit tun kann, denn so gar loben soll man einen großen Mann nicht, wenn man nicht so groß ist, wie er. Aber geärgert hab' ich mich schon auf Wielands Rechnung, und ich glaube mit Recht. Wieland hat das Unglück, oft nicht verstanden zu werden. Vielleicht ist manchmal die Schuld sein, doch manchmal ist sie es nicht, und da muss man sich ärgern, wenn Leute ihre Missverständnisse dem Publikum für Erklärungen verkaufen." Seine Verehrung Wielands sprach Goethe am Schlusse seines Briefes in den Worten aus. "Wenn Sie diesem großen Autor schreiben oder ihn sprechen, so haben Sie die Güte, ihm einen jungen Menschen bekannt zu machen, der zwar nicht Manns genug ist, seine Verdienste zu schätzen, aber doch ein genug zärtliches Herz hat, sie zu verehren."

Goethe in Straßburg

Wie geringen Wert Goethe seinen in Leipzig entstandenen Gedichten beimaß, bewies er durch den ausgeführten Entschluss, den größten Teil derselben, bald nach seiner Ankunft in Frankfurt, den Flammen zu opfern. Auch mehrere unvollendete dramatische Werke traf dies Schicksal. Verschont blieben nur "die Laune des Verliebten" und "die Mitschuldigen." Das zuletzt genannte Stück erhielt noch einige Verbesserungen. Diese poetischen Beschäftigungen wurden unterbrochen durch seine nahe Abreise nach Straßburg. Dort sollte Goethe nach seines Vaters Wunsch, seine Studien vollenden und sich den juristischen Doktorhut erwerben. Noch immer gab Goethes Vater die Hoffnung nicht auf, aus seinem Sohne einen tüchtigen Rechtsgelehrten zu bilden.

Vom Münster betrachtete Goethe bald nach seiner Ankunft in Straßburg, die Stadt und die Umgebung. Er pries sein Schicksal, das ihm einen so anmutigen Aufenthalt bestimmt hatte. An der Sommerseite des Fischmarktes, einer langen und sehr belebten Straße, bezog er eine freundliche Wohnung. Den Mittagstisch hatte er in einer sehr gebildeten Kaufmannsfamilie, an die er empfohlen worden war. Ein großer Teil der Studierenden in Straßburg widmete sich der Arzneikunde. Dadurch gewann auch Goethe ein Interesse an der Medizin. Im zweiten Semester hörte er Chemie bei Spielmann, und Anatomie bei Lobstein, ohne darüber sein Berufsfach, die Jurisprudenz, zu vernachlässigen. Mit Hülfe eines Repetenten, den ihm einer seiner Freunde, der Actuar Salzmann, empfahl, ergänzte Goethe, was ihm noch fehlte, um in dem juristischen Examen mit Ehren zu bestehen.

An Zerstreuung und Zerstückelung seiner Studien fehlte es ihm in Straßburg eben so wenig, wie während seines Aufenthalts in Leipzig. Lockend war für ihn das fröhliche Leben im Elsaß. Manchen Sommerabend brachte er mit einigen Freunden in öffentlichen Gärten und andern Lustorten zu. Auch unternahm er häufig Ausflüge, vorzüglich in die romantischen Gebirgsgegenden. Seine anmutige Gestalt, sein offenes Wesen empfahlen ihn überall, und er gewann Zutritt zu den vornehmsten Zirkeln. Den Anforderungen des akademischen Lebens entsprach er durch seine Gewandtheit im Fechten. Aber auch dem Tanz und dem Kartenspiel, das er eigentlich nicht liebte, huldigte Goethe, um nicht gegen den feinen Gesellschaftston zu verstoßen.

Unstreitig das wichtigste Ereignis während seines Aufenthalts in Straßburg war die persönliche Bekanntschaft mit Herder, der als Reisebegleiter des gemütskranken Prinzen von Holstein-Eutin nach Straßburg kam. Einen lange gehegten Lieblingswunsch sah Goethe erfüllt, als ihm gegönnt war, sich dem berühmten Manne zu nähern, der durch seine "Fragmente zur deutschen Literatur", durch seine "kritischen Wälder" und andere Schriften das Interesse des gebildeten Publikums entschieden auf sich gelenkt hatte. In dem Gasthofe, wo Herder eingekehrt, machte ihm Goethe seine Aufwartung. Herder trug ein schwarzes Kleid und einen seidenen Mantel von gleicher Farbe. Sein gepudertes Haar war in eine runde Locke aufgesteckt, wodurch er einem Geistlichen ähnlich sah. Nach der Schilderung, welche Goethe in späteren Jahren von Herders Persönlichkeit entwarf, war "sein Gesicht rund, die Stirn bedeutend, die Nase etwas stumpf, der Mund ein wenig aufgeworfen, aber höchst individuell angenehm und liebenswürdig. Unter schwarzen Augenbraunen blitzten ein Paar kohlschwarze Augen hervor, die ihre Wirkung nicht verfehlten, ungeachtet das eine Auge rot und entzündet war, und von Lobstein operiert werden sollte."

Herders Einfluss auf Goethe

Durch einen reichen Schatz von Lebenserfahrungen, verbunden mit einer eigentümlichen Anziehungskraft, übte Herder, obgleich er nur fünf Jahre älter war als Goethe, auf diesen einen so unwiderstehlichen Reiz aus, dass er ihm mit Offenheit eine treuherzige Schilderung seiner Jugendbeschäftigungen und Liebhabereien entwarf. Herders scharfer Tadel und seine sarkastischen Bemerkungen vermochten ihn nicht in der Achtung herabzusetzen, die Goethe für ihn empfand. Er verdankte ihm einen großen Zuwachs an neuen Ideen und den mannigfachsten Kenntnissen. In einem ganz andern Lichte erschien ihm das Lieblingsbuch seiner Jugend, die Bibel, durch die von Herder in seinem Werke: "Vom Geist der hebräischen Poesie" gesammelten Blüten morgenländischer Dichtkunst. Überall eröffnete ihm Herder einen freieren Blick in das große Gebiet der Literatur. Besonders ward Goethe durch ihn mit den vorzüglichsten Erzeugnissen der englischen Literatur bekannt. Einen noch entschiedeneren Einfluss würde Herder auf Goethes Bildung gewonnen haben, wenn er seine unersättliche Wissbegierde nicht oft zurückgeschreckt hätte durch allerlei sarkastische Bemerkungen, die besonders Goethes Selbstgefälligkeit und Eitelkeit trafen. Aus Furcht vor Herders Tadel verbarg ihm Goethe daher auch sein Interesse an poetischen Gegenständen, und namentlich die Idee, den biederen und tapferen Ritter Götz von Berlichingen zu einem dramatischen Helden zu wählen.

Zu dem Kreise, in welchem sich Goethe damals bewegte, gehörten außer Herder, noch einige andere, mehr oder minder ausgezeichnete Individuen. Der unter dem Namen Jung-Stilling bekannte Schriftsteller befand sich damals in Straßburg. Goethe rühmte in späteren Jahren an ihm seinen Enthusiasmus für alles Gute, Wahre und Rechte. "Unverwüstlich, äußerte Goethe, war sein Glaube an Gott und an eine unmittelbar von ihm ausgehende Hülfe. Sein Glaube duldete keinen Zweifel, und seine Überzeugung keinen Spott." Eine eigentümliche Treuherzigkeit und ein leichter Humor charakterisierte, nach Goethes eignem Geständnis, seinen Freund Franz Lerse. Seine Gewandtheit im Fechten qualifizierte ihn zum Schieds- und Kampfrichter bei allen Händeln, die in der Studentenwelt sich nicht durch Worte und Erklärungen beseitigen ließen. Den Namen seines Freundes verewigte Goethe später in seinem "Götz von Berlichingen." Erst in der letzten Zeit seines Aufenthalts lernte er den als genialen Sonderling bekannten Dichter Lenz kennen, der später (1792) in Geisteszerrüttung zu Moskau starb. Die Exzentrizität Shakespeares und den unvergleichlichen Humor des Britten zu empfinden und nachzubilden, war Niemand geeigneter, als Lenz, wie er durch seine Übersetzung von Love's labour's lost und durch die derselben beigefügten Anmerkungen über das Theater bewies. Wie er, fühlte sich auch Goethe nicht zurückgestoßen durch die Derbheit in Shakespeares Werken, vielmehr reichlich entschädigt durch die darin herrschende Wahrheit und Natur. In ihren geselligen Zirkeln bediente Goethe mit seinen Freunden sich der von Shakespeare gebrauchten Worte und Redensarten. Er ward ihr Vorbild im Dichten, wie im Leben.

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