Gymnasiast und Student

Fritz glaubte die Aufnahmeprüfung schlecht bestanden zu haben. Die regellose Art des bisher genossenen Unterrichts hätte einen einigermaßen kläglichen Ausfall der Aufnahmeprüfung in ein richtiges Gymnasium nicht weiter verwunderlich erscheinen lassen. Aber zu seiner und des Vaters Überraschung war der Rektor Kirsch über das ungewöhnliche Wissen des Knaben erstaunt und wollte ihn sogleich in die oberste Klasse aufnehmen. Der Vater aber setzte es durch, daß Fritz nur auf die mittlere Prima aufgenommen wurde, hier allerdings nicht, wie bei Neuaufgenommenen üblich, den letzten Platz, sondern einen besseren erhielt.

Christian Otto, Jean Pauls späterer Freund, der mit ihm gleichzeitig das Hofer Gymnasium besuchte, gibt von den Lehrern, deren Unterricht Jean Paul nun zwei Jahre zu genießen hatte, keine sehr einnehmende Schilderung: »Keiner der beiden Männer, welche die Primaner unterrichteten, hatte das großartige Talent, reinen wissenschaftlichen Eifer und Dankbarkeit in den Schülern zu erwecken. Ihre ärmliche Besoldung war wohl vornehmlich daran schuld.« Das armselige Los der Theologen und Schulmänner im Fürstentum Baireuth drückte den gesamten Stand und seine Arbeitsfreudigkeit auf eine kümmerliche Stufe herab, und die Männer, die Zeit ihres Lebens bitterste Not litten und durch den ständigen Anblick ihrer darbenden Familie niedergedrückt waren, hatten in den seltensten Fällen noch Kraft genug, erzieherisch und wissenschaftlich auf ihre Schüler einzuwirken. »Der erste und bedeutendste«, schreibt Otto, »war der Rektor Kirsch, der andere der Konrektor Rennebaum. Keiner von beiden hatte Lehrtalent und besonders Liebe zur Jugend.« Kirsch beschäftigte sich mit Vorliebe mit den orientalischen Sprachen. Seine Kenntnisse, obwohl sie dem Knaben selber bald oberflächlich erschienen, waren nicht ohne Umfang. Er langweilte seine Schüler nicht mit Wiederholungen, sondern eilte wie im Fluge vorwärts, »so wie auch die alten Autoren unter seiner Leitung meistenteils kursorisch gelesen wurden«. Jean Paul war vorzüglich im Anfang mehr auf den Unterricht des Konrektors Rennebaum angewiesen, der wohl für einen Schüler von seiner Begabung noch ungeeigneter war. Rennebaum ging langsam und zögernd vorwärts und konnte dem kleinen Fritz Richter, der schon manches gelesen und gedacht, was nicht nur seinen Mitschülern, sondern auch seinen Lehrern noch ganz fremd war, nichts darreichen als unerträgliche Langeweile. Erst als Student entdeckte Jean Paul für sich die Welt der lateinischen Klassiker, die ihm der schlechte Unterricht auf der Schule verleidet hatte.

Das grellste Licht auf die Hofer Schulverhältnisse wirft aber Ottos Beschreibung des französischen Unterrichts. Diesen erteilte ein ärmlich besoldeter ehemaliger Tapetenwirker, der das Französische unrichtig aussprach und fehlerhaft schrieb. Für Lehrer wie Schüler war nur ein einziges französisches Buch vorhanden, das der Lehrer auf der großen Tafel aufstellte. Der Reihe nach mußten sich die einzelnen Primaner zu ihm hinsetzen, um ein Pensum zu übertragen, während die übrigen zwanzig oder dreißig unbeaufsichtigt sich die Zeit mit Unfug vertrieben.

Die Bevorzugung, die Fritz seitens des Rektors entgegengebracht wurde, mußte natürlich die Mitschüler von Anfang an gegen ihn einnehmen. Er, der in der Einsamkeit aufgewachsen war, fern von gleichaltrigen Gespielen, mit dem eigenartigen Entwicklungsgang eines aus dem Durchschnitt herausfallenden Knaben, mußte auch von seinem ersten Auftreten an befremdend und fast beängstigend auf seine Kameraden wirken, die in Geselligkeit und Stadtluft sich gegenseitig abgeschliffen hatten. Christian Otto schildert den späteren Freund, wie er in einer dorfmäßigen, neuen und doch vernachlässigten Kleidung, mit treuherzig unbefangenem Anstand unter die Primaner getreten sei. Sein freimütiges Entgegenkommen sei für zudringlich gehalten worden, sein in sich gekehrter, auf die äußere Erscheinung unaufmerksamer Sinn habe den Spott herausgefordert, sein begeistert nach oben gerichteter Blick sei ihnen schielend erschienen, und so seien die Mitschüler ihm gleich seine »Hussiten« geworden, wie es Jean Paul im Hinblick auf die Hussitenbelagerung seiner Heimatstadt Wunsiedel nannte.

Gleich am ersten Unterrichtstage wurde Jean Paul das Opfer der erbarmenslosen Arglist aufgebrachter Jugend. Der ihm gespielte Streich ging dem Knaben um so näher, als er von dem einzigen Primaner ausging, dem er von früher her bekannt war, namens Reinhart. Reinhart redete dem neuen Mitschüler ein, daß jeder neu Eintretende dem französischen Lehrer die Hand zu küssen habe. Arglos, da er an die Sitte des Handkusses von Kindheit auf gewöhnt war, trat Fritz auf den alten Tapetenwirker zu, um die vermeintlich schuldige Pflicht zu erfüllen. Der Sprachmeister, an Spott und Verhöhnung seitens der Schüler gewöhnt, überhäufte den gänzlich Erstaunten mit Haß- und Wutausbrüchen und verließ unter dem Gelächter der Klasse fluchend und tobend die Stube.

Nicht nur der Mißbrauch seines arglosen Vertrauens traf Fritz ins tiefste Herz, sondern vor allem der Umstand, daß er in den Augen seiner neuen Mitschüler einer kriechenden Demütigung fähig gewesen war. Er hat Reinhart diesen Streich nie vergeben und bis zu seinem Tode jeden Umgang mit ihm gemieden, obwohl sie später in Baireuth zusammen lebten. Ein eigenartiger Zufall wollte es, daß Reinhart, der in Baireuth Prediger wurde, nach Jean Pauls Tode an seinem Grabe die Leichenrede zu halten hatte.

Anderer Übergriffe erwehrte sich Jean Paul mit leichter Mühe. In jeder Woche mußten zwei der unteren Primaner die diensttuenden Brüder oder die Excurrentes machen, die Stunden ausrufen und das Frühstücksbrot für die ganze Klasse herbeischaffen. Da man den Neuling nur als unteren Primaner anerkennen wollte, obwohl er als mittlerer aufgenommen war, suchte man ihn zu diesem Dienst zu zwingen. Er aber stand stumm und trotzig mit gesenkten und geschlossenen Händen da und weigerte sich, das Geld zum Broteinkauf entgegenzunehmen, so daß schließlich die richtigen Excurrentes ihres Amtes walten mußten. Seine entschlossene Haltung blieb auf die Dauer nicht ohne Wirkung, und allmählich errang er die Achtung und Zuneigung seiner Mitschüler.

Ein besonderer Vorfall gab ihm sogar die unumstrittene Führerstellung innerhalb der Klasse. Konrektor Rennebaum war auf den Einfall geraten, öffentliche Disputierübungen anzustellen, wobei er sich die Stelle des immer siegreichen Präses vorbehielt, während Primaner die Rollen des Respondenten und des Opponenten erhielten. Fritz war bei einer solchen Disputation Opponent, als eine Thesis aus der Dogmatik zur Diskussion stand. Der Akt sollte nun planmäßig so verlaufen, daß das kirchliche Dogma neugestärkt und bewiesen aus dem Kampf der Meinungen hervorgehe und Präses und Respondent als Sieger über den Opponenten triumphierten. Jean Paul war aber der Meinung, daß man bei Disputierübungen wie bei allem Forschen nach der Wahrheit unbekümmert um das Resultat so lange fortopponieren müsse, als man Gründe anzubringen wisse. Niemand auf der Schule hatte bis dahin eine Ahnung von seinen überragenden theologischen Kenntnissen, die er unter der Anleitung seiner Gönner Völkel und Vogel erworben. Zum ersten Male konnte er nun die Schätze seines heterodoxen Wissens zur Schau stellen, und er tat es mit einem sachlichen Eifer, daß er den zur These erhobenen Kirchenartikel in Kürze zu Fall brachte. Der Konrektor wie der als Respondent tätige Primaner waren auf einen derartigen Widerstand bei weitem nicht gefaßt und mit den theologischen Streitfragen nicht annähernd so vertraut wie Jean Paul. Der Respondent war bald zum Schweigen gebracht, und auch der Präses so in die Enge getrieben, daß ihm schließlich nichts übrigblieb, als dem siegreichen Opponenten Schweigen zu gebieten und das Katheder plötzlich und unwillig zu verlassen.

Diese Niederlage des Konrektors wurde von den Primanern als ihr eigener Sieg aufgefaßt, und Jean Paul blieb von da ab von allen Neckereien verschont und galt als das geistige Haupt der ganzen Klasse. Die Angelegenheit hatte aber für ihn noch eine andere Folge: Die öffentliche Meinung der engherzigen und bigotten Höfer brandmarkte den jugendlichen Opponenten als Freigeist und Atheisten und verdammte seine heterodoxen Äußerungen auf das erbittertste. Von da ab blieb Jean Paul für seine Landsleute gezeichnet, und die verunglückte Disputation war der erste Anlaß für die gehässige Geringschätzung, mit der ihm seither von den Höfern begegnet wurde.

Jean Pauls Vater, der sicherlich auf seiten des Konrektors und der Hofer gestanden hätte, erlebte diesen Vorfall nicht mehr. Wenige Wochen, nachdem sein Sohn das Gymnasium bezogen hatte, starb er am 15. April 1779 in Schwarzenbach. Der Tod enthob ihn den schweren Konflikten mit dem eigenwillig sich entwickelnden Fritz, die jedenfalls nicht lange ausgeblieben wären. Wir haben kein Zeugnis darüber, wie des Vaters Tod auf den Jüngling wirkte. Vielleicht kann man aus seinem Schweigen schließen, daß er mehr das Gefühl einer Befreiung als eines Verlustes gehabt hat. Ja, bei seinem pietätvollen Sinn ist es nicht ausgeschlossen, daß seine Entfremdung mit dem Vater ihn später seine selbstbiographischen Aufzeichnungen mit dem Zeitpunkt abbrechen ließ, in dem er einen gewissen Gegensatz nicht mehr hätte verschweigen können. Die seit längerer Zeit bestehende Entfremdung zwischen Vater und Sohn hätte sich in den nächsten Jahren sicher zum feindlichen Gegensatz verschärft. Die Aufgabe des theologischen Studiums hätte des Vaters äußersten Widerspruch herausgefordert, und mit dem literarischen Beruf seines Sohnes hätte er sich jedenfalls erst nach dessen großen Erfolgen einverstanden erklärt. Die schmerzvolle innere Loslösung von den Seinen war Jean Paul zwar nicht erspart geblieben, aber er brauchte wenigstens die feindliche Zuspitzung des Generationsgegensatzes nicht zu erleben.

Mochte ihm also der Tod des Vaters manchen inneren Konflikt ersparen, so war er doch von den furchtbarsten Folgen für die zurückgebliebene Familie. Mit dem Tode des Ernährers begann der zehnjährige »trojanische« Krieg mit der Armut, den Jean Paul mit einer atridenhaften Ausdauer zu bestehen hatte. Der Vater hinterließ fünf Söhne und Schulden, die allmählich aus den nicht unbeträchtlichen Einkünften der Schwarzenbacher Pfarre getilgt werden sollten. Aber diese Einkünfte hatte der Verstorbene nur drei Jahre und drei Monate bezogen. Die Schulden waren noch lange nicht bezahlt, die Familie nicht aus der größten Dürftigkeit herausgehoben.

Diese Folgen machten sich für Jean Paul selbst zunächst noch nicht bemerkbar. Nach wie vor lebte er im Hause der noch immer als wohlhabend geltenden Großeltern Kuhn in Hof, von deren Unterstützung die zurückgebliebene Familie in Schwarzenbach nun völlig abhängig war. Die Großeltern hatten Sophia Rosina besonders in ihr Herz geschlossen, und hauptsächlich die Großmutter hatte mit Unterstützungen der an den theologischen Hungerleider verheirateten Tochter niemals gekargt. Es kann nicht verwundern, daß die jüngere Tochter Christiana Maria, an den Gerichtsadvokaten und Goldarbeiter Riedel in Hof verheiratet, die einseitige Bevorzugung ihrer älteren Schwester als ungerecht empfand. Aus diesem Verhältnis sollten sich bald nach dem Tode der Großeltern die unliebsamsten Folgen ergeben. Das großväterliche Testament, das der ältesten Tochter im voraus ein Haus zugesprochen hatte, wurde von der Familie Riedel angefochten. Ein langwieriger und mit Haß geführter Erbschaftsprozeß verschlang die Werte, die der verwaisten Familie Richter den Lebensunterhalt gewähren sollten. Diese das menschliche Verhältnis der Verwandten vergiftenden Gegensätze spannen sich bald nach dem Tode des Schwarzenbacher Pfarrers an, um mit der gänzlichen Mittellosigkeit aller Beteiligten zu enden. –

Jean Paul lernte bereits in seiner Gymnasialzeit seine späteren Freunde Christian Otto und Johann Bernhard Herrmann kennen, jedoch ohne daß es zu einem besonderen Freundschaftsbund mit ihnen gekommen wäre. Aber die Freundschaft mit Adam Lorenz von Oerthel, die ihm für Jahre zum ausschließlichen Herzenserlebnis wurde, begann schon damals und riß sein Herz aus den Umklammerungen des rationalistischen Zeitalters heraus. Während er in Aufsätzen und Schulreden dem Geist der Berliner Aufklärung opferte, gab er sich, von der sentimentalen Siegwartepoche ergriffen, den Seligkeiten einer überschwenglichen Jugendfreundschaft hin. Während in seinen Arbeiten der nüchterne Diesseitsoptimismus der heterodoxen Aufklärung um seinen Ausdruck rang, war sein Herz von der Jenseitsseligkeit des Millerschen »Siegwart« ergriffen und schwärmte mit dem Helden von Hippels »Lebensläufen in aufsteigender Linie« auf Kirchhöfen von überirdischer Liebe und Freundschaft. Eine seltsame Vorwegnahme seiner späteren Romanepoche. Der Herzensüberschwang, dessen prophetischer Künder er viele Jahre später werden sollte, fand damals in ihm seine ersten, noch scheuen und keuschen Töne.

Jahre hindurch müssen wir Jean Paul noch bei seinem Ringen um die rationalistische Weltanschauung beobachten. Von seinem hingegebenen Freundschaftsgefühl für Adam von Oerthel aus verstehen wir erst, wie eiskalt und fremd ihn diese Welt der Aufklärung, die übermächtig auf den jugendlich Wehrlosen eindrang, angerührt haben muß, welche Berge von Fremdheit und Widerwillen ihn bedrückt haben müssen, ehe er endlich den Zugang zu der ihm eigenen Welt des Herzens fand. Es war schließlich des Freundes Tod, der ihm die Ketten des Rationalismus abzuwerfen die Kraft gab, und es waren des Freundes und seiner geliebten Beata Gestalten, die den Reigen seiner Dichtungen eröffneten.

Mit vollen Segeln trieb der bisher von allen Beglückungen des Gemeinschaftslebens Ferngehaltene auf den Ozean beseligender Freundschaftshingabe hinaus.

Adam von Oerthel war über eine angeborene Hypochondrie hinaus unglücklich. Sein Vater, der Kammerrat von Oerthel, war einer jener kaltherzigen, erfolggierigen Emporkömmlinge, die Jean Paul später fast in jedem seiner großen Romane gezeichnet hat. Von Hause aus Kaufmann in Hof, hatte er durch Geiz und nicht immer reinliche Geschäfte ein Vermögen zusammengebracht, das ihn schließlich in den Stand setzte, die Güter Töpen, Hohen- und Tiefendorf (nördlich von Hof) und damit den Adel und den Kammerratstitel zu erwerben. Auch in seinem neuen Stande blieb er als Geizhals berüchtigt und sah von dem Standpunkt des erfolgreichen Selfmademannes auf jedes Bildungsbestreben hinab. Seinen Sohn ließ er in Leipzig darben, so daß Adam trotz seines reichen Vaters als Student kaum weniger Not gelitten hat als Jean Paul. Schon während der Schulzeit muß sich der Gegensatz zwischen Vater und Sohn bemerkbar gemacht haben. Ein Gegensatz, den auch die feinfühlige Mutter Adams nicht überbrücken konnte.

Zu diesen, den zarten und gemütstiefen Jüngling beschwerenden Familienverhältnissen trat die Liebe zu der ein Jahr älteren Beata von Spangenberg von dem benachbarten Gut Venzka hinzu, eine Liebe, die schon durch das Alter Beatens zur Hoffnungslosigkeit verurteilt war, und von der Beata selbst wohl erst spät erfahren hat. In schwärmenden Gesprächen mit dem Freunde mag der unglücklich Liebende die Erfüllung seiner Sehnsucht in ein besseres Jenseits verlegt und seinem Dasein die Kirchhofsstimmung gegeben haben, die seinem weichen Innern entsprach und die ein frühzeitiger Tod bereits als Schatten vorauswarf.

Oerthel wohnte als Höfer Gymnasiast in einem kleinen Gartenhause, das der Vater ihm in ärmlicher Gegend gemietet hatte. Es lag an einem Arm der von Bäumen umsäumten Saale inmitten der Gärten, die zum Flußufer hinuntergingen, mit romantischem Blick auf eine Vorstadtinsel, baumreiche Gärten und einen heiteren Wiesengrund. »Anmutig, ja entzückend«, schreibt Christian Otto, »mußte dieser Aufenthalt für befreundete Jünglinge sein, wenn sie sich vertraulich miteinander unterhielten oder mit Klavierspiel und Singen vergnügten oder der Musik zuhörten, die aus der Nachbarschaft zu ihnen hertönte. Den höchsten Reiz mußte neben der Poesie der Jugend . . . der Einfluß des Zeitalters gewähren, in welchem wertherisiert, siegwartisiert und nach dem täglichen schmerzlich-süßen Genuß einer für verdienstlich und heilig gehaltenen Sentimentalität getrachtet wurde.«

Am 11. Oktober 1780 verließen die beiden Freunde das Gymnasium. Wenige Tage vorher war der Großvater Kuhn gestorben, und wieder knüpfte sich ein Todesfall an einen Lebensabschnitt Jean Pauls. Es waren wohl die baldige Trennung und des Großvaters Sterben, die Jean Paul den einzigen uns erhaltenen Brief jener schwärmerischen Periode eingaben, der uns einen Blick in die Gefühlswelt der Freunde vermittelt. Den Winter über bis zur Abreise nach Leipzig verlebte der junge Mulus bei seiner Mutter in Schwarzenbach. Und hier war es, wo er im Gedenken an den entfernten Freund seinen ersten, der sentimentalen Periode opfernden Roman »Abelard und Heloise« schrieb.

Millers »Siegwart«, Hippels »Lebensläufe« und Rousseaus »Neue Heloise« haben bei diesem Frühwerk Pate gestanden. Zugleich sind aber Züge aus dem Erleben der beiden Freunde hineingeflochten. Die Natur- und Himmelsschwärmerei der Jünglinge ist in Abelard verkörpert, der die Einsamkeit sucht, um in seligem Entzücken am Busen der Natur zu ruhen. Von der Welt, in der nur der Verstand gilt und das Herz zertreten wird, zieht er sich zurück, um seinen Empfindungen zu leben. Sein Vater schickt ihn auf ein Gymnasium, damit er sich auf die Universität vorbereite. Hier durchschaut er die Lehrer bald als hohle Tröpfe, die sich von Wind nähren und das Herz verwelken lassen. In den Schülern findet er die getreuen Kopien der mangelhaften Originale. Diese Eindrücke werden auf der Universität verstärkt. Die Studenten verbringen ihre Zeit mit Nichtigkeiten, und ihr Streben ist nur auf Erlangung einer erträglichen Dienststelle gerichtet. Nur wenige gibt es, die den Drang des Geistes in sich spüren. »Mit allgewaltiger Geniekraft fallen sie über die Wissenschaften her – blicken tief ins Innerste – fliegen Adlerflug – leuchten Sonnenglanz.« In dieser Stimmung naht ihm Heloise. »Eine Sonnennacht voll Freuden, wie sie im Himmel nur sind«, erlebt er in den Armen der Geliebten. Allein auf Befehl des tyrannischen Vaters soll Heloise einen ihr verhaßten Mann heiraten. Auf dem Kirchhofe am Grabe eines armen Mädchens, das wegen des Verlustes ihres Geliebten in den Tod gegangen ist, schwören sie sich ewige Treue. Abelard bezieht die Universität, aber sie trennen sich in der Hoffnung, wenn nicht auf Erden, so im Tode vereinigt zu werden. Heloises Bräutigam muß wegen eines Duells fliehen. Abelard jauchzt bei der Nachricht. Aber bald darauf muß er vernehmen, daß der fliehende Bräutigam vor seiner Flucht die Geliebte tödlich verwundet hat. Heloise fordert Abelard auf, ihr bald in die Ewigkeit zu folgen, und stirbt. Er versucht vergeblich, sich auf ihrem Grabe durch die »Kälte des Nachtgeistes« töten zu lassen und erschießt sich.

Ein halbes Jahr später sah Jean Paul auf dieses erste erzählende Werk als auf eine verfehlte Jugendarbeit zurück. Er urteilte durchaus objektiv über den Roman, fand die Sprache des Herzens getroffen und die Naturschilderungen gelungen, vermißte aber die fehlende Verwicklung und die scharfe Charakterzeichnung und verurteilte die unwahre Darstellung der Liebesempfindung.

Theologische Vorlesungen hört er bei dem stillen und sanften Professor Morus, sodann bei Dathe, von dessen Vorlesungen er weniger entzückt ist als von seinen Büchern. Auch der Philologe Ernesti vermag ihn nicht zu fesseln, und nach dessen Tode fällt er scharfe Urteile über diese Hauptleuchte der Leipziger Universität. Vorlesungen über Moral bei Wieland, über Geometrie und Trigonometrie bei Geler, über die englische Sprache bei Hempel, über Johannes bei Magister Weber vervollständigten seinen Studienplan.

Gerade bei den Vorlesungen des Theologen Morus empfindet er den Widerspruch zwischen dem gesunden Menschenverstand und der erzwungenen Lehrmeinung der Dozenten. »Der größte Fehler, den die Freiheit des Denkens in Sachsen findet, ist, daß die Großen, die Adligen noch nicht aufgeklärt sind. In Sachsen wird jedes freie Buch konfisziert. Morus ist unstreitig nicht orthodox. Er hat schon viele Verfolgungen erlitten; und eben dieses macht ihn behutsam und hindert ihn, seine Meinung frei herauszusagen . . . In seiner Dogmatik trägt er bei streitigen Punkten die Meinungen der entgegengesetzten Parteien vor – er überläßt den Zuhörern die Entscheidung. Und wer wollte da nicht aus der Stärke seiner Gründe auf der einen Seite herausbringen, welches seine wahre Meinung sei.« Aber diese wahre Meinung frei herauszusagen war den Lehrern der akademischen Jugend verwehrt.

Wenn Platner auch vorübergehend seine Begeisterung erwecken konnte, im allgemeinen fühlte er sich von dem Lehrbetrieb der Universität zurückgestoßen und ernüchtert. Was er am heißesten ersehnte: den persönlichen Verkehr mit einem großen Manne, das vermochte ihm Leipzig nicht zu geben. Immer wieder irren seine Gedanken um diesen Wunsch. »Ein großer Mann ist am größten in seiner Stube und noch größer in sich selbst. Draußen in der Welt blendet er nur und verschießt feurige Strahlen, man muß näher bei ihm sein, um Wärme von ihm zu empfangen.« Er glaubt, daß das, was er von den Professoren im Hörsaal vernimmt, nicht ihrer Weisheit letzter Schluß sein könne. Immer vermutet er Größeres dahinter, was sie in der Öffentlichkeit verschweigen müssen, und ist verbittert, daß ihm dieses Letzte wegen seiner Armut verschlossen ist. Er phantasiert sich in den Verkehr mit einem großen Manne hinein. Aber auch hier sieht er unüberwindliche Hindernisse. Kein Mann könne eines Jünglings Freund sein, weil der Jüngling mit dem Manne, dem er Ehrfurcht schuldig sei, nicht von sich selbst reden könne. Warum erkennt man das Genie eines jungen Menschen nicht so leicht? »Man beurteilt ihn nur aus dem, was er merkt, nicht aus dem, was er denkt.« »Um ihn kennenzulernen, müßt ihr das Schulgesicht ablegen und auf eurem Gesicht den männlichen Ernst mit der jugendlichen Freundlichkeit vertauschen. Er wird dann begierig, durch seine Offenheit euren Beifall zu verdienen; seine Strahlen des Genies wird er nicht mit dem Schleier der Gewohnheit verdecken. Im entgegengesetzten Falle seht ihr ihn nicht, wie er ist, sondern wie ihr ihn vermutet; er sagt euch dann nicht seine Gedanken, sondern die, von denen er glaubt, daß ihr sie erwarten werdet.« Eine reife und bittere Psychologie für einen jungen Genius, der sich von jeder Mitteilung an einen Führer ausgeschlossen sieht. Aber er hat diese psychologische Einsicht später genützt und ist zahlreichen Jünglingen der Gedankenheber gewesen, den er selbst vermissen mußte.

Daß seine älteren Höfer und Schwarzenbacher Freunde, die Vogel, Völkel, Werner und Kirsch, diese Führer nicht waren, darüber hatte der Jüngling wohl bald keinen Zweifel mehr, und Vogel selbst erkannte es, und mehr noch: er sagte es frei heraus: »Sie können noch dereinst mehr Verdienst um mich haben, als ich gegenwärtig um Sie gehabt habe. Heben Sie diese Weissagung auf!« schrieb er ihm gleich in einem der ersten Briefe nach Leipzig und grüßte so als erster den jungen aufstrebenden Genius.

Wenn Jean Paul mit solchen Aufzeichnungen, wie denen über das Verhältnis des genialen Jünglings zum großen Manne, ungeduldig gegen das Schicksal seiner Verlassenheit und Einsamkeit aufbegehrte, so ließ er sich keineswegs in seinen Arbeiten aufhalten. Mit Heißhunger nahm er ganze Literaturen in sich auf. In dieser ersten Leipziger Zeit drang er zu den eigentlichen literarischen Quellen der deutschen Aufklärung, zu den englischen Schriftstellern, vor. Pope und Young waren es, die ihn durch ihre Formvollendung und ihre leichte und mondäne Satire entzückten. Nicht der Young der »Nachtgedanken«, sondern der Young der Satiren. Hauptsächlich bot ihm aber Pope, diese Inkarnation des nüchternen englischen Rationalismus, eine Fülle von Anregungen. Die Abhandlung »Etwas über den Menschen«, die er im Sommer 1781 verfaßte, ist wohl auf die Lektüre von Popes »Essay on Man« zurückzuführen, und wenn er ein halbes Jahr später, auf Erasmus' »Encomium moriae« zurückgehend, ein »Lob der Dummheit« schrieb, so ist auch manches von Popes »The Dunciad« (von dunce = Dummkopf) in diesen Aufsatz, wie überhaupt in die Arbeiten der nächsten Jahre, eingeflossen.

Von den englischen rationalistischen Dichtern fand er endlich auch den Zugang zu jener andern zurückliegenden rationalistischen Literatur, die ihm auf der Schule durch den schlechten Unterricht seiner Lehrer verleidet worden war: der lateinischen. Cicero und Seneca – »ich liebe diese beiden jetzt über alles und gäbe ihre Lektüre um keines der besten deutschen Bücher. Die nachgeahmten Satiren eines Pope reißen mich hin; ich fand sie im Original, im Horaz, noch schöner; seine Kritik der Vernunft ist ein Meisterwerk; Horaz »de arte poetica« ebenso. Jetzt lieb' ich die lateinischen Autoren; ich habe das dumme Vorurteil fahren gelassen, von welchem ich durch eine sehr schlechte Information von meinem lateinischen Lehrmeister bin angesteckt worden« Und in diesem Zusammenhang dürfen auch die Franzosen nicht fehlen: »Jetzt les' ich die französischen Bücher lieber als deutsche. Der Witz eines Voltaire, die Beredsamkeit eines Rousseau, der prächtige Stil eines Helvezius, die feinen Bemerkungen eines Toussaints – alles dies treibt mich zum Studium der französischen Sprache.« Die Luft von Klein-Paris, wie Leipzig genannt wurde, machte sich bemerkbar. »Sonst las ich bloß philosophische Schriften; jetzt noch lieber witzige, beredte, bilderreiche.« Wie Goethe in Leipzig fünfzehn Jahre früher von der gefälligen Welt des Alexandriners eingefangen wurde, so ging es jetzt Jean Paul mit der rationalistischen Satire, der lateinischen, und ihrer Nachahmer aus dem 18. Jahrhundert.

Mit Verwunderung wird man Rousseaus Namen in diesem Zusammenhang antreffen. Ganz anders hatte Rousseaus »Neue Heloise« auf den Gymnasiasten und Mulus gewirkt, als er der schwärmerischen Periode in seinem Jugendroman »Abelard und Heloise« opferte. Man sollte meinen, daß die Lektüre des Sturmvogels der französischen Revolution die rationalistische Kruste des Studenten sprengen und ihn in einen Strudel überströmenden Lebensgefühls hineinreißen würde. Es war die Zeit, wo Rousseaus Einfluß auf Pestalozzi, Basedow und die Philanthropisten bezwingend wirkte. Aber ganz anders nahm Jean Paul ihn auf. Nicht sein edler Zorn, seine Anklage der menschlichen Gesellschaft, der Kultur des 18. Jahrhunderts wirkte auf ihn ein. Er preist seine »Beredsamkeit«, und in seinen Exzerptenheften machte er Auszüge von Beschreibungen vornehmer Lebenskreise, die ihm verschlossen waren und in die hineinzublicken ihn noch immer sehnsüchtig verlangte. So schrieb er sich eine über zwanzig engbeschriebene Seiten lange Darstellung des geselligen Lebens in der großen Pariser Welt ab, wohl in dem dunklen Gefühl, daß er solche Schilderungen einmal zu eigener Darstellung gebrauchen würde. Aber wenige Monate später berührte ihn doch von ferne die eigentümliche Größe Rousseaus. Etwa im September 1781 schreibt er im »Tagebuch meiner Arbeiten«: »Wir haben große Geister gehabt, aber noch keine großen Menschen. Alle unsere Genies schwingen sich durch ihren Verstand über diese Erde weg – wir sehen traurig ihrem Fluge nach und bedauern, nur Menschen zu sein; wir verehren sie, aber wir lieben sie nicht sehr. Allein eine Ausnahme ist da: Rousseau. – Seine Fähigkeiten machten ihn zum großen Mann – – sein Herz zum großen Menschen.« Er ahnt, daß es etwas Höheres gibt als den Geist des Rationalismus: das Feuer, die bestehenden Verhältnisse umzuschmelzen. Er, der sein Herz unverhüllt in die Welt werfen sollte, ahnt in dem großen Schweizer einen Vorgänger. Aber der Anhauch dieses Geistes schmilzt ihn selber noch nicht um.

Während all dieser Arbeiten und Eindrücke rissen die Fäden nach der Heimat nicht ab. Der geistige Austausch mit dem Pfarrer Vogel wurde fortgesetzt, wobei der junge Student allmählich die Führerrolle übernahm. Von dem geistigen Zentralpunkt der großen Stadt übermittelte er dem abgelegenen Dorfpfarrer die literarischen Neuerscheinungen. »Zur Messe kommen verschiedene wichtige Bücher heraus: Kants Kritik der Vernunft; witzig, frei und tiefgedacht!« heißt es in dem Brief vom 17. September 1781. Er besorgte dem Mentor Bücher und wichtige Rezensionen. Aber auch die familiären Verhältnisse in Schwarzenbach erforderten seine ständige Aufmerksamkeit. Gegen Ende des Sommers brach der zehnjährige trojanische Krieg mit der Armut in ganzer Heftigkeit los.

Aktuar Vogel, der Hauswirt der Familie Richter, hatte versucht, auf dem Wege über seinen jungen Freund Jean Paul und dessen Freund Adam Oerthel Gerichtshalter des Kammerrats von Oerthel zu werden. Dieser aber wollte offenbar seinen alten Gerichtshalter, einen Advokaten Klingsohr, behalten. Zwischen Aktuar Vogel und Jean Paul wurden über den Gegenstand einige Briefe gewechselt, die nicht zum Ziele führten. Im Herbst war Vogel noch immer nicht Gerichtshalter der Oerthelschen Güter. Im August kündigte er plötzlich Frau Richter ihre Schwarzenbacher Wohnung in seinem Hause. Bei der später hundertfach bewährten Freundschaft des Aktuars für Jean Paul und die Seinen kann diese Kündigung kaum in böser Absicht erfolgt sein. Vielleicht war er selbst durch Not gezwungen, sich nach zahlungskräftigeren Mietern umzusehen. Es scheint auch, daß Frau Richter selber Schwarzenbach verlassen wollte, um zu ihrer Mutter nach Hof zu ziehen. Durch das Testament ihres verstorbenen Vaters, des Tuchfabrikanten, waren ihr in Hof zwei Häuser vermacht worden, und sie konnte hoffen, dort wenigstens die Wohnungsmiete zu sparen. Aber ihre Verwandten Riedel hatten die Gültigkeit des Testaments angefochten, und so war der Besitz der Häuser wiederum in Frage gestellt. Jean Paul riet dringend, in Schwarzenbach zu bleiben, wo man auf die Hilfe bewährter Freunde rechnen konnte, während die Familie in Hof gänzlich fremd war und auch keinen Anspruch auf behördliche Unterstützung hatte. Die Verhältnisse der Großmutter hatten sich inzwischen seit dem Tode ihres Mannes fortdauernd verschlechtert, so daß eine Hilfe von dieser Seite nicht mehr zu erwarten war. Sorge bereitete auch die wenig hoffnungsvolle Entwicklung seiner Brüder. Rektor Werner beklagte sich über ihre Faulheit. Er bat ihn ausdrücklich, streng zu sein. Aber diese strengere Behandlung hatte die entgegengesetzten Folgen, wie wir noch sehen werden.

Unter dem Druck der Verantwortung als ältester Sohn und Haupt der Seinen tat Jean Paul nun einen Schritt von unerwarteter Kühnheit: Er brach kurz entschlossen sein Studium ab, um als freier Schriftsteller sein Brot zu verdienen.

Bei seiner Lage konnte dieser Entschluß fast wie Wahnsinn erscheinen. Von keiner Seite hatte man ihm irgendwelche Hoffnung gemacht, daß er in absehbarer Zeit auch nur das Geringste mit literarischer Arbeit verdienen würde. Was er an Manuskripten einzusetzen hatte, ging nicht über einige Aufsätze hinaus, für deren Annahme keinerlei sichere Aussicht bestand. Aber schließlich waren die pekuniären Aussichten eines völlig mittellosen Studenten der Theologie auch gleich Null. Es ist, als ob er eine Bilanz ziehen wollte, wenn er im September in einem Brief an Rektor Werner noch einmal die Unmöglichkeit hervorhebt, Informationen und Freitische zu erhalten. »Ich habe hier noch keine Information, keinen Tisch, keine Bekanntschaft mit Studenten, noch gar nichts. Es ist eben nicht ganz leicht, Zutritt bei den Professoren zu erhalten. Diejenigen, die eigentlich berühmt sind und deren Liebe mir nötig genug wäre, sind von einem Haufen Geschäfte umringt, von einer Menge von andern vornehmen Personen . . ., von einem Schwarm niederer Schmeichler umlagert, daß jeder, den nicht sein Kleid und sein Stand empfiehlt, nur erst mit Mühe ihr Bekannter wird . . . . Bedenk' ich noch die Menge von armen Studenten, die sich, Hunger auf ihrem Gesichte, so leicht verraten, die Menge von schlechten Studenten, die den menschlichen Professor hintergehen und ihn gegen die besseren hart machen, so kann ich mir das ganze Phänomen erklären.« Es ist der Verzweiflungsschrei eines, der sich am Ende aller Aussichten sieht. Und nun kommt ein Satz, der auf den Entschluß, mit allem dem ein Ende zu machen, vorbereitet. »Demungeachtet geben Sie Ihre Hoffnung nicht auf; ich werde all diese Schwierigkeiten überwinden, ich kann sie zum Teil; allein ich brauch' es nicht. Hier komm' ich auf das Rätsel, dessen Auflösung Sie so begierig erwarteten und welches ich meiner Mama nur dunkel angegeben. Allein jetzt ist's ebensowenig noch aufgelöst.« Des Rätsels Auflösung war diese: er hatte einen längeren Aufsatz »Etwas über den Menschen«, der ihn den Sommer über beschäftigt hatte, an Christian Boie, den Herausgeber des »Deutschen Museum« in Göttingen, gesandt und wartete von Tag zu Tag auf Annahme und Honorar. Dieser Aufsatz sollte seine Schriftstellerkarriere einleiten.

Einige Wochen später erhielt er den Aufsatz zurück.

Dennoch begann er sich als Schriftsteller zu fühlen und suchte seine veränderte Stellungnahme zur Welt auch äußerlich zu dokumentieren, inneres Wesen und äußeres Bild seiner Erscheinung miteinander in Einklang zu bringen. Wenn er den Hauch einer neuen Zeit in sich fühlte und als Autor der offiziell herrschenden Orthodoxie den Krieg erklärte, so glaubte er auch in seiner Kleidung den Gegensatz betonen zu müssen, und wählte dazu eine Tracht, die in unsern Tagen wiederum als Kampftracht einer jungen aufsteigenden Generation in Mode gekommen ist: den heute sogenannten Schillerkragen. Ende August schrieb er an seine Mutter: »Dafür schicken Sie mir lieber seine Oberhemde, keine Unterhemde brauch ich nicht; aber jene müssen à la Hamlet gemacht sein. Bei Ihnen wird dies niemand verstehen; das heißt nämlich, vorn bei der Brust müssen sie offen sein, daß man den bloßen Hals und die Brust sehen kann; das ist hier Mode.« Allein gerade weil es jeder Mode ins Gesicht schlug, entblößte er Hals und Brust, und ein halbes Jahr darauf schnitt er kurz entschlossen den Zopf ab und ließ offenes Haar frei im Winde wehen.

Und ebenso machte er aus seiner von dem Zeitgebrauch abweichenden Rechtschreibung nunmehr ein System und erhob zum Grundsatz, was früher nur bequemer Gebrauch gewesen war. Schon in der Muluszeit war er in der Schreibart eigene Wege gewandelt. Er hatte das Dehnungs-h und die Verdoppelung der Konsonanten wie Vokale verpönt. In einem Brief an Pfarrer Vogel vom November 1781 verteidigt er seine Schreibweise gegen die Angriffe des Mentors mit rationalistischen Gründen. Er geht von dem zufälligen augenblicklichen Stand der Sprachentwicklung aus, ohne auf ihre Geschichte und Stammeszugehörigkeit Rücksicht zu nehmen, und huldigt dem verflachenden und rationalistischen Prinzip, die Schriftzeichen der Klangform anzugleichen. Er, den später Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache als einen der größten Sprachschöpfer anführt, der aus dem Sprachbewußtsein des Volkes und der Sprache selbst neues Sprachgut in Menge ans Licht hob, er zeigte sich in seinem Aufklärungszeitalter als der folgerichtigste Rationalist, um so mehr, als Rationalismus eine ihm wesens- und blutfremde Anschauung war. Jeden Gedanken an Mythos und Sinn einer Sprache hätte er damals radikal abgelehnt. Zuckt er doch über den Mystiker Krusius und seine Anhänger die Achseln: »Man ist im Jahr 1781 zu aufgeklärt, um ganz Krusianer zu sein, wenigstens zu klug, um es zu sagen.«

Schon in einem früheren Brief an Rektor Werner heißt es: »Ich würde nur das arbeiten, was mir gefiele . . .« Jetzt, wenige Wochen später, kommt an Pfarrer Vogel die Absage seines theologischen Studiums: »Es wird mir schwer, Ihnen gewisse Dinge zu sagen, da sie sich ohne den Schein von Stolz und Prahlerei kaum sagen lassen: aber es wird mir leicht, es zu sagen, wenn ich mich erinnere, daß Sie mich zu gut kennen, um da mich stolz zu vermuten, wo ich's nicht sein kann, oder da zu finden, wo man's bloß zu sein scheint. Ich habe mir die Regel in meinen Studien gemacht, nur das zu treiben, was mir am angenehmsten ist, für was ich am wenigsten ungeschickt bin, und was ich jetzt schon nützlich finde oder halte. Ich habe mich oft betrogen, wenn ich dieser Regel gefolgt bin: allein ich hab' es nie bereut, in einen Irrtum gefallen zu sein, der . . . Das studieren, was man nicht liebt, das heißt, mit dem Ekel, mit der Langweile und dem Überdruß kämpfen, um ein Gut zu erhalten, das man nicht begehrt, das heißt, die Kräfte, die sich zu etwas anderm geschaffen fühlen, umsonst an eine Sache verschwenden, wo man nicht weit kommt, und sie der Sache entziehn, in der man Fortgänge machen würde. ›Aber eben dadurch verdienst du dein Brot‹ ist der elendeste Einwurf, der gemacht werden kann. Ich wüßte keine Sache in der Welt, durch welche man sich nicht Brot erwerben könnte. Ich will das verschweigen, daß der nie so weit kommt, der sich in seinen Studien bloß die Erwerbung eines notwendigen Bedürfnisses zum Endzweck setzt –, ›allein in dem einen mehr, in dem andern weniger!‹ Dies zugegeben; so weiß ich nicht, ob ich in dem mein Brot erwerben werde, wozu ich keine Kräfte fühle, keine Lust empfinde, und in welchem ich also nur wenig Fortgänge mache, oder in dem, in welchem mich mein Vergnügen anspornt, mir meine Kräfte forthelfen . . . – Man muß ganz für eine Wissenschaft leben, ihr jede Kraft, jedes Vergnügen, jeden Augenblick aufopfern, und sich mit den andern nur deswegen beschäftigen, insofern sie der unsrigen eine Folie verschaffen. Und entgeht mir durch die sonderbare Verwicklung von äußeren Umständen der unbedeutende Nutzen, der jedem schlechten Kopf sein Ziel ist, so wird mir das wahrlich wieder zehnfach ersetzt, daß ich in der Betreibung meiner Wissenschaft die Seelenwollust genieße, die aus jeder Beschäftigung mit Wahrheiten quillt, den Reiz empfinde, den für mich jede Äußerung meiner Kräfte hat, und vielleicht auch die Ehre genieße, die ihm über kurz oder lang zuteil wird. Dies ist meine Verteidigung.«

Selten ist ein so folgenschwerer Entschluß unter so schwierigen Umständen mit mehr Heroismus gefaßt und begründet worden. Mochte das Gedankenbild Jean Pauls noch von dem Rationalismus abhängig sein, der Heroismus seiner persönlichen Haltung weist weit darüber hinaus. Die Sätze, in denen er seinem Mentor den Abschluß seines Brotstudiums begründet, sollten jedem Erzieher und jedem jungen Menschen vor Augen stehen. Mit der Souveränität innerer Größe weist Jean Paul hier jede Halbheit des Lebens von sich zurück, die fast in jeder Generation den größten Teil kraftvoller Jugend verschlingt. Nur das Leben kann Früchte tragen, das aus dem Ganzen gelebt, das mit Leidenschaft für eine Sache eingesetzt wird. Wo die Öffentlichkeit der Halbheit jener Kompromißnaturen anvertraut ist, die die innere Berufung des sicheren Weges halber aufgeben, hat der Weg noch stets in den Abgrund geführt. Widriger können Umstände nicht sein als die, unter denen Jean Paul dem Ruf seiner Natur folgte. Er brach alle Brücken, die zur sicheren Futterkrippe führten, ab in dem Bewußtsein, daß seine eigentlichen Fähigkeiten den Menschen rascher und sicherer an das erstrebte Ziel tragen als ein ungeliebter Beruf. Und wenn sein Weg durch Hungerjahre führte, so sollte sich doch zeigen, wie sehr er mit seiner Überzeugung recht hatte.

Die Ablehnung seines Aufsatzes machte ihn bei dem einmal eingeschlagenen Wege nicht wankend. Er steigerte seine Bemühungen. Nicht mehr Aufsätze, ein ganzes Buch wollte er schreiben, um durch das Honorar der Not zu steuern. Bei den Vorbildern, unter deren Einfluß er stand, war er sich über Stoff und Form bald im klaren. Auch hierin opferte er dem Geist des Rationalismus, daß er ein Werk zu schreiben gedachte, nicht aus irgendeinem inneren Anlaß, sondern um eben ein Werk zu schreiben. Es konnte nichts anders als eine Satire werden. Das Vorbild dazu fand er in des streitbaren Erasmus »Encomium moriae«, wozu der starke Einfluß Popes kam.

Die Schrift des großen Humanisten war in der Tat dazu angetan, seinem Herzen die Zunge zu lösen. Mit vernichtender Ironie wendet sich Erasmus gegen die Krebsschäden seines Zeitalters. Poeten, Redner, Juristen, Gelehrte, Höflinge, Fürsten, ihnen allen hält er den Spiegel vor und trifft sie mit den Geißelhieben seiner Rede. Er züchtigt die Grammatiker, die von ihrer Gelehrsamkeit einen so hohen Begriff haben und doch den Knaben nur dummes Zeug beibringen. Am unbarmherzigsten – und hier kam er Jean Pauls Einstellung am meisten entgegen – verfolgt er »das stinkende Kraut der Theologen«, die »mit ihrem nichtsnutzigen Geschwätz Zeugs zusammenstottern, das kein Mensch verstehen kann, als wer auch so ein Stottermatz ist«. Die »Sauerei, Unwissenheit, Grobheit und Unverschämtheit der Mönche«, die gottlosen Päpste, die Christus durch ihr fluchwürdiges Leben noch einmal ermorden, über sie alle gießt er die Lauge seines Spotts und seiner Entrüstung aus. Es ist immerhin bezeichnend für Jean Paul, daß er auf dieses streitbare Vorbild einer kulturkämpferischen Zeit zurückging und nicht völlig dem Einfluß der gegenstandslosen und spielerischen Satire der Engländer unterlag.

Das Thema der Dummheit beschäftigte Jean Paul bereits seit dem Sommer 1779, doch kam er damals über flüchtige Skizzierung des Gegenstandes nicht hinaus. In den beiden Vorarbeiten seines »Lobes der Dummheit«, den Aufsätzen »Von der Dummheit« und »Unterschied zwischen dem Narren und dem Dummen« führte er den Griffel der Satire schon sicherer, ja in der Anordnung des Stoffes war er sogar glücklicher als in dem größeren zur Veröffentlichung bestimmten Gemälde. Wie Erasmus führt er die Dummheit redend ein und läßt sie in witziger Rede nachweisen, wie sehr sie die Wohltäterin der Menschen sei. Im ersten Teil werden die Vorzüge des Dummen vor dem Weisen behandelt. Mit ausgezeichneter Ironie wird nachgewiesen, wie die Dummheit die Gesundheit des Körpers und der Seele befördere und wie in richtigem Instinkt die Gelehrten, Mächtigen und Reichen die Weisheit bekämpften. Im zweiten Teil werden die ironischen Ausfälle spezieller. Auf Frauen, Fürsten, Höflinge, Theologen, Juristen, Ärzte, Dichter, Philologen, kurzum, auf alle Träger des geistigen und öffentlichen Lebens richten sich ihre Pfeile. Besonders heftig werden die Fürsten mitgenommen. Nur der Zensur wegen ist bemerkt, daß die Schilderung nicht mehr auf das 18. Jahrhundert passe. Gerade in seiner Heimat hätte manche Anspielung ins Schwarze getroffen. Im übrigen ist die Schrift für unsern heutigen Geschmack genau so ungenießbar wie die übrige Satirenliteratur des 18. Jahrhunderts, und nur der Name Jean Pauls zwingt uns, uns mit ihr zu beschäftigen und wenigstens Tendenz und Inhalt festzustellen.

Den Winter über war der junge Schriftsteller mit dem »Lob der Dummheit« beschäftigt und glaubte mit Recht, ein Buch geschrieben zu haben, das hinter den üblichen Machwerken der Zeit nicht zurückstand. Es war eine Zeit des Elends und Hungerns für ihn. Schon im Dezember war er trotz der unzureichenden Hilfe Oerthels, der jeden Bissen mit ihm teilte und des Freundes wegen in Schulden geriet, von allen Mitteln entblößt und mußte die Mutter, die selbst infolge des Erbschaftsprozesses in der übelsten Lage war, um Geld anflehen. Damals war Frau Richter bereits zu ihrer Mutter in die Klostergasse nach Hof übergesiedelt. Aber auch die Großmutter konnte nicht mehr nennenswert helfen. »Ich weiß, wie nötig Sie es jetzt brauchen. Allein helfen Sie mir nur jetzt; ich denke, Sie sollen mir nachher mit Gottes Hilfe länger nicht helfen dürfen. Es muß gehen; vielleicht hilft mir das Mittel, das ich im Kopfe habe, zu Gelde. Allein jetzt muß ich Geld haben; ich wüßte wahrlich nicht, was ich anfangen sollte, wenn Sie mir entweder keines schickten oder mich doch lange warten ließen.«

Im Februar oder März 1782 war er mit dem »Lob der Dummheit« fertig. Durch einen Bekannten spielte er das Manuskript dem Professor Seidlitz in die Hand und glaubte, dessen Beifall und Protektion errungen zu haben. Er schwelgte in der Hoffnung, wenigstens hundert Taler Honorar zu erhalten und den Sommer über davon leben zu können. An Vogel schrieb er über seine Pläne: »Ich will Bücher schreiben, um Bücher kaufen zu können; ich will das Publikum belehren (erlauben Sie diesen falschen Ausdruck wegen der Antithese), um auf der Akademie lernen zu können . . . Ich änderte nun die Art meines Studierens; ich las witzige Schriftsteller, den Seneca, den Ovid, den Pope den Young, den Swift, den Voltaire, den Rousseau, den Boileau, und was weiß ich alles? – »Erasmus Encomium moriae« brachte mich auf den Einfall, die Dummheit zu loben. Ich fing an; ich verbesserte; ich fand da Hindernisse, wo ich sie nicht suchte, und da keine, wo ich sie erwartete; und endigte an dem Tage, wo ich Ihren schätzbaren Brief bekam.« Er übersandte mit dem Brief dem alten Freunde das Manuskript. »Ich werde Ihnen den größten Dank abstatten, wenn Sie mir, ehe ich das Manuskript dem Verleger überlasse, einige Nachricht in Ansehung des Wertes desselben, des Akkords mit dem Verleger usw. erteilen, und noch mehr, wenn Sie die auffallendsten Fehler desselben anzeigen.« Aber auch diesmal sollten seine Hoffnungen zu Wasser werden. Er erhielt das Manuskript einige Wochen später von dem Buchhändler zurück.

Zum Osterfest fuhr er nach Hof und bot die Schrift von dort aus dem Verleger Weygand an, auch dieses Mal vergeblich. Es muß ein trauriges Fest gewesen sein, und nichts von der freudigen Stimmung des »Quintus Fixlein« lag über dem Wiedersehn mit der Mutter. Im März war die Großmutter Kuhn gestorben und damit der letzte Hinterhalt der Familie geschwunden. Selbst den alten Freund Vogel besuchte er nicht, bat ihn nur um einige Bücher, die der stets Hilfsbereite ihm schickte. Das Wetter war rauh und winterlich. Im Schneetreiben hatte er mit Oerthel die Reise gemacht, und als er am 2. Mai mit dem Freunde zurückfuhr, lag der Winter noch immer über den Höhen des Fichtelgebirges. So verflossen die Tage in der Heimat inhaltleer, und nur einem wird er während dieses Ferienaufenthalts nähergetreten sein: dem neuen Freunde Johann Bernhard Hermann, mit dem er seit Anfang des Jahres Briefe wechselte.

Oerthel und Hermann sind die beiden großen Erlebnisse in Jean Pauls Jugendzeit. Oerthel hatte ihm in der Gymnasiastenzeit den kurzen Vorfrühling einer sentimentalen Epoche geschenkt, und sein früher Tod löste ihm endlich die Dichtersprache. Hermann schenkte ihm nicht weniger. Seine zerrissene Persönlichkeit vermittelte Jean Paul das Erlebnis eines tragischen Realismus, eines Leidens an den erdgebundenen Diesseitigkeiten, in die die Sinne sich dennoch in Ekel und Wollust einwühlen.

Hermann war zwei Jahre vor Jean Paul als Sohn eines armen Zeugmachers in Hof geboren worden. Ein Jahr nach Jean Paul hatte er das Hofer Gymnasium verlassen, zusammen mit den beiden ältesten Brüdern Otto. Schon bis zum Schulabgang war er also um etwa drei Jahre hinter Jean Paul in seinem Entwicklungsgange zurückgeblieben. Nicht aus mangelnder Begabung, sondern aus drückendster Armut, die ihn immer wieder von regelmäßigem Schulbesuch ausschloß und zu niedrigsten Arbeiten zwang. Täglich mußte er in dem väterlichen Betrieb eine bestimmte Menge Garn abspulen, überdies seine kleineren Geschwister warten, bevor er daran denken konnte, seine Schulausarbeitungen zu machen oder selbst Unterricht zu geben, um sich das Schulgeld zu verdienen. Eine glühende Liebe zu den Wissenschaften ließ ihn das Martyrium einer solchen Jugend ertragen, aber nicht ohne schwere Schädigungen seiner Gesundheit, die seinen frühen Tod unter qualvollen Umständen herbeiführten. Hermann war der größte Gegensatz zu dem zarten und weltschmerzlerischen Oerthel, und es ist leicht zu verstehen, daß eine Freundschaft mit diesem eine engere Verbindung mit jenem nahezu ausschloß. Ob Jean Paul bereits während seiner Gymnasiastenzeit mit Hermann in näheren Beziehungen stand, ist fraglich. Ganz eindruckslos konnte eine solche Erscheinung den jungen Dichter kaum lassen, und wahrscheinlich hat er ihn zum mindesten wissenschaftlich schon früh beeinflußt.

Der krassen Art entsprechend, mit der sich Hermann mit den Realitäten des Lebens abfand, gehörte den Naturwissenschaften seine eigentliche Neigung, und auf diesem Gebiet muß er schon früh erstaunliche Kenntnisse gesammelt haben. Trotz seines unregelmäßigen Entwicklungsganges veröffentlichte er bereits mit neunzehn Jahren zwei naturwissenschaftliche Schriften, »Über die Mehrzahl der Elemente« und »Über Licht, Feuer und Wärme«, und es ist anzunehmen, daß auch schon in seiner Schulzeit naturwissenschaftliche Gedankengänge ihn vorwiegend beschäftigten. Eine Reihe von Abhandlungen, die Jean Paul bereits als Gymnasiast und Mulus schrieb oder skizzierte, scheint auf Hermanns Einfluß zurückzugehen: »Ein Ding ohne Kraft ist nicht möglich« – »Ist die Welt ein perpetuum mobile?« – »Wie sich der Mensch, das Tier, die Pflanze und die noch geringeren Wesen vervollkommnen« u. a. Dennoch bezeugt die formelle Anrede der Freunde in den Briefen, daß sie sich erst später nähergekommen sein können.

Nach seinem Abgang von der Schule schlug sich Hermann eine Zeitlang mit Informationen durch und war gegen Ende des Jahres 1781 als Lehrling in die Fischersche Apotheke in Hof eingetreten. Bald darauf beginnt der Briefwechsel mit Jean Paul, der bis zum Tode Hermanns im Jahre 1790 unausgesetzt geführt wurde. In einem Brief vom 9. Januar1782 bestürmte Jean Paul den neu gewonnenen Freund, den verzweifelten Entschluß, Apotheker zu werden, aufzugeben und sich in Leipzig dem Studium der Medizin zu widmen. »Durch Informieren kommen Sie fort, welches die große Anzahl der Studenten hier ernährt.« Ein Satz, der zu denken gibt. Unmittelbar nachdem Jean Paul seinen Beratern die Unmöglichkeit, sich in Leipzig durch Informationen durchzuschlagen, auseinandergesetzt, rät er Hermann, der, wie er wußte, nicht die geringste Summe einzusetzen hatte, sein Glück ganz auf die Möglichkeit von Informationen in Leipzig zu setzen. Dieser Widerspruch ist, wenn man nicht annehmen will, daß Jean Paul gewissenlos handelte, nur dadurch zu erklären, daß er selbst seine Zeit nicht durch Stundengeben vergeuden, sondern ganz auf sein Werk konzentrieren wollte. Ein Entschluß, den er selbst in Zeiten furchtbarster Not mit der ihm eigenen Zähigkeit aufrechterhielt.

Während der kurzen Ferientage wird das brieflich angebahnte Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden durch ähnliches Schicksal Verbundenen persönlich bekräftigt worden sein. Es war der einzige Gewinn seines ersten Besuches in der Heimat.

Unmittelbar nach der Abreise starb der Gerichtsadvokat und Goldarbeiter Riedel, der Prozeßgegner der Familie Richter, und der gehässige Erbschaftsprozeß nahm damit ein Ende, nachdem er den Wohlstand der Familie zerrüttet hatte. Nunmehr konnte Frau Richter darangehen, ihre Mittel zu überschauen und flüssig zu machen. Die Bibliothek ihres Mannes wurde an die Vierlingsche Buchhandlung um ein Geringes verkauft. Alter Hausrat, der sich noch in Schwarzenbach befand, wurde durch Vermittlung des Rektors Werner versteigert. In den Händen des Kammerrats von Oerthel befand sich noch der Kaufschilling von einem Bauerngut, das der Großvater Kuhn seinerzeit verkauft hatte. Mutter und Sohn teilten sich jetzt in das Geld, das sie nunmehr ohne Gefahr der Beschlagnahme durch die Gerichte an sich nehmen konnten. Die Summe half dem gänzlich Mittellosen über den Sommer hinweg. Es waren klägliche Brocken, die das Schicksal den Unglücklichen hinwarf, aber sie linderten wenigstens für den Augenblick die furchtbarste Not.

In Leipzig blieb ihm für den Augenblick nichts zu tun, als das zurückgekehrte Exemplar des »Lobes der Dummheit« noch einmal durchzusehen. Später beschrieb er dem Pfarrer Vogel die Szene mit dem hervorgeholten Manuskript, das ihm selbst nicht mehr gefallen wollte. »›Da lieg' im Winkel,‹ sprach ich mit pathetischer Miene zum kleinen Richter, ›wo die Schulexerzitien liegen; denn du bist selbst ein halbes. Ich will dich vergessen: denn die Welt würde dich ohnehin vergessen haben. Du bist zu jung, um alt zu werden.‹« Er fand die Sprache mit Antithesen überladen. Die wenigen Wochen hatten hingereicht, ihn die Mängel seiner ersten größeren Arbeit sehen zu lassen.

Es ist außerordentlich bezeichnend für Jean Paul, daß er die Flinte nicht ins Korn warf, sondern mit kurzem Entschluß sich sofort an die Ausarbeitung eines neuen Buches machte, das auch im Umfang das »Lob der Dummheit« um ein Mehrfaches übertreffen sollte. Er war wie ein Spieler, der den Verlust durch Verdoppelung des Einsatzes auszugleichen sucht und die Gewißheit des Erfolges mit visionärer Sicherheit vor sich sieht. In sechs Monaten schuf er »einen nagelneuen Satyr«, die »Grönländischen Prozesse«. Dieses erste Buch Jean Pauls, das gedruckt werden sollte, wurde unter den größten Entbehrungen geschrieben. »Denken Sie sich den verdrießlichen Mißklang zwischen dem Belachen fremder Torheiten und dem Unmut über das eigene Schicksal.« Es war eine Gigantenleistung, nicht als Werk, aber in der Überwindung der inneren und äußeren Hemmnisse. Jean Paul ist sein Leben lang stolz darauf gewesen, diesen seinen Erstling mit neunzehn Jahren in sechs Monaten sich abgerungen zu haben. Er selbst empfand ja erst später in ganzem Umfang den Widerstreit dieser rationalistischen Satire zu seinem Wesen. Er quälte sich in eine Schreibweise, die ihm im Grunde zuwider war, zwang sich ein Lachen ab, das in spielerischen Antithesen seinen Ausdruck fand und nicht Heiterkeit, sondern allenfalls leere Bewunderung seines Geistes erregen konnte. Er, der kaum einen Blick aus seiner Studierstube, aus seinen Büchern hinaus getan hatte, forderte das Leben in seinen glänzendsten Erscheinungen vor das Forum seines Witzes und schraubte sich zu einem überlegenen, blasierten Standpunkt empor. Höfe und Höflinge, Gelehrte und Akademien forderte er heraus. Über Weiber und Staatsmänner ergoß sich sein Spott. Und währenddessen sah er immer sich selbst, mit Hunger und Entbehrungen ringend, nach Teilnahme am Leben erst begierig, in seiner einsamen Dachstube, neben sich Wand an Wand den Freund, der seine Armut teilte und die Reinschrift besorgte, weil Jean Paul nicht deutlich genug für den erhofften Setzer zu schreiben fürchtete.

Vierzig Jahre später schilderte Jean Paul in der Vorrede zur zweiten Auflage die Situation, in der das Buch entstand. »Während dieses schriftstellerischen Umgangs nahm der Winter mit seiner und – meiner Armut zu.« Während das Manuskript bei den Verlegern herumreiste, »stand der Vater viel von dem aus, was man im gemeinen Leben ungeheizte Öfen und ungesättigte Magen nennt«. Nur mit äußerster Anspannung des letzten Willens konnte er ein Manuskript vollenden, das so gar nicht seine poetischen Schöpferkräfte aufrief und nur literarischen Gedankenspielereien Raum verstattete. Er mußte zusehen, wie seine Lage von Tag zu Tag hoffnungsloser wurde und wie die Armut der Seinen zu Hause stieg. Sein um ein Jahr jüngerer Bruder Adam war, nicht mehr fähig, das Elend zu ertragen, fortgelaufen und trieb sich als Barbiergehilfe in der Welt umher. Wenige Wochen darauf war er Soldat und Wundarzt bei einem Regiment geworden. Jean Paul suchte die Mutter zu trösten: »Er kann an einen guten Herrn geraten sein . . . tausend wandern wie er in der Welt herum.« Die Mutter macht dem ältesten Sohne Vorwürfe, daß dessen Strenge den Bruder fortgetrieben. Er verteidigt sich: »Mir aber können Sie die Schuld nicht beimessen, daß er fort ist. Wegen meiner Vermahnung hat er sich nicht fortgemacht, sondern weil Sie ihm durch mich schreiben ließen, er solle sich jetzt nicht auf Ihre Hilfe verlassen.« Gottlieb, der fünf Jahre jüngere, sitzt zu Hause herum und kann wegen Mangel aller Mittel nichts unternehmen. Jean Paul rät, ihn zu einem Kaufmann in die Lehre zu geben, aber auch dazu fehlt es an Ausstattung und Beziehungen. Er beschwört die Mutter, das Haus zu verkaufen. Es ist das letzte Besitztum, aber die Not scheint ihm den Gipfel erreicht zu haben. »Es wird doch Leute geben, bei denen es sich gut zu Miete wohnen läßt. Bedenken Sie die Steuern und die Gaben, die Sie jetzt geben müssen. Rechnen Sie dazu, daß 800 fl. jährlich 40 fl. Interesse tragen; ferner, daß dieses baufällige Haus von Tag zu Tag baufälliger wird.« Er selbst muß die Mutter mit Bitten um Geld bestürmen. »Ich will nicht von Ihnen Geld, um meinen Speiswirt zu bezahlen, dem ich 24 Reichstaler schuldig bin, oder meinen Hauswirt, dem ich 10 Reichstaler, oder andere Schulden, die über 6 Reichstaler ausmachen – zu allen diesen Posten verlang ich von Ihnen kein Geld; ich will sie stehen lassen bis zu Michaelis, wo ich diese Schulden und die noch künftig zu machenden, unfehlbar zu bezahlen instand gesetzt sein werde. – Also zu dieser großen Summe verlange ich von Ihnen keine Beihilfe – aber zu folgender müssen Sie mir Ihre Hilfe nicht abschlagen. Ich muß alle Wochen die Wäscherin bezahlen, die nicht borgt, ich muß zu früh Milch trinken; ich muß meine Stiefel vom Schuster besohlen lassen, der ebenfalls nicht borgt; muß meinen zerrissenen Biber ausbessern lassen vom Schneider, der gar nicht borgt – muß der Aufwärterin ihren Lohn geben, die natürlich auch nicht borgt – und dies muß ich nur jetzt alles bezahlen, und bis auf Michael noch weit mehr. Nun sehen Sie, zur Bezahlung dieser Sachen werden Sie mir doch wohl hilfliche Hand leisten können – ich wüßte gar nicht, was ich anfangen sollte, wenn Sie mich stecken ließen. Glauben Sie denn, daß ich Sie mit Bitten plagen würde, wenn ich es nicht höchst nötig hätte. Ich mag ja auch nicht viel; acht Taler sächsisch Geld sollen mich zufriedenstellen, und gewiß werd' ich dann Ihre Hilfe nicht mehr so nötig haben. Denn das dürfen Sie nicht glauben, daß mein Mittel, Geld zu erwerben, nichts tauge, weil es etwan noch nicht angeschlagen hat. O nein! Durch eben dieses getraue ich mich zu erhalten, und es kommt nur auf den Anfang an.«

Im August stieß er diesen Hilfeschrei aus. Vier Monate sollte es noch dauern, bis die Erlösung kam. Er trug das Manuskript selbst zu den Verlegern und ertrug mit dem Schwinden der Hoffnung die beißend empfundene Schmach der Ablehnung. Eine glückliche Stunde brachte ihn auf den Gedanken, das Buch der Post anzuvertrauen und bei auswärtigen Verlegern das Glück zu versuchen, das ihm in Leipzig immer wieder den Rücken kehrte, und es war nur natürlich, daß er auf den Verleger Gottlieb Theodor von Hippels verfiel, dessen »Lebensläufe in aufsteigender Linie« und dessen Buch »Über die Ehe« ihn vielfach angeregt hatten, ja in dem er Zeiten hindurch sein eigentliches Vorbild sah. Dieser Verleger, der Buchhändler Voß in Berlin, war durch die Bekanntschaft mit Hippels Werken wohl überhaupt der einzige, der die Werte des Erstlingsbuches zu erkennen vermochte. Von hier kam denn nun endlich, wenn nicht die endgültige Rettung, so doch der erste warme Sonnenstrahl der Anerkennung, der dem Kämpfenden den bereits verdorrenden Mut für einige Jahre wieder stärkte. Als Jean Paul wie seit Wochen am 10. Dezember 1782 wartend in seinem kalten Stübchen saß, »klopfte endlich an der kalten Stube das Schreiben an, welches berichtete, daß der ehrwürdige Buchhändler Voß, der Verleger und Freund Lessings und Hippels, die beißige Erstgeburt mit Liebe in seinem Handelsgewerbhaus aufnähme und sie so ausrüsten werde, daß sie zur Ostermesse in Leipzig zu den andern gelehrten Kreistruppen und enfants perdus stoßen könne. – Was er denn auch redlich, wenigstens zu meinem Vorteil, gehalten«. Die Ankunft dieses Briefes war einer jener Augenblicke, die bis zu seinem Lebensende in ihm fortschwangen.

Voß bot ihm in dem Briefe ein Honorar von fünfzehn Louisdor an. Jean Paul bat, die Summe auf sechzehn Louisdor zu erhöhen. »Shandy war ein Freund der ungeraden Zahlen, ich bin einer der geraden.« Sein Antwortschreiben an Voß ist von der ganzen zurückgehaltenen Seligkeit eines jungen Schriftstellers erfüllt, der an seinen ersten Verleger schreibt. Aber es war auch hohe Zeit, daß das Verlagsangebot an ihn herantrat. »Sie werden daher nicht Mangel an Höflichkeit, sondern nur Mangel an Geld in der Bitte finden, daß Sie mir noch vor den Feiertagen das Honorarium schicken möchten.« Mit seiner Antwort übersandte er auch den bis dahin zurückgehaltenen Schluß des Manuskripts, in dem sich die Stelle befindet: »Bis hierher hab' ich etwas zu sagen verschoben, was vielleicht jeder Leser schon auf der ersten Seite erraten, nämlich dies: daß der Verfasser dieser Skizzen noch jünger ist als die, die ihn rezensieren werden.« Er hatte gefürchtet, daß das Eingeständnis seiner Jugendlichkeit den Verleger abschrecken könnte.

Am 17. Dezember bereits erhielt er von Voß sechzehn Louisdor für sein Buch. Der Druck ging schnell vorwärts. Schon am 20. Februar 1783 konnte der glückliche Autor ein Freundschaftsexemplar an Pfarrer Vogel schicken. »Gottlob! nun ist der steile Berg erstiegen; ich ziehe den Hut ab und das Schnupftuch heraus und wische mir den Schweiß von der heißen Stirne.«

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