Wenn ich vorhin die Einheit des Inneren und des Äußeren, des Subjektiven und des Objektiven, des Ideellen und des Realen als die Voraussetzung der künstlerischen Weltanschauung hervorhob, so kommen wir hier vielleicht auf die noch tiefere Fundamentierung dieses Fundaments; jenes In- und Miteinander der Weltelemente ist doch vielleicht nur der Ausdruck, man könnte sagen: die metaphysische Rechtfertigung ihrer Wertgleichheit, die er empfindet.

Das mag auch der Grund sein, weshalb das antike Unverhüllsein seiner sinnlichen Derbheiten immer künstlerisch wirkt, weil es jene Gleichberechtigung der Wesensseiten aufs schärfste verdeutlicht, die, zu einer allgemeinen Weltanschauung geformt, die Metaphysik aller Kunst ausmacht.

Indem ihm so das auf das eigene und sinnliche Glück gerichtete Ideal mit dem Vernunftideal eine Einheit bildet, erhebt er sich ganz über den Gegensatz zwischen eudämonistischer und rationalistischer Moral, auf dem die Kantische Ethik ruht.

Vielen Missverständnissen gegenüber muss durchaus betont werden, dass seine Fremdheit gegen die logische Strenge der Vernunftethik absolut nicht bedeutet, er habe das Leben einem sinnlichen und Genussideal untertan machen wollen.

Ja, um seinen Abstand hiervon zu begreifen: er kann es direkt aussprechen (1818), es sei Kants unsterbliches Verdienst, dass er die Moral »dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitstheorie entgegengestellt« und sie in ihrer höchsten übersinnlichen Bedeutung erfasst habe.

Das widerstreitet gar nicht dem Ausruf in den Lehrjahren: »0 der unnötigen Strenge der Moral, da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen.« Denn die Übersinnlichkeit, die er dort meint, ist eben nicht die Kantische, die einerseits eine exklusive Vernunftherrschaft, andrerseits unsere Einstellung in eine transzendente Ordnung der Dinge bedeutet.

Goethes Übersinnliches will hier nur die allumfassende Natur besagen, die freilich ebenso wenig einseitige Sinnlichkeit ist wie einseitige Vernünftigkeit.

Das spricht er ganz unzweideutig einige Jahre später in einem Briefe an Carlyle aus: »Einige haben den Eigennutz als Triebfeder aller sittlichen Handlungen angenommen; andere wollten den Trieb nach Wohlbehagen, nach Glückseligkeit als einzig wirksam finden; wieder, andere setzten das apodiktische Pflichtgebot obenan: und keine dieser Voraussetzungen konnte allgemein anerkannt werden, man musste es zuletzt am geratensten finden, aus dem ganzen Komplex der gesunden menschlichen Natur das Sittliche sowie das Schöne zu entwickeln.« Die eigentliche Großartigkeit des Kantischen Moralismus, die uns immer wieder über seine Verengerung und Vereinseitigung der Wertsphären tröstet, hat Goethe freilich niemals erfasst.

Das sittliche Sollen ist für Kant die eine Karte, auf die der ganze Wert des Lebens gesetzt ist; und daran musste Goethe vor allem die ungeheure Vergewaltigung aller anderen Lebensgebiete fühlen

»Alles Sollen ist despotisch«, sagt er, und ihm, dem aus der tiefen Einheitlichkeit des Seins die gleichberechtigte Freiheit all seiner Elemente quoll, erschien dies unerträglich, weil er nicht die Tiefe der Kantischen Lehre drang, in der dieses Sollen sich als die äußerste und unbedingte Freiheit des Ich offenbarte.

Denn den »Despotismus« jenes Sollens kann nach der Kantischen Deutung weder ein Gott noch ein Staat, weder ein Mensch noch eine Sitte uns auferlegen, sondern allein wir selbst.

Die ganze Peripherie des Lebens erscheint Kant von Mächten mindestens mitbestimmt, die außerhalb des tiefsten Ich liegen, und nur an dem Punkte der sittlichen Freiheit, d. h. an dem Gesetze, das wir uns selbst auferlegen, bricht dieses hervor - in unversöhnlichem Gegensatz freilich zu dein Künstler, dem alles scheinbar Äußerliche der Ort für die Bewährung seiner tiefsten Persönlichkeitskräfte ist.

Wenn unsere Natur einheitlich ist, weil die Natur überhaupt es ist, so zeigt sich damit der ethisch-praktische Konflikt nicht nur in uns, sondern auch außerhalb unser als nichtig.

Sie muss das Ich und seine Interessen mit der sozialen Gesamtheit ebenso versöhnen, wie die Sinnlichkeit mit der Vernunft.

Daraus erklärt sich, dass Goethe den eigentlich sozialen Problemen auch in ihren allgemeinsten Formen ganz fremd gegenübersteht.

Denn immer handelt es sich in diesen darum, das unzulängliche oder verschobene Gleichgewicht zwischen dem Individuum und seinem sozialen Kreise herzustellen.

Goethe steht hier ganz auf dem Boden seiner Zeit, die von dem Einzelnen als Sozialwesen nur zu fordern pflegte, dass er seine persönliche Kraft und Einzelinteresse ganz individuell bewähre.

Völlig im Tone des landläufigen Liberalismus bemerkt er gegen die Saint-Simonisten, dass jeder bei sich anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen müsse, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen werde.

Allein ein tiefstes metaphysisches Motiv liegt dem zugrunde.

»Glück« versteht er nicht als ein isoliertes Wohlbefinden des Menschen, sondern als sein harmonisches Verhältnis zum Ganzen des Seins, mit dem allein die Vollendetheit des individuellen Seins zustande kommt.

»Wenn man mit sich selbst einig ist,« sagt er einmal, »ist man es auch mit andern.« Sein Gefühl für die Einheit des Weltlebens duldet es nicht, dass zuhöchst, definitiv, die Vollendung einer persönlichen Existenz der Vollendung der andern widerspräche.

Darum ist es allerdings unmöglich, dass jemand »Glück« in diesem tiefen, den Umfang des Wesens erfüllenden Sinne, finde, ohne dass der Kreis, der für ihn die Welt bedeutet, die gleiche Entwicklung erführe.

Diese vielleicht allzuschnelle Übertragung eines metaphysischen All Gefühles auf empirische Verhältnisse wird, wie ich glaube, bei ihm durch ein ästhetisches Moment ergänzt.

Er verlangt ein mal vom Künstler, er solle »höchst selbstsüchtig« verfahren, nur das tun, was ihm Freude und Wert ist.

Für die Kunst ist dieser Liberalismus auch völlig angebracht, weil hier tatsächlich ein Maximum von Gesamtwert entsteht, wenn jeder Künstler seinem individuellen Ideale nachgeht; und weil das objektiv Wertvolle der Kunst, das jenseits des Gegensatzes von Ich und Du steht, sich dem Künstler allerdings in der Form eines persönlich leidenschaftlichen Begehrens darstellt.

Für ästhetisch angelegte geringwertige Naturen droht hiermit freilich die Gefahr eines Libertinismus, der die ästhetischen Werte ausschließlich ihrer subjektiven Genussseite wegen kultiviert, unter dem Selbstbetrug, dass sie, als ästhetische, an sich selbst etwas Überindividuelles, objektiv Wertvolles seien.

Solche Tendenz auf den Genus als das Letztentscheidende lag Goethe völlig fern, wenn er das egoistische Prinzip betonte.

Er war sich bewusst, nur seine einheitliche Persönlichkeit zu entwickeln - und dasselbe von andern zu verlangen - die freilich eine subjektive und eine objektive Seite hatte; wobei es denn sozusagen nur eine technische Frage war, welche von beiden gelegentlich die Führung übernahm.

Der künstlerische, der Produktion objektiver Werte sich bewusste Egoismus verhält sich deshalb durchaus kühl den Aufgaben gegenüber, die aus der Spaltung der Individuen hervorgehen und deren Versöhnung nun gerade durch den Verzicht auf allen Egoismus gewinnen wollen.

Statt der Versuche, jenem sozialen Antagonismus der Menschen eine bestimmte Form zu geben oder ihn zu Überwinden, interessiert Goethe vielmehr das »Allgemein-Menschliche« als der unmittelbare Ausdruck, sozusagen als die menschliche Form der metaphysischen Einheit der Natur; die menschliche Natur ist ebenso wenig eigentlich zu korrigieren, sondern nur zu entwickeln, wie unsere Theorie sie sich nicht durch künstliche, ihr Wesen alterierende Experimente, sondern nur durch ruhige Beobachtung ihrer freiwilligen Entfaltung nahe zu bringen habe.

»In jedem Besonderen«, so hofft er, »wird man durch Nationalität und Persönlichkeit hindurch jenes Allgemeine immer mehr durchleuchten sehen.« In ähnlicher Gesinnung hat dann Nietzsche, trotz oder wegen des leidenschaftlichen Interesses für den Menschen und die Gesamtentwicklung der Menschheit, eine absolute Gleichgültigkeit gegen alle sozialen Fragen an den Tag gelegt.

Dagegen ist für den Sozialforscher oder -politiker der Mensch überhaupt kein Problem, sondern nur die Menschen.

Kants Moralgesetz ist, wie Schleiermacher sagte, »nur ein politisches«: es gibt die präzise und erschöpfende Formel für den Menschen, der seinen sozialen Pflichten gleichsam von Natur feindlich gegenübersteht und ein Verhalten sucht, mit dem dennoch ein Zusammenleben aller möglich ist.

Der äußere wie der innere Dualismus des Menschen bleibt für Kant, im Praktischen nicht weniger als im Theoretischen, im Vordergrund des Bewusstseins, und seine Lösung ist gleichsam nur eine labile, die mit dem Weiterbestand des Konflikts rechnet.

Wenn Goethe aber es als sein Ideal bezeichnet, »eine gewisse sittlich-freisinnige Übereinstimmung durch die Welt zu verbreiten«, so ist die Voraussetzung dafür die Negation eben jener Scheidung und Entgegengesetztheit zwischen Individuum und Gruppe und zwischen Gruppen untereinander, aus der die sozialen Probleme entspringen.

Das kosmopolitische Ideal Goethes ist Ausdruck und Gegenbild der einheitlichen Menschennatur, deren Wesensseiten sich gleichberechtigt durchdringen und so sehr der Ausdruck eines metaphysischen Sinnes sind, wie die Elemente der menschlichen Gesellschaft und der Welt überhaupt.

Da nun aber die Moral in dem landläufigen Sinne des Wortes sich auf jener von Kant akzeptierten Spaltung innerhalb des Menschen und zwischen den Menschen erhebt, so kann die Goethesche Weltanschauung in diesem Sinne keine moralische heißen; selbstverständlich ist sie darum keine unmoralische, sondern steht jenseits dieses Gegensatzes.

Da die Natur an sich schon Ort und Darstellung der Idee ist, so ist das Höchste, wozu Menschen gelangen, der Inhalt der höchsten Forderung an sie, dass sie das, was die Natur in sie gelegt hat, aufs vollständigste und reinste ausbilden.

Das Moralische im engeren Sinne ist wohl eine Seite davon, aber weil es eben nur eine Seite ist, kann sie gelegentlich hinter einer anders gerichteten zurücktreten müssen, wenn dadurch eine vollständigere Entwicklung der Natur oder der Idee der Person erreicht wird.

Von Klopstock sagt er einmal, er wäre, »von der sinnlichen wie von der sittlichen Seite betrachtet, ein reiner Jünglingen gewesen.

Dass er so die sinnliche Reinheit noch von der sittlichen unterscheidet, zeigt einen Sittlichkeitsbegriff, der über die Moral im engeren Sinne weit hinausgeht: er deutet damit an, dass die sinnliche Reinheit noch lange keine sittliche, vielleicht sogar, dass die sittliche noch keine sinnliche zu sein braucht.

So sind auch seine Vorstellungen über das Verhältnis der Geschlechter oder über die Taten Napoleons oder über die Verbindung des Einzelnen mit seiner Nation sicher den gewöhnlichen ethischen Idealen keineswegs adäquat; sie werden eben ganz von dem darüber gelegenen Ideal der Natur beherrscht: dass der Mensch - so könnte man in Goethes Sinne sagen - seine Triebe und Anlagen in der Art und mit der Auswahl zu entwickeln habe, dass ein Maximum von Gesamtentwicklung herauskommt.

Da das Sein und der Wert nichts Getrenntes sind - »am Sein erhalte dich beglückt!« - so ist die höchste Steigerung des Seins auch die des Wertes.

Ihren tiefsten Ausdruck scheint mir diese übermoralische Moral in dem folgen den merkwürdigen Satz zu gewinnen, den er sich aus antiker Quelle aneignet: »Was die Menschen gesetzt haben (nämlich als Gesetze), das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht.« Über den Gegensatz von Recht und Unrecht, also über den am Kriterium der Moral entstandenen, stellt er hier einen höheren Begriff: das »Passen«, d.h. die Fähigkeit der Einzelheit, sich in den letzten, höchsten Zusammenhang und Harmonie der Dinge einzustellen.

Hiermit ist aufs entschiedenste bezeichnet, wie weit er über den Moralismus Kants hinausgeht.

Kant sieht in dem sittlichen Menschen den Endzweck der Welt, den alleinigen, absoluten Wert.

Der sittliche Mensch hat für ihn etwas Unendliches, weil er die Lösung eines eigentlich unlösbaren Konflikts ist.

Diesen fundamentalen Zwiespalt gibt es für Goethe nicht.

Darum kann auch die Moral nicht sein Absolutes und Letztes sein, sondern nur eines der Lebensprobleme und andern koordiniert - während sie bei Kant die schlechthin einzige Stellung einnimmt: allein aus der Weit des Lebens in die transzendente hinaufzureichen, in dem der Mensch im sittlichen Handeln alle sinnlich-empirischen Triebfedern hinter sich lässt.

Während er mit Goethe in dem negativen Teile der Wertfrage übereinstimmt, und beide die Glücksempfindung als definitiven Lebenswert weit von sich weisen, bleibt Kant an dem Gegenteil haften, indes Goethe sich über den ganzen Gegensatz erhebt und die harmonische Einheit des Seins, in der Glück und Unglück, Sittlichkeit und Unsittlichkeit nur einzelne Momente sind, als den letzten Sinn, das absolute Maß alles Lebens erkennt - auch dies also einer der Fälle, in denen die Gleichheit eines erscheinenden Resultates oder eine gemeinsame Feindschaft nicht über die Gegenrichtung der Quellen täuschen darf, aus denen diese schließliche Gleichheit sich speist.

Ich stehe nicht an, jenen angeführten Satz für eine der tiefsten und größten Deutungen vom Sinn des Daseins zu halten; er lässt uns einen fundamentalen Zusammenhang, eine gegenseitige Beziehung aller Dinge ahnen, in dem die Einheit der Natur besteht oder sich offenbart und demgegenüber es ein kleinlicher Anthropomorphismus ist, in dem zufälligen Ausschnitt, den wir als Moral bezeichnen, den Höhepunkt des Seins zu erblicken.

Niemand wird die Kraft und Größe der Kantischen Überzeugungen leugnen wollen, dass nichts innerhalb, ja außerhalb der Welt denkbar wäre, was ohne Einschränkung gut genannt werden dürfe, als allein ein guter Wille; dass aller religiöse Glaube nur als Folge und als Forderung der Moral ein Recht habe; dass, wenn man einen Endzweck der Natur überhaupt denken wollte, dies nur der Mensch unter moralischen Gesetzen sein könne.

Dennoch ist es nicht ohne weiteres abzuweisen, dass hierin vielleicht ein Größenwahn des Menschen zum Durchbruch kommt.

Man mag die Würde und Heiligkeit der sittlichen Freiheit und der Pflicht innerhalb des menschlichen Seins noch so hoch steigern; aber dass sie über dessen Umkreis hinausgreift, um das metaphysische Weltbild zu dominieren - das ist eine eigenartige Übersteigerung, begreiflich aus einer Philosophie heraus, der die Welt ein Bewusstseinsinhalt und der Verstand der Gesetzgeber der Natur ist.

Trotz der Verehrung, die Goethe stets für die Kantische Moral ausgesprochen hat - die übrigens, soviel ich sehe, immer nur ihrer menschlich-sittlichen Bedeutung, nicht ihrer metaphysischen gilt -, müsste ihm diese letztere als eine Unfrömmigkeit und Überhebung gelten.

Denn es hat einen ganz anderen Sinn, wenn auch Goethe gelegentlich den Menschen als das Endziel der Welt bezeichnet.

Nach der Schilderung eines harmonisch vollendeten Menschen, dessen »gesunde Natur als ein Ganzes wirkt«, fährt er fort: »Dann würde das Weltall, wenn es sich empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens und Wesens bewundern.

Denn wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewusst seines Daseins erfreute?« Offenbar ist die Richtung des Wertgefühles hier die umgekehrte als bei Kant.

Für diesen kommt der Wert vom Menschen her über die Natur, für Goethe aber von der Natur her über den Menschen, dessen Vorzugstellung gerade nur darauf ruht, dass die Natur sich zu ihm, als zu ihrem höchsten Gebilde, emporeentwickelt hat.

Dass der Mensch als Endziel der Weltentwicklung gilt, setzt ihn bei Kant allem sonstigen Dasein gegenüber und in eine absolute Höhe, deren Schroffheit nach der Seite der Natur hin dadurch keineswegs gemildert wird, dass nicht der empirische Mensch, sondern nur sozusagen die Idee seiner - aber eben doch die Idee seiner - auf ihr thront.

Und dieses selbe, dass der Mensch als das Endziel der Weltentwicklung gilt, stellt ihn für Goethe ganz in diese Entwicklung ein, lässt ihm aus dem Ganzen des natürlichen Seins den Wert zufließen, den Kant umgekehrt diesem Sein nur als eine Art ihm innerlich fremden Abglanzes menschlich-vernünftiger Würde zu gewinnen weiß.

Dass das Handeln des Menschen eine Wertbedeutung hat, die den bloß theoretischen Inhalt seines Wesens überragt, dass mit jenem sozusagen seine Weltstellung eine tiefer gegründete, in die letzten Zusammenhänge enger verflochtene ist, als wenn er, als Wissender, ein noch so treuer Spiegel der Wirklichkeit wäre - das steht mit alledem freilich für beide Geister fest.

Allein wenn man dies den »Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen« nennen kann, so hat dieser Ausdruck Kants für ihn einen anderen Sinn, als er für Goethe haben kann.

Er bedeutet bei Kant, dass wir aus den ethischen Interessen heraus einen Glauben an Gott, an unsere Freiheit, ja, an eine Existenz nach dem Tode gewinnen, die uns als Realitäten, d. h. als Gegenstände des Wissens völlig versagt sind.

Wie uns die Sittlichkeit schon durch die Selbstlosigkeit der Pflicht in eine übersinnliche Ordnung einstellt, so öffnet sie uns durch den moralischen Glauben den Blick in ein Reich der Gerechtigkeit, der Ausgleichung von Tugend und Glückseligkeit, das nicht von dieser Welt ist, und das dem auf die Erscheinungen der Wirklichkeit eingeschränkten Wissen verschlossen ist.

Für Goethe aber handelt es sich darum, dass wir mit der Tätigkeit und den durch sie realisierten Werten gerade erst unser Verhältnis zu der Gesamtheit der Welt - eben der erscheinenden, der realen - ganz vollziehen.

Kants Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen besiegelt die abgründige Fremdheit zwischen dem sittlichen Werte unserer Existenz und der Realität des Daseins, indem nur jener uns an eine Welt der Ideen, des Seinsollenden, des Metaphysisch-Guten rühren lässt, an die alle unsere auf Wirklichkeit gerichtete Erkenntnis nicht heranreicht.

Von der ebenso zu benennenden Überzeugung Goethes wird umgekehrt jene Kluft gerade überbaut, weil die rechte Wirksamkeit des Menschen ihn in die Totalität des Daseins einstellt, in der Sinnliches und Übersinnliches, Erfahrung und Idee eine undurchbrochene Einheit bilden[1].

Während bei Kant die Tat des Menschen zwei Seiten hat, die innere, unserem »Ding-an-sich« angehörige, und die äußere, allein wirklich erkennbare, und damit in zwei unversöhnten Welten wohnt, ist für Goethe die reine Tätigkeit, die im Sichtbaren verläuft und in das Empirische hineinwirkt, eben damit die Offenbarung der Idee des Menschen, mit ihr wird unser Sein ein Element und eine Kraft innerhalb der Welt, unser Letztes und Eigentlichstes in diese einordnend, und im Maße unsres sittlichen Wertes, d. h. unsrer »Reinheit«, den absoluten Sinn des Seins überhaupt verwirklichend.

Das Tun hat hier den Primat vor dem Erkennen, weil es die Welt in ihrer zugleich physischen und metaphysischen Vollendung bilden hilft, die am Erkennen erst ein nachträgliches Abbild gewinnt.

Und hier kann auch darauf hingedeutet werden, dass Goethes Weltanschauung in letzter Instanz nicht nur über dem Moralismus, sondern auch über dem Ästhetizismus stehen dürfte.

Gewiss überragt das ästhetische Motiv bei ihm an Wirksamkeit alle in dem gleichen Niveau stehenden, und man kann es, wie wir es getan haben, überall zur Interpretation seines Standpunktes benutzen; alle Einzelheiten führen darauf wie auf ihren Schnittpunkt hin.

Allein dennoch liegt unterhalb seiner eine noch tiefere, sozusagen elementarere Beschaffenheit, sein eigentlichstes Sein, von dem auch das künstlerische Motiv nur die Erscheinung und Darstellung in empirischem Material ist.

Wenn sich nämlich das Goethesche Existenzbild so darbietet, dass die Identität von Natur und Geist, das pantheistische Eins in Allem, Alles in Einem - als Konsequenz seiner ästhetischen Grundtendenz auftritt, so kann sehr wohl im letzten Fundamente der Zusammenhang der umgekehrte sein: die tiefste Schicht seiner Natur, jenes ganz Primäre und Absolute, in dem alles eigentlich Benennbare des Wesens erst wurzelt, mag eben ein Gefühl von dem elementaren und ihn selbst einschließenden Zusammenhang alles Seins gewesen sein.

Mehr als irgend jemand, von dem wir wissen - auch Spinoza nicht ausgeschlossen -, scheint jene geheimnisvolle Einheit aller Existenz, an der die Philosophie von jeder herumgetastet hat, in ihm den Inhalt des Lebensgefühls selbst ausgemacht zu haben.

Gerade wie man von religiös begeisterten Menschen sagt, dass der Gott in ihnen lebt, so war offenbar in seinem subjektiven Existenzgefühl dasjenige lebendig, was man, um irgendeinen Ausdruck dafür zu haben, nur die metaphysische Einheit der Dinge nennen kann; ja, dass sie so in ihm lebte, das machte ihn eben aus, das war er.

Dieser Bestimmtheit seines Seins überhaupt gegenüber, die sich im Selbstbewusstsein erst spiegelt, erscheint seine künstlerische Anschauung und Betätigung doch nur als das Verhältnis, das eine so qualifizierte Natur zu der besonderen Richtung ihrer Talente, zu ihrer kulturell und historisch bestimmten Umgebung, zu äußeren Anregungen und Wirkungsmöglichkeiten gewinnt, als ein Ausdruck seines eigentlichen Wesens, aber nicht als das Wesen selbst.

Als Existenz überhaupt, gleichsam als Substanz, mit der er in die Formen und Bewegungen der Welt eintritt, steht er jenseits des Ästhetischen, das sich vielmehr erst im Zusammenschlage jener mit diesen Formen und Bewegungen ergab und sein empirisches Bild gestaltete.

Diese letztinstanzliche Bedeutsamkeit des Lebens, auf die man schließlich nur von einer unüberwindlichen Distanz her hinzeigen, die man aber nie mit unzweideutigen Begriffen ergreifen kann, muss der merkwürdigen Äußerung zugrunde liegen, die er zu Eckermann tut, als von seiner Theaterleitung und den vielen, für sein künstlerisches Schaffen dadurch verlorenen Jahren die Rede ist.

Im Grunde gereue ihn dieser Verlust doch nicht, sagt er.

»Ich habe all mein Wirken und Leisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob Ich Töpfe machte oder Schüsseln.«

So erscheint ihm selbst also sein künstlerisches Tun als ein bloßes sich-Ausprägen, Sich-Umsetzen einer tiefer gelegenen Realität, statt dieses Letzte, eigentlich Wirkliche und Wirksame selbst zu sein.

Von hier aus verstehen wir nun noch gründlicher sein fortwährendes Drängen auf praktische Betätigung, sein Fühlen und Werten seiner selbst als handelnden Wesens.

Denn das Handeln ist die Form, durch die jener absolute Urgrund des persönlichen Seins in die sichtbare Wirklichkeit tritt und die deshalb im allerumfassendsten Sinn die Einheit des Subjektiven und Objektiven ausmacht, das in der bloßen Theorie getrennt, einander gegenübergestellt erscheint.

Wenn für ihn nach alledem die Aufgabe des Menschen nur ist, seine Kräfte bis zum vollen Ausschöpfen aller Möglichkeiten zu entwickeln, damit gleichsam die Natur in ihm zu ihrem vollen Sinn komme, so zeigt doch jeder Blick auf das empirische Leben, dass es die Zeit und die Bedingungen zu einer so vollständigen Entwicklung nur sehr wenigen, vielleicht niemandem gewährt.

In Wirklichkeit ist dies eine der großen Menschentragödien, dass die menschlichen Kräfte sich in menschlichen Verhältnissen nicht vollkommen ausleben und entfalten können.

Was als Begabung, als Spannkraft in uns lebt - ganz abgesehen von Veileitäten -, könnte nur durch den merkwürdigsten Zufall die Möglichkeit restloser Bewährung finden; es fehlt hier, sichtbarer als sonst wo, die vorbestimmte Harmonie oder die nachbestimmende Anpassung.

Und es handelt sich nicht nur darum, dass das vollendete Werk Befriedigung auf uns zurückstrahle, sondern um diejenige eigentlich unerlässliche Genugtuung, die in der Lösung der gespannten Kräfte, in der Funktion, die unser Können ganz zum Ausdruck bringt, gelegen ist.

Wo diese Inkommensurabilität zu vollem Bewusstsein gelangt, muss der Mensch untergehen.

Das drückt Faust aus; bliebe er in seinen ursprünglichen empirischen Verhältnissen, so würde er sich verzehren, die unentfalteten Kräfte würden ihn töten.

Das Bündnis mit Mephisto, die Herstellung seines Lebenswerkes durch dämonische Kräfte ist nur die positive Wendung davon: überempirische Verhältnisse müssen herbeigerufen werden, um die Entwicklung der Kräfte zu ermöglichen.

Aus der Forderung an die Natur, dass es bei diesem Widerspruch nicht sein Bewenden haben könnte, entspringt die Äußerung zu Eckermann über die Unsterblichkeit: »Wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag.« Und eine spätere Bemerkung betont nochmals den besonderen Sinn und Grund dieser Unsterblichkeit: wir seien zwar unsterblich, aber doch nicht alle »auf gleiche Weise«; vielmehr nur nach dem Maße der Kraft, die wir einzusetzen und auszuleben haben.

Es ist nun sehr merkwürdig, wie auch an diesem Punkt Kantische Argumente eine äußere Ähnlichkeit mit den Goetheschen zeigen, bei völliger Divergenz der grundlegenden Gesinnung.

Kant stellte fest, dass wir, als endliche und natürliche Wesen, den Trieb nach Glückseligkeit als eine nicht zu leugnende und nicht zu beseitigende Tatsache in uns finden, gerade wie als moralische Wesen die Forderung des Sittengesetzes.

Über diesen beiden Tatsachen erhebt sich das Verlangen nach ihrer Harmonie: die Weltordnung wäre nichts als eine große Dissonanz, wenn nicht das Maß des genossenen Glücks dem Maß der sittlichen Vollendung entspräche.

Tatsächlich aber ist diese Proportion im irdischen Leben nicht vorhanden; zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit zeigt die Erfahrung keinerlei gerechtes und harmonisches Verhältnis.

Da man aber bei dieser Unerträglichkeit schlechthin nicht Halt machen und sie nicht der Ordnung der Dinge als ein Endgültiges aufbürden kann, so postuliert Kant die Unsterblichkeit der Seele, weil diese nur in einem jenseits und durch den Machtwillen eines Gottes ihre Vollendung: die Harmonie ihres sittlichen und ihres eudämonistischen Seins finden kann.

Es ist also sozusagen das gleiche Schema, in dem sich die Kantische und die Goethesche Unsterblichkeitslehre vollzieht; beide finden gewisse Forderungen in der Wirklichkeit des menschlichen Wesens unmittelbar angelegt, zu deren Erfüllung es unter den empirischen Verhältnissen nicht kommen kann; da sie aber bei diesem Widerspruch nicht stehen bleiben können, so beanspruchen sie von der Ordnung der Dinge, das Versprechen, das sie mit der Organisation unseres Wesens gegeben hat, wenigstens .in einem jenseits einzulösen.

Nun aber zeigt sich sofort die tiefe Unterschiedenheit der Weltbilder: für Goethe könnte die Natur nichts so Sinnloses tun, als uns Kräfte zu verleihen, denen sie die Entwicklung abschneidet; für Kant könnte sie nichts so Unmoralisches tun, als der Sittlichkeit ihr Äquivalent vorzuenthalten.

Kant fordert die Unsterblichkeit, weil die empirische Entwicklung des Menschen einer Idee nicht genügt, Goethe, weil sie den wirklich vorhandenen Kräften nicht genügt; Kant, weil die an sich getrennten Elemente, Sittlichkeit und Glückseligkeit, doch eine Einheit gewinnen müssten, Goethe, weil der ganze einheitliche Mensch doch das in Wirklichkeit werden müsste, was er der Möglichkeit nach von vornherein sei.

Man erkennt auch hier, dass Kant die Elemente des menschlichen Wesens außerordentlich weit auseinander treibt, so dass sie nur in ganz fernen und neuen Dimensionen und Ordnungen sich wieder zusammenfinden können, während diese Einheit für Goethe in unserer unmittelbaren Wirklichkeit gegeben ist und es sich sogar in der Unsterblichkeitsfrage nur um eine konsequente Weiterentwicklung schon gegebener Richtungen handelt.

Der Übergang der Seele von dem irdischen in den transzendenten Zustand ist für Kant der radikalste, für den sein Denken Raum hat, für Goethe ein Fortschreiten in ungeänderter Richtung, ein bloßes Freiwerden vorhandener Energien.

Auch dieser vorgeschobenste Posten der beiden Weltanschauungen spiegelt ebenso den Rhythmus des Kantischen Wesens, das die Momente des Seins untereinander und von ihrem Wert scheidet, um sie erst oberhalb oder unter halb der Wirklichkeit wieder zu versöhnen, wie den des Goetheschen, für den das Sein in sich und mit seinem Wert von vornherein ein einheitliches ist.

Hier wie überall ist das Schema ihrer Divergenzen dies, dass Kant der Entwicklung eines analytischen Zustandes, Goethe der eines synthetischen - genauer: eines noch vor dem Gegensatz von Analyse und Synthese gelegenen - nachgeht.

Goethe steht mit dem gesteigertsten Bewusstsein und der vertieftesten Begründung auf dem Boden undifferenzierter Einheitlichkeit, die der Ausgangspunkt aller geistigen Bewegungen gewesen ist.

Kant akzentuiert die Zweiheit, in die diese auseinandergegangen ist; gegenüber jenem sozusagen paradiesischen Zustand hat bei ihm das scientes bonum er malum die äußerste Schärfe erlangt, die Einheit, die er gewinnt, trägt die Spuren der Entzweiung, die Nähte sind nicht völlig verwachsen[2].

Aber eben jener Flug an ein äußerstes Ziel des Betrachtens und Empfindens der Welt hat Goethe über so manche Stationen sich hinwegsetzen lassen, die das langsame geschichtliche Vorschreiten nicht übergehen kann; so mögen auf dem Zickzackweg der Geistesentwicklung Strecken kommen, die der Richtung des Goetheschen Weges, selbst wenn diese die definitive und objektiv richtige wäre, direkt entgegenlaufen.

Und so stand es in der Wissenschaft der letzten hundert Jahre.

Denn diese will - oder wollte wenigstens - wirklich der Natur ihre Geheimnisse mit Hebeln und mit Schrauben abzwingen; sie will wirklich das Wahrheitsinteresse davon ganz unabhängig machen, ob es die Schönheit der Erscheinung zerstört oder nicht; sie will wirklich nicht von einer Idee des Ganzen, sondern von möglichst atomisierten Elementen ihren Ausgang nehmen; sie sieht wirklich den seelenlosen Mechanismus zweckfremder Stoffe und Kräfte als einziges Konstruktionsprinzip des Naturbildes an; ihr liegt aller Sinn, alle übermechanische Bedeutung derselben hinter der Erscheinung, in dem Reich des Intelligiblen, das in das der Sichtbarkeit und Erfahrung nie und nirgends hineinreiche; sie hat weder im Theoretischen noch im Ethischen jenes Zutrauen zu dem unmittelbar harmonischen Verhältnis zwischen der Natur und unseren Idealen.

In alledem ist dagegen Kant der Mitbegründer und Genosse des modernen wissenschaftlichen Geistes; er, der einerseits in allem Wissen nur so viel wirkliche Wissenschaft sah, wie Mathematik darin Ist, und der andrerseits die Gültigkeit der Mathematik auf unsere Anschauungsart beschränkte und Erkennbarkeit allem absprach, was nicht unmittelbar erscheinen kann; er, der den Geist und Zweck in der Natur für eine bloße »subjektive Maxime« ihrer Beurteilung erklärte, die ihr eigenes Sein gar nicht berühre; er, der das en unserer tiefsten Wesensbedürfnisse mit erbarmungsloser Schärfe erkannte, um dem Verlangen nach ihrer Harmonie schließlich das Almosen eines transzendierenden Glaubens zu gewähren.

Wir können uns nicht verhehlen, dass die Gleichung zwischen diesen beiden Weltanschauungen noch nicht gefunden ist, so sicher erst mit ihr alles erfüllt wäre, was wir von unserem geistigen Verhältnis zur Welt begehren.

Vielleicht aber ist es irrig, nach einem stabilen Gleichgewicht beider zu suchen; vielleicht ist es der eigentliche Rhythmus und Formel des modernen Lebens, dass die Grenzlinie zwischen der mechanistischen und der Goetheschen Auffassung der Welt - mag man sie metaphysisch, künstlerisch oder vitalistisch nennen- in fortwährender Verschiebung bleibe, so dass ihnen, der Wechsel ihrer Ansprüche die Bewegung zwischen auf das Einzelne, die Entwicklung ihrer Gegenwirkungen ins Unendliche dem Leben den Reiz gewährt, den wir von der unauffindbaren definitiven Entscheidung zwischen ihnen erhofften.

Dies erscheint freilich als Epigonentum, wenn auch zugleich als Ausnutzung der Gunst, die die Natur der Sache den Epigonen gewährt: dass sie, wenn ihnen die Größe der Einseitigkeit mangelt, dafür der Einseitigkeit der Größe entgehen.

Vielleicht aber ist es doch noch mehr.

Denn zunächst handelt es sich nicht um ein willkürliches Schwanken zwischen dem mechanistischen und dem künstlerisch-vitalistischen Prinzip, sondern um die Anwendung des einen und des anderen auf getrennte Problemgruppen.

Hier fehlt freilich das einheitliche Definitivum - aber die Notwendigkeit eines solchen, entgegen einer auch in den Prinzipien pluralistischen Anschauungsweise, ist ein bloßes Dogma, und dieses selbst zugegeben, könnte die Einheit noch immer ein für uns im Unendlichen liegendes Ziel sein, eines, das nicht prinzipiell, sondern nur tatsächlich für uns unerreichbar ist.

Allein der Kampf und die Alternierung zwischen den beiden Weltauffassungen fände noch tiefere Begründung, wenn man gewissen letzten Intentionen der Philosophie nachginge, die den Begriff des Lebens in das metaphysische Zentrum rücken.

Denn nun könnte die wechselnde Zuwendung zu dem einen und dem anderen Motiv unmittelbar der Pulsierung des Lebens überhaupt entsprechen, seinem überall bewährten Rhythmus, dessen einfachstes Zeichen das Ein- und Ausatmen ist; oder der Kampf zwischen beiden offenbarte den kämpferischen Charakter aller Lebensbewegtheit, die unvermeidliche Parteiung, die deren äußere wie innere Form ist; aber auch ohne eigentlichen Kampf sei es das Wesen des Lebens, den Widerspruch gegen den Inhalt jedes Momentes zu erzeugen, Jedes Gesetzte durch seinen Gegensatz und diesen wieder durch jenes zu ergänzen.

Was man die Einheit beider nennen könnte, liege dann in dem Leben, das sie gebiert und erlebt, eine Einheit, die ihrer Gegensätzlichkeit nicht das geringste abträgt, sondern gerade an dieser sich vollzieht.

Ein Kompromiss, ein Halb- und Halbtum zwischen ihnen, das die Einheit wieder in die Sachgehalte, statt in deren Erleben legte, wäre gerade damit beseitigt.

Für die Weltanschauung der jetzt wohl abgeschlossenen Geistesperiode bleibt der Besitz, den wir an den Parteien haben, an die Formel gebunden: Kant oder Goethe! Die kommende Epoche aber wird vielleicht im Zeichen von Kant und Goethe stehen, jede flaue Vermittlung zwischen ihnen ablehnend, ihre begrifflichen Gegensätze nicht »versöhnend«, aber sie durch die Tatsache ihres Erlebwerdens verneinend.

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Anmerkungen:
  1. Ich sehe hier von gewissen dualistisch gestimmten Äußerungen Goethes, namentlich aus seiner Spätzeit, ab, da es sich hier nicht um Goethes Gesamterscheinung, sondern um diejenigen ihrer Seiten handelt, mit denen sich eine jedenfalls in sich geschlossene Weltanschauung, die das Gegenbild der Kantischen bietet, aufbaut.
  2. Die ausführlichere Entwicklung dieses wie anderer hier berührter Motive findet sich in meinen Büchern: Kant, 3. Aufl. 1913, und: Goethe, 1913.
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