Die Kantische und die Goethesche Lösung des Weltproblems, die erkenntnistheoretische und die metaphysische - wobei Goethe sozusagen keine Metaphysik hat, sondern Metaphysik ist - verhalten sich wie zweierlei Beziehungen von Menschen, die äußerlich angesehen den gleichen Inhalt und Bedeutung darbieten, von denen die eine aber durch die suggestive Aktivität der einen Partei - so dass sie die andere gleichsam nach ihrem Bilde und ihrem Ideal des Verhältnisses formt aufrecht erhalten wird, die andere aber durch die wurzelhafte Einheit und natürliche Harmonie beider Parteien.

Gerade in Hinsicht des Verhältnisses zwischen der mitgebrachten Innerlichkeit des Geistes und der Äußerlichkeit seiner Gegenstände ist die Polarität der beiden Weltanschauungen um so bedeutsamer, je mehr eine gewisse formale Ähnlichkeit sie verdecken möchte.

Dass Kant keine andere gegenständliche Welt als die innerhalb unseres Bewusstseins anerkennt, gibt doch dem Tiefsten, Eigensten, Entscheidenden in uns keine andere Macht, als dass es die Formen bietet, denen das passiv hinzunehmende Sinnesmaterial sich fügt, die es zu einer Gegenstandswelt gestalten.

Wo dieses Material im letzten Grunde herkommt, ist für Kant gleichgültig; es ist einfach gegeben, und zwar »von außen« - wenn dieses Außen auch nicht räumlichen Sinn hat, sondern nur den Ursprung außerhalb der geistigen Machtsphäre bedeutet, und wenn die besondere Qualität dieser Eindrücke auch durch die Verfassung unserer Sinnesorgane bestimmt ist.

Aus einer unbedingt eigenen geistigen Gestaltungskraft und einem nur Aufzunehmenden webt die Erkenntnis sich zusammen.

Wie anders Goethe die Rollen des mitgebrachten Inneren und des hinzugebrachten Äußeren verteilt, zeigt am besten ein Wort, das, zunächst nur ein Selbstbekenntnis, doch die Art, wie er sich Erkenntnis dachte, ganz allgemein verkündet: »Hätte ich nicht die Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz totes und vergebliches Bemühen.«

Hier ist es also nicht die Form, sondern das ganze Dasein, die Einheit von Form und Inhalt, die in irgendeiner geheimnisvollen Weise von dem Innern des Menschen mitgebracht wird.

Das »Gesetz, nach dem du angetreten«, entwickelt auch das jedem mögliche und notwendige Weltbild in ihm.

Und Siegel und Vollendung dieses innerlich Erwachsenden schildert er - wenn auch zunächst nur für »besonders begabte Menschen« - so, dass sie »zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern«.

Was außerhalb des Ich liegt, liefert also nicht den Stoff zu dessen formalen Funktionen, sondern zeigt die Ganzheit des wirklichen Daseins als Gegenbild des geistigen.

Der Leistungsvereinigung der Formung von innen und des Stoffes von außen bedarf es nicht - »denn was innen, das ist außen«.

Möglich aber ist das, weil es ein Leben der göttlichen Natur ist, das sich, vollständiger oder bruchstückhafter, so in den Gebilden des Geistes darlebt, wie in den angeschauten Wirklichkeiten.

Goethe gibt dem Geiste mehr und weniger als Kant.

Er löst ihn nicht von dem Wurzelgrund der Natur los, um ihm dann eine gewissermaßen in der Welt einsame und für sich allein noch leere Formungsgewalt zu geben; er lässt die erkannte Ganzheit des Daseins aus ihm sich entfalten, aber nur, weil und insofern die objektive Ganzheit des Daseins sich durch ihn hindurch ausspricht.

Den Gegensatz des Innen und Außen, den Kant innerhalb des Geistes versöhnt, indem er dem Außen nur den »blinden« Stoff entlehnt, den erst der Verstand zur »Natur« formt, hebt er von vornherein auf, weil ,das Innen und das Außen nur zwei Pulsschläge des einen »so natürlichen wie göttlichen« Lebens sind.

Dass sich für Kant wie für Goethe das Sein aus dem Bewusstsein gebiert, erscheint so nur als die einheitlich erscheinende begriffliche Hülle, unter der sich zwei völlig verschiedene Verhältnisse zwischen Sein und Bewusstsein verbergen.

An diesem Punkt tritt die persönliche Wesensrichtung Goethes ganz besonders deutlich als Träger seiner Weltanschauung hervor.

Als die glücklichste Beanlagung des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur kann es wohl gelten, wenn die eigenste, nur den Bedürfnissen und Tendenzen des Ich folgende Entwicklung zu einem reinen Aufnehmen und Bilde der Natur führt, als ob die Kräfte beider sich wie in einer vorbestimmten Harmonie äußerten, die einen den Index für die anderen bildeten.

Diese Konstellation traf bei Goethe auf das vollendetste zu.

In allem, was er äußerte und wirkte, entwickelte er nur seine Persönlichkeit; den ganzen Umkreis seiner Betrachtung und Deutung des Daseins erfüllte er, weil er sich selbst auslebte, und man hat den Eindruck, als ob ihm sein Bild der Natur, das, bei allen sachlichen Einwänden, immerhin eines von unvergleichlicher Geschlossenheit, Beobachtungstreue und Hoheit der Auffassung ist - entstanden wäre, indem er nur die eigene Richtung seiner mitgebrachten Denk- und Gefühlsenergien entfaltet hätte.

So schreibt er am Anfang der italienischen Reise: »Manchmal macht's mich fürchten, dass so viel auf mich gleichsam eindringt, dessen ich mich nicht erwehren kann - und doch entwickelt sich alles von innen heraus.« Deshalb beglückt es ihn auch so sehr, wenn er aus Schillers Äußerung über den Meister entnehmen kann, »dass ich im Ganzen, was meiner Natur gemäß ist, auch hier der Natur des Werkes gemäß hervorgebracht habe«.

Nur deshalb darf er vom Künstler fordern - was nachher noch näher zu deuten ist, dass er »höchst selbstsüchtig« verfahre.

Diese glückliche, zur objektiven Natur harmonische Richtung seines subjektiven Wesens rechtfertigt es, dass er, obwohl dieses letztere mit völliger Freiheit entfaltend, überall die Natur zum Spiegel der eigenen Vergeistigung machend, doch immer behaupten kann: er gäbe sich der Natur mit der größten Selbstlosigkeit und Treue hin, er spräche nur aus, was sie ihm diktiert, er vermeide jede subjektive Zutat, die die Unmittelbarkeit ihres Bildes trübte.

Wir wissen von vielen der größten bildenden Künstler, und zwar auch solcher, die die strengste Stilisierung, die souveränste Umformung des Gegebenen übten, dass sie sich für Naturalisten hielten, ausschließlich das, was sie sahen, abzuschreiben meinten.

Tatsächlich sehen sie von vornherein so, dass es zu dem Gegensatz innerhalb des unkünstlerischen Lebens: zwischen der inneren Anschauung und dem äußeren Objekt - bei ihnen nicht kommt.

Vermittelst der geheimnisvollen Verbindung des genialen Menschen mit dem Wesen alles Daseins ist sein ganz individuelles, eigengesetzliches Sehen für ihn - und, im Maße seiner Genialität, auch für andere - zugleich die Ausschöpfung des objektiven Gehaltes der Dinge.

In Goethe war es tatsächlich ein ganz einheitlicher Prozess, der sich von der einen Seite als Entwicklung seiner eigenen Geistesrichtung, von der anderen als Aufnehmen und Erkennen der Natur darstellte.

Darum muss jene Kantische Vorstellung, dass unser Verstand der Natur ihre allgemeinen Gesetze vorschreibt, ihm innerlich völlig fremd, ja eigentlich widrig sein.

Der Gegensatz von Subjekt und Objekt muss ihm damit unsäglich übertrieben erscheinen: Jenes viel zu selbständig, statt demütig aufnehmender Hingabe an die Natur ein vergewaltigendes Vorgreifen in sie; dieses, mit der letzten Absolutheit seines Wesens dennoch nicht in das Subjekt aufgehend, der ungeheuren Anstrengung des Subjekts, es in sich einzuziehen, spottend.

Ihm, der sein Ich von vornherein gleichsam in Parallelität mit der Natur fühlte, musste es scheinen, als ob die Kantische Lösung dem Subjekt einerseits zu viel, andrerseits zu wenig zuspräche, und als ob sie dem Objekte einerseits Gewalt antäte, statt sich ihm in Treue hinzugeben, während es ihr andrerseits doch als ein Unerfassbares - ein »Ding an sich« - aus den Händen glitte.

Mit dieser Konsequenz zeigen die beiden Weltanschauungen auch in bezug auf die Grenzen des Erkennens die gleiche Entgegengesetztheit bei scheinbarer Verwandtschaft.

Wie Kant fortwährend die Unerkennbarkeit dessen betont, was die ,Welt jenseits unsrer Erfahrung von ihr sei, so Goethe, dass hinter allem Erforschlichen noch ein Unerforschliches liege, dass wir nur »ruhig verehren« könnten, ein Letztes, Unsagbares, an dem unsre Weisheit ein Ende habe.

Für Kant bedeutet dies die absolute, durch die Natur unsres Erkennens logisch gesetzte Grenze desselben; für Goethe bedeutet es nur jene Schranke, die aus der Tiefe und dem geheimnisvollen Dunkel des letzten Weltgrundes hervorgeht - wie auch der Fromme sich bescheidet, Gott hienieden nicht schauen zu können, aber nicht eigentlich, weil er sich prinzipiell dem Schauen entzöge, sondern weil unser Schauen dazu einer erst im Jenseits gewährten Steigerung, Kräftigung, Vertiefung bedürfte.

Darum sagt er.

»Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig,
Unverstanden, doch nicht unverständlich.«

Von den letzten Mysterien der Natur trennt uns freilich eine unendliche Entfernung, aber sie liegen doch gleichsam in derselben Ebene mit der erkennbaren Natur, weil es ja nichts als Natur gibt, die zugleich Geist, Idee, das Göttliche ist.

Für Kant aber liegt das Ding-an-sich in einer völlig anderen Dimension als die Natur, als das Erkennbare, und man mag in dieser Region bis ans Ende fortschreiten, so wird man nie auf jenes treffen.

Goethe schreibt einmal an Schiller: »Die Natur ist deswegen unergründlich, weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut Spiel, sich vor unsern Augen zu verstecken.«

Nach den Kantischen Voraussetzungen aber ist dasjenige allerdings vorhanden, was Goethe hier als das Beisammensein der Menschheit vermisst.

Jene Formen und Normen, deren Anwendung Erkennen bedeutet, weil durch sie eben erst das Vorstellungsobjekt für uns geschaffen wird, sind nichts Persönliches, sondern sie sind das allgemein Menschliche in jedem Individuum; in ihnen liegt das Verhältnis restlos beschlossen, das die Menschheit überhaupt zu ihren Erkenntnis-Objekten hat.

Der Natur im allgemeinen gegenüber bestehen also nicht jene individuellen Unzulänglichkeiten, die Goethe erst durch das Beisammensein aller auszugleichen glaubt.

Deshalb ist für Kant die Natur prinzipiell völlig durchsichtig und nur die Empirie über sie ist unvollständig.

Da für Goethe aber die Natur selbst von der Idee, vom Absoluten durchdrungen ist, so kommt in der Natur selbst der Punkt, an dem die Intensität und Tiefe der Vorgänge uns weiteres Eindringen versagt; für Kant, der das Übersinnliche völlig aus der Natur hinausverlegt, liegt die Grenze des Erkennens nicht mehr innerhalb ihrer, sondern erst dort, wo sie Natur zu sein aufhört.

Für Goethe ist es deshalb nur sozusagen eine quantitative, keine prinzipielle Inkonsequenz, wenn er gelegentlich zu Schiller äußert, die Natur habe kein Geheimnis, das sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stellte, und ein andermal meint: » Isis zeigt sich ohne Schleier -nur der Mensch, er hat den Star« -, während Kant absolut inkonsequent wird, wenn er uns doch einen Blick in das Reich des Intelligiblen verstattet; wovon wir übrigens hier nicht untersuchen, ob es ihm mit Recht oder Unrecht insinuiert wird.

Wenn man den Rhythmus der inneren Bewegungen dieser beiden Geister nach ihrem Endziel bezeichnen darf - obgleich solche letzten Ziele nur der Ausdruck der Wesenskräfte und ihrer inneren Gesetze sind, nicht aber das selbständig gesetzte Ziel, das von sich aus jenen die Richtung gäbe -, so ist die Formel des Kantischen Wesens: Grenzsetzung, die des Goetheschen: Einheit.

Für Kant kam alles darauf an, und so lässt sich seine gesamte Leistung zusammenfassen, die Kompetenzen der inneren Mächte, die das Erkennen und die das Handeln bestimmen, gegeneinander abzugrenzen: der Sinnlichkeit ihre Grenze gegen den Verstand, dem Verstand die seinige gegen die Vernunft, der Vernunft die ihrige gegen den Glückseligkeitstrieb, der Individualität die ihre gegen das Allgemeingültige zu setzen.

Damit sind zugleich in der Objektivität von Welt und Leben die Grenzstriche für die Kräfte, Ansprüche und Bedeutsamkeiten der Dinge selbst gezogen; es gilt für ihn, das praktische wie das theoretische Leben vor den Übergriffen, Ungerechtigkeiten und Verschwommenheiten zu schützen, die aus dem Mangel genauer Grenzen zwischen den subjektiven ebenso wie zwischen den objektiven Faktoren hervorgehen.

Als so grundlegend er die Bedeutung der Synthese anerkennt, so sie doch sozusagen nur die natürliche Tatsache, die er vorfindet, und an der nun erst seine Aufgabe, die Analyse und Grenzsetzung zwischen den Elementen des Seins beginnt.

Zu jener großen Absicht, das Subjekt mit dem Objekt in ein einheitliches Verhältnis zu setzen, brachte er, als Werkzeuge seiner Detailarbeit daran, von Natur gleichsam die Instrumente des Markscheiders mit.

Ersichtlich verhält sich der Künstler den Erscheinungen gegenüber umgekehrt.

So sehr er auch zunächst das verwirrende Ineinander der Qualitäten, Betätigungen und Bedeutungen der Dinge auseinanderlegen muss, so macht doch seine innere Bewegung erst an der wiedergewonnenen Einheit Halt, der gegenüber alle Grenzsetzungen Interessen zweiten Ranges sind und die nur das Gegenbild der von vornherein bestehenden, durch den ganzen Prozess hindurchwirkenden kosmischen Einheit ist.

Gewiss ist die schließliche Einheit der Elemente und damit der Weltanschauung auch für Kant das Definitivum.

Aber die persönliche Note, mit der er gleichsam die Tonart der dahin mündenden Bewegungen bestimmt, ist doch das Interesse an der Grenzsetzung; dies ist die große Geste, die seine Arbeit charakterisiert, wie die inneren Bewegungen Goethes in der Vereinheitlichung der Elemente ihren letzten Ausdruck finden: »Trennen und Zählen«, bekennt Goethe, »lag nicht in meiner Natur«; und ausdrücklich sagt er: »Dich im Unendlichen zu finden, musst unterscheiden und dann verbinden«, während Kant die Verbindung vorfindet, und ihre Scheidung für sein dringlichstes Problem hält.

Für Goethe ist die Einheit das Helle, die Getrenntheit das Dunkle - für Kant umgekehrt.

Wie in Kant das Prinzip der Grenzsetzung, so setzt sich bei Goethe das der Einheit aus der allgemeinen Anschauung der Natur in die Einzelheiten fort.

Indem die Einheit der Natur sich in diesen dokumentiert, muss sich unter ihnen eine durchgehende Verwandtschaft zeigen, die höchstens einer Abstufung des Entwicklungsmaßes, aber keiner prinzipiellen Verschiedenheit mehr Raum gibt.

Die »Gott-Natur«, die »göttliche Kraft, die überall entwickelt, die ewige Liebe, die überall wirksam ist«, lässt keinen Punkt des Daseins aus der Umfasstheit durch ihren absoluten Wert heraus -während für Kant allerdings gleichfalls in der Natur keinerlei Unterschiede des Wertes bestehen; nun aber nicht, weil alles gleich wertvoll, sondern alles gleich wertfremd ist.

Denn seine mechanistische Anschauung verlegt alle Werte aus der Natur heraus, und noch am Menschenwesen in dasjenige, was an ihm über alles »Naturhafte« hinausliegt.

Zu jener, auf der Göttlichkeit der Natur gegründeten Wesensverwandtschaft aller Existenzen will ich nur ein paar Äußerungen Goethes hervorheben, die zugleich das plumpe Missverständnis: seine angeblich hochmütig-aristokratische Weltanschauung, zurückweisen.

Er betont einmal, dass zwischen dem gewöhnlichen Menschen und dem Genie doch eigentlich nur ein sehr geringer Unterschied, gegenüber dem, was ihnen gemeinsam wäre, bestünde.

»Das poetische Talent«, sagt er ein anderes Mal, »ist dem Bauer so gut gegeben wie dem Ritter, es kommt nur darauf an, dass jeder seinen Zustand ergreife, und ihn nach Würden behandle.«

»Wollen die Menschen Bestien sein,
So bringt nur Tiere zur Stube herein;
das Widerwärtige wird sich mindern,
Wir sind eben alle von Adams Kindern.«

Und endlich ganz umfassend: »Auch das Unnatürlichste ist Natur. Auch die plumpste Philisterei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht.«

Die Einheit der Natur ergreift für Ihn also auch das, was nach der Skala der Werte aufs äußerste einander entgegengesetzt scheint.

Weil Äußeres und Inneres des gleichen Wesens sind, und zwischen ihren letzten Gründen keine Grenzsetzung möglich ist, so kann die Verschiedenheit des Maßes, in dem sie sich zu den einzelnen Erscheinungen mischen, keine wesentliche Verschiedenheit dieser begründen.

Und wie zwischen den Menschen, so innerhalb des einzelnen Menschen.

Er äußert den »Unmut«, den ihm die Lehre von den unteren und oberen Seelenkräften erregt habe.

In dem menschlichen Geist, sowie im Universum, sei nichts oben noch unten; alles fordere gleiche Rechte an einem gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert.

»Alle Streitigkeiten der Älteren und Neueren bis zur neuesten Zeit entspringen aus der Trennung dessen, was Gott in seiner Natur vereint hervorgebracht. Wer nicht überzeugt ist, dass er alle Manifestationen des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Vernunft, Einbildungskraft und Verstand, zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse, der wird sich in einer unerfreulichen Beschränkung immerfort abquälen.«

Alles dieses würde Kant wohl prinzipiell auch zugeben; allein gerade an dieser Tatsache hebt sich die Divergenz der Denkrichtungen am deutlichsten ab.

Für Goethe kommt es auf die Einheit an, die trotz der Grenzen der Seelenvermögen besteht; für Kant auf die Grenzen der Seelenvermögen, die trotz ihrer Einheit bestehen.

Die Grenzsetzung ist für ihn das unmittelbare Korrelat der Einheit; er sagt einmal, nachdem er zwischen nahe benachbarten Wissensgebieten eine scharfe Grenze gezogen hat: »Diese Absonderung hat noch einen besonderen Reiz, den die Einheit der Erkenntnis bei sich führt, wenn man verhütet, dass die Grenzen der Wissenschaft nicht ineinander laufen, sondern ihre gehörig abgeteilten Felder einnehmen.«

Es wird für immer ein Schauspiel von weltgeschichtlicher Symbolik sein, wie zwei der größten Geister aller Zeiten um die Vereinheitlichung der in Zersplittertheit sich darbietenden Welt rangen; wie die errungenen Gestaltungen, letzte und vorletzte, sich oft in sozusagen zwillingshafter Ähnlichkeit darbieten; und wie zu dieser Ähnlichkeit in dem einen Richtungen des Seins und Wollens gewirkt haben, die denen des anderen im tiefsten fremd und entgegengesetzt sind.

So entgegengesetzt, dass man von Feindseligkeit sprechen müsste, wenn nicht die Sphäre der höchsten Geistigkeit auch die unversöhntesten Scheidungen in einen Burgfrieden schlösse.

Niemand freilich wird sich unterfangen, zu entscheiden, ob unterhalb solcher Polaritäten doch noch eine letzte Einheit allen Geisteslebens liegt, die sich in jenen gleichsam punktuellen Begegnungen wie aus der Ferne andeutet.

So wenden beide sich gegen jene Getrenntheit der Erkenntniskräfte, auf der die überlieferten Theorien des Erkennens ruhten.

Die Sinnesempfindungen, mit denen allein die äußere Welt sich uns kundzutun scheint, waren für den Sensualismus auch die alleinige Quelle und Gewähr des Wissens um die Welt; der Rationalismus umgekehrt, alle sinnliche Erkenntnis für bloßen Schein erklärend, sucht Wahrheit allein in dem verstandesmäßigen, der logischen Notwendigkeit nachgehenden Denken.

Dem gegenüber erwies Kant die Erfahrung als das einzige uns gegebene Erkennen der Wirklichkeit - zugleich aber, dass Erfahrung nicht das Hinnehmen der Sinneseindrücke ist, sondern deren Formung durch jene Notwendigkeiten des Verstandes.

Nur wo der Verstand nach den ihm eigenen Kategorien die Synthese an den sinnlichen Gegebenheiten übt, entsteht uns, über deren Subjektivität und Zufälligkeit hinaus, das verlässliche Erkenntnisbild der Gegenstände.

Wenn nun auch für Goethe, wie ich anführte, die Getrenntheit der Seelenkräfte höchst verwerflich ist, wenn er ihr Wirken nur in Einheit anerkennt -so spiegelt sich der tiefste Unterschied beider Wesenheiten darin, dass für Goethe das Erkennen eine unmittelbare organische Funktion des Lebens ist, in dem Maße zulänglich und wahr, in dem es aus der Einheit des Grundes und des Weltverhältnisses eben dieses Lebens aufsteigt.

Wird das Leben also in seiner Auseinanderzweigung in einzelne Seelenkräfte angesehen, so wirken freilich diese alle zum Erkennen zusammen; allein in jeder einzelnen wirkt das ganze Leben, und dessen einheitliche Wurzel ist doch schließlich das Hervortreibende und Bestimmende.

Für Kant ist Erkenntnis die Synthese von eigentlich einander fremden, von verschiedenen Himmelsrichtungen des Geistes herkommenden Kräften; auf Goethes Bild des Erkennens, mag er seine Geistesart auch selbst als eine synthetische bezeichnen, passt dieser Begriff nicht.

Denn er fügt nicht zuvor Getrenntes zusammen, sondern behauptet ein ursprüngliches, vor aller Scheidung, die eine nachträgliche Synthese forderte, gelegnes Einssein.

Die geistige Einheit, von der beide, im Gegensatz zu Sensualismus und Rationalismus, das Erkennen tragen lassen, ist bei Kant im Grunde eine mechanistische, bei Goethe dagegen eine vitalistische zu nennen.

Entsprechend wenden sich beide gegen die Vorstellung von den »Naturzwecken«.

Dass in der Natur geistige Kräfte in einer Art, die der menschlichen Zwecktätigkeit entspricht, real wirksam walten; dass Bau und Funktion der Organismen die Absicht eines Baumeisters verraten, der sie menschlichen Maschinen analog konstruiert habe; dass das Universum von einem göttlichen Bewusstsein darauf angelegt sei, als ein Mittel für das Wohl des Menschen zu dienen - die Gegnerschaft gegen die Weltanschauung, von der dies die Äußerungen sind, offenbart die Gemeinsamkeit der Kantischen und der Goetheschen Kulturtendenz; ihre Begründungen dieser Gegnerschaft offenbaren freilich ihre Differenz.

Von Naturzwecken in einem irgendwie konkreten Sinne, so meint Kant, kann nur für die innere Struktur der Lebewesen die Rede sein.

Denn nur an ihnen findet sich das Merkwürdige, dass der einzelne Teil und seine Wirksamkeit überhaupt nur durch seine Beziehung auf das Ganze begriffen werden kann; ein jeder dient in Wechselwirksamkeit jedem anderen, d. h. er dient dem Ganzen, und nur indem wir Leben und Erhaltung dieses Ganzen als Endziel denken, wird uns die Funktion jedes einzelnen Teiles verständlich - im Unterschied gegen allen Mechanismus, dem gemäß jedes Element einfach mit den in ihm gesammelten Energien Weiterwirkt, so dass ein Ganzes sich nur als die Summe von Elementen und Effekten ergibt, nicht aber zum Verständnis der einzelnen Wirkungen schon vorausgesetzt werden muss.

Nun können wir uns aber ein Ganzes, das gewissermaßen vor seinen Teilen da wäre und deren Leistungen nach seinem Lebenszweck bestimmte, in keiner realen Weise denken.

Dieses Ganze und sein Leben als Zweck besteht vielmehr nur als Idee eines menschlichen Betrachters, der diese als Leitfaden für das Begreifen der organischen Funktionen benutzt.

Als objektiv und in empirischer Anschauung gültig können wir nur das Mechanistische Prinzip zulassen; wenn wir aber dem Organismus gegenüber jeden Teil fragen müssen: wozu dient er innerhalb des Ganzen? - so ist das ein subjektives Hilfsmittel, das einzige, das nach der Art unseres Verstandes uns die Struktur des Lebewesens allmählich verstehen lässt.

Dass dies in der Natur selbst objektiv, als eine bestimmende Absicht ihrer wirke, dürfen wir nicht behaupten.

Dieser Kantischen Theorie bekennt Goethe »eine höchst frohe Lebensepoche schuldig« zu sein - vielleicht aber doch nur, weil er sie gar zu sehr in seinem eigenen Sinne deutete.

Er hat nicht empfunden, dass das eigentliche Ideal, mit dessen Erreichung Kant das Verständnis auch der organischen Natur für abgeschlossen halten würde, doch der Mechanismus des Geschehens ist; nur dass Kant die Unmöglichkeit hiervon wohl zugab, aber nur, weil unser Verstand eben nicht anders eingerichtet sei und sich deshalb der Teleologie als einer - wie wir heute sagen würden - bloßen Arbeitshypothese bedienen müsse.

Goethe aber weist Wirklichkeit und Wirksamkeit von Naturzwecken aus ganz anderen Motiven zurück: Die Natur, sagt er, »ist zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und hat es auch nicht nötig«.

Gründe für oder gegen die Teleologie, die in unserer Erkenntnisart liegen, entscheiden für ihn nicht.

Aus dem Wesen der Natur selbst heraus urteilt er, weil er In ihr seine Erkenntnis wurzeln fühlte, so dass er in der letzteren gar keine Bedingungen zu suchen brauchte, die nicht unmittelbar mit denen der ersteren zusammenfielen -eine Überzeugung, die seiner anderen von der Individualisiertheit und dem rastlosen Wechsel menschlicher Einsicht eben darum nicht widersprach, weil ihm die Natur selbst ein fließendes und sich ewig neu gestaltendes, umgestaltendes Leben war.

Er überwindet den Gegensatz zwischen den Erklärungen nach mechanistischen und nach Zweckprinzipien, indem ihm das Leben - der Organismen wie des Weltganzen - etwas Einziges, Unvergleichbares wie Unzerlegbares ist, das jenseits solcher einseitigen, der Abstraktion verdankten Begriffe steht.

Er findet zwar in der Natur »große Maximen«: Polarität und Steigerung, Metamorphose und Typenbildung und andere; allein damit beschreibt er nur die Formen, in denen sich ihr Leben vollzieht, nicht aber die Triebkräfte dieses Lebens selbst, die vielmehr nur die eine sind - das All-Leben überhaupt, das wir nicht weiter beschreiben oder mit einem einzelnen Begriff decken können.

So entfernt ist er von allem Mechanismus, dass er den Naturgesetzen, wie er sie sich denkt, »Ausnahmen« zugesteht, auch diese freilich umfasst von einem höchsten unaussprechlichen »Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Ausnahmen aufzuweisen sind« - so entfernt auch von aller Teleologie, dass er auch das Unnütze und Schädliche als ein Sinnvolles im »notwendigen Kreis des Daseins« anspricht.

So ist die Zurückweisung der Naturzwecke bei beiden in den Grundpositionen und deren Unterschied verankert: Kant spricht aus unserer wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeit heraus, die für ihn das Sein einschließt, Goethe aus dem Sein heraus, das für ihn auch unsere Erkenntnis einschließt.

Alle Analogie der erscheinenden Resultate also findet ihre innere Grenze von seiten des letzten Motivs her, aus dem überhaupt ihre Anschauungsweise quillt und das bei dem einen ein wissenschaftliches, bei dem andern ein künstlerisches ist.

Die Wissenschaft befindet sich immer auf dem Wege zu der absoluten Einheit des Weltbegriffes, kann sie aber niemals erreichen; auf welchem Punkte sie auch stehe, es bedarf von ihr aus immer eines Sprunges in eine andre Denkweise: religiöser, metaphysischer, moralischer, ästhetischer Art -, um das unvermeidlich Fragmentarische ihrer Ergebnisse zu einer völligen Einheit zu ergänzen und zusammenzuschließen.

Das hat Kant sehr gut gewusst, und er bestimmt deshalb mit großer Entschiedenheit die Schranken nicht nur innerhalb seines Weltbildes, sondern auch dieses Weltbildes selbst, soweit er es als wissenschaftlich anerkennt, gegenüber dem Ideal der unbedingten Einheit der Dinge.

Für Goethe andrerseits wird die Grenze, bis zu der die Analyse gehen darf, durch ein nicht weniger bestimmtes Kriterium gegeben; sie ist ihm von dem Punkt an unzulässig, wo sie die Schönheit der Dinge zerstört.

Schönheit, so könnte man in Goethes Sinne sagen, ist die Form, in der Stoff und Idee, oder Materie und Geist sich gegenseitig innewohnen.

Dass Schönheit da ist, dass wir sie empfinden, dass wir sie selbst bilden können, ist die Gewähr dafür, dass jene Einheit der Weltelemente besteht, nach der die Ideenbewegung der Zeit suchte, ist die Gewähr dafür, dass das geistige Subjekt und die objektive Natur sich begegnet sind; und sie können sich nur begegnen - so darf man ihn weiter ausdeuten -, wenn und weil sie von vornherein identisch sind.

Wir müssen vielleicht auf die geheimnisvolle Gestalt Leonardo da Vincis zurückgehen, um einen Zweiten zu finden, der die Welt so restlos ästhetisch genossen, so jede Wirklichkeit zugleich als Schönheit empfunden hat.

Weil Schönheit die Verkörperung ideellen Gehalts im realen Sein ist, so bedeutet die Durchgängigkeit ihrer Herrschaft die Auflösung jenes fundamentalen Gegensatzes zwischen dem geistigen und dem natürlichen, dem subjektiven und dem objektiven Prinzip des Seins, bedeutet die Erkenntnis seiner Nichtigkeit.

Darum findet Goethe in der Schönheit das niemals trügende Kriterium für die Richtigkeit der Erkenntnis: in dem Augenblick, wo die - äußere oder intellektuelle - Zergliederung des Objekts die Schönheit seiner Erscheinung nicht mehr bestehen ließe, wären auch die Ergebnisse jener als unwahre erwiesen.

Das Auseinanderreißen der Natur »mit Hebeln und mit Schrauben« ist ihm sozusagen theoretisch falsch, weil es ästhetisch falsch ist.

Die Anerkennung der Geognosie ringt er sich nur schwer ab, da sie »doch den Eindruck einer schönen Erdoberfläche vor dem Anschauen des Geistes zerstückelt«.

Daher auch sein Hass gegen die Zerstückelung Homers; er will ihn »als Ganzes denken«, weil er nur so seine Schönheit bewahre.

Von analytischen Geistern, die die dichterisch-synthetische Auffassung der Dinge zerstören, meint er:

»Was wir Dichter ins Enge bringen,
Wird von ihnen ins Weite geklaubt.
Das Wahre klären sie an den Dingen,
Bis niemand mehr dran glaubt.«

In sehr tiefgreifender Weise bezeichnet dies das kleine Gedicht: »Die Freude«.

Er entzückt sich an den Farben einer Libelle, will sie in der Nähe sehen, verfolgt und fasst sie und sieht - ein traurig, dunkles Blau.

»So geht es dir, Zergliederer deiner Freuden!« Mit der zu weit getriebenen Zergliederung, die den ästhetischen Genuss zerstört, entschwindet also nicht etwa eine Illusion, sondern das ganz reale Bild des Gegenstandes.

ja, seine Abneigung gegen Brillen ist schließlich doch auch nur die gegen das scharfe Zerfasern der Erscheinungen, gegen das Zerstören des natürlich schönen Verhältnisses zwischen den Objekten und dem aufnehmenden Organ.

Mit mindestens teilweisem Recht meint Helmholtz, das letzte Motiv für seine Polemik gegen Newtons Farbenlehre verrieten die Stellen, wo er über die durch viele enge Spalten und Gläser hindurchgequälten Spektra spottet, und die Versuche im Sonnenschein unter blauem Himmel nicht nur als besonders ergötzlich, sondern auch als besonders beweisend preist.

Die Zerstörung des ästhetischen Bildes ist ihm zugleich die Zerstörung der Wahrheit.

Die rechnerische Vorstellung der Dinge, wie die mathematische Naturwissenschaft sie durch Zerlegung in ihre, womöglich qualitätslosen, Elemente gewinnt, muss ihm wegen ihres Mankos an ästhetisch-anschaulichem Werte ein ebenso großer Frevel und Irrweg sein, wie umgekehrt für Kant dieses ästhetische Kriterium ein solcher gegenüber den Gegenständen des Naturerkennens wäre.

Der großen Zweiheit der Weltelemente, durch deren mannigfaltige Versöhnungen hin sich die Weltanschauung der neueren Zeit entwickelt, steht eine andere zur Seite, die sich viel früher als jene aufarbeitet, in ihrem Bildungsschicksal aber mit ihr verwandt ist: der praktische Dualismus zwischen dem Ich und der gesellschaftlichen Gesamtheit, aus dem man die Probleme der Sittlichkeit entspringen zu lassen pflegt.

Auch hier beginnt die Entwicklung mit einem Indifferenzzustand: die Interessen des Einzelnen und der Gesamtheit haben in primitiven Kulturen überhaupt noch keine nennenswerte oder bewusste Entgegengesetztheit; der naive Egoismus hat zwar gelegentlich, aber noch nicht prinzipiell einen anderen Inhalt als der Gruppenegoismus.

Sehr bald freilich bildet sich mit der anhebenden Individualisierung der Persönlichkeiten ein Gegensatz zwischen beiden heraus, und damit die Forderung an den Einzelnen, sein persönliches Interesse dem der Allgemeinheit unterzuordnen: dem Wollen tritt ein Sollen gegenüber, der natürlichen Subjektivität ein objektives Moralgebot.

Und abermals erhebt sich die Einheitsforderung: diesen Dualismus durch Unterdrückung der einen Seite oder durch gleichmäßige Befriedigung beider aufzuheben; wobei es sich hier ersichtlich um eine Lösung handelt, die den Wert des Lebens überhaupt auf sein Maximum bringt.

Die Antwort vollzieht sich bei Kant und Goethe in fast genauem Parallelismus mit dem Verhältnis ihrer theoretischen Weltanschauungen.

Bei Kant durch ein objektives Moralgebot, das jenseits jeglichen besonderen Interesses steht, aber in der Vernunft des Subjekts wurzelt; bei Goethe durch eine unmittelbare innere Einheit der sittlich-praktischen Lebenselemente, durch eine die Gegensätze einschließende Natur des Menschen und der Dinge.

Kants zentraler Gedanke beruht hier auf der völligen Scheidung zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft; einen Wert erhalte das Handeln erst dadurch, dass es unter absoluter Rücksichtslosigkeit gegen die erstere ausschließlich der letzteren gehorche.

Diese aber enthält zwei Momente: einmal die Selbständigkeit des Menschen, die verneint ist, sobald sinnliche Motive uns bestimmen, deren Anregung und Befriedigung von außen, von der Gegenwart bestimmter Objekte abhängig ist; zweitens die völlige Objektivität des Sittengesetzes, das mit allen individuellen Reserven, Besonderheiten und Veileitäten schonungslos aufräumt und den ganzen Wert des Menschen ausschließlich darauf gründet, dass er seine Pflicht erfüllt, und zwar nicht nur äußerlich erfüllt, sondern auch um der Pflicht willen; sobald sich irgendein anderes Motiv als dieses in die Handlung mischt, hat sie keinen Wert mehr.

Ist diese Bedingung aber erfüllt, so ist der Mensch in eine höhere, überempirische Ordnung eingestellt, und gewinnt so durch sein Handeln einen Wert, eine absolute Bedeutung, hinter der all sein bloßes Denken und Erkennen, das sich nur auf Empirisches und Relatives bezieht, weit zurücksteht.

An diesem letzteren, äußerst charakteristischen Punkte der Kantischen Lehre, dem »Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen«, ist Goethe mit ihm völlig einverstanden.

Unaufhörlich betont er, wie Handeln im sittlichen Sinne unser erstes Interesse zu bilden habe.

Wie er es als der Weisheit letzten Schluss erklärt, dass man sich das Leben täglich praktisch erobere, wie er den Begriff des Menschen mit dem des Kämpfers identifiziert, so erklärt er, dass er überhaupt nur handelnd denken könne, und dass ihm alle bloße Belehrung direkt verhasst wäre, wenn sie nicht zugleich seine Tätigkeit belebte.

Der Primat der sittlich-praktischen Tüchtigkeit vor aller bloßen Intellektualität und Theorie steht ihm ebenso fest wie Kant.

Für ihre ethische Anschauung bedeutet dies die gleiche Übereinstimmung wie für ihre allgemeine Weltanschauung die Überwindung des oberflächlichen Dualismus der inneren und der äußeren Natur.

Aber sogleich trennen sich, hier wie dort, die Wege oberhalb - oder unterhalb - dieser gleichsam nur punktuellen Gemeinsamkeit.

Wie für Kant das Unerkennbare des Daseins ein absolutes jenseits ist, von allem Gegebenen brückenlos geschieden, für Goethe aber nur die in das Mystische sich verlierende Tiefe der Anschauungswelt, in die der Weg von dieser, wenn auch unbeendbar, so doch ohne Sprung führt - so liegt für Kant der sittliche Wert in einer dem Wesen nach anderen Welt, als alles andere Dasein und seine Bedeutungen, von diesen aus nur durch eine radikale Wendung und innere »Revolution« zu erreichen.

In der Goetheschen Anschauung aber ist der sittliche Wert mit den übrigen Lebensinhalten in einer einheitlichen, kontinuierlich aufsteigenden Reihe verbunden, und sein auch für ihn unbezweifelbarer Primat ist jenen gegenüber der Rang des primus inter pares.

Jener fundamentale und unversöhnliche Wertunterschied zwischen der sinnlichen und der vernünftigen Seite unseres Wesens, auf dem die ganze Kantische Ethik steht, muss Goethe ein Horror sein - wie überhaupt sein eigentlicher Todfeind der christliche Dualismus ist, der die Sichtbarkeit der Welt und ihren Wert auseinanderreißt.

Die metaphysische Einheit der Lebenselemente muss sich für ihn praktisch in eine Werteinheit derselben umsetzen.

Dass er, wie wir sahen, das Innere und das Äußere nicht trennen kann, dass er statt der »oberen und unteren Seelenkräfte« einen gemeinsamen Mittelpunkt des psychischen Daseins fordert - das entstammt doch wohl der in die letzten Tiefen seiner Persönlichkeit hineinreichenden und allem Beweisen und Widerlegen unzugänglichen Empfindung einer Gleichheit und Harmonie aller unserer Wesensseiten in bezug auf den Wert, den jede besitzt.

Wie für ihn in der anschaulichen Welt nichts so klein, flüchtig oder abseitsliegend ist, dass sich nicht seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten könnte und dass es ihm nicht zum Spiegel ewiger Gesetze, zum Repräsentanten der Gesamtheit des Alls würde, so lässt es in der subjektiven Welt die gewaltige Einheit seines Lebensgefühles nicht zu einem prinzipiellen Wertunterschiede seiner einzelnen Energien kommen.

Goethes Existenz wird durch das glücklichste Gleichgewicht der drei Richtungen unserer Kräfte charakterisiert, deren mannigfaltige Proportionen die Grundform jedes Lebens abgeben: der aufnehmenden, der verarbeitenden, der sich äußernden.

In diesem dreifachen Verhältnis steht der Mensch zur Welt: zentripetale Strömungen, das Äußere dem Inneren vermittelnd, führen die Weit als Stoff und Anregung in ihn ein, zentrale Bewegungen formen das so Erhaltene zu einem geistigen Leben und lassen das Äußere zu einem Ich und seinem Besitz werden, zentrifugale Tätigkeiten entladen die Kräfte und Inhalte des Ich wieder in die Welt hinein.

Wahrscheinlich hat dieses dreiteilige Lebensschema eine unmittelbare physiologische Grundlage, und der seelischen Wirklichkeit seiner harmonischen Erfüllung entspricht eine gewisse Verteilung der Nervenkraft auf diese drei Wege ihrer Betätigung.

Beachtet man nun, wie sehr das Übergewicht eines derselben die anderen und die Gesamtheit des Lebens irritiert, so möchte man ihre wundervolle Ausgeglichenheit in Goethes Natur als den physisch-psychischen Ausdruck für deren Schönheit und Kraft ansehen.

Er hat innerlich sozusagen niemals vom Kapital gezehrt, sondern seine geistige Tätigkeit war fortwährend von der rezeptiven Hinwendung zur Wirklichkeit und allem, was sie bot, genährt; seine inneren Bewegungen haben sich nie gegenseitig aufgerieben, sondern seine ungeheure Fähigkeit, sich nach außen hin handelnd und redend auszudrücken, verschaffte jeder die Entladung, in der sie sich völlig ausleben konnte: in diesem Sinne hat er es so dankbar hervorgehoben, dass ihm ein Gott gegeben hat, zu sagen, was er leidet.

So könnte man in seiner Denkrichtung aussprechen: wenn irgendeine Lebensenergie prinzipiell einer anderen untergeordnet ist, so sei sie eben dadurch, dass sie diese ihr zukommende Stelle ausfüllt, gerade so wertvoll wie die höhere, die auch nichts kann, als ihre Funktion ausüben, und das eben erst im Zusammenwirken mit der ersteren kann; so dass jene antiaristokratische Meinung über die annähernde Gleichwertigkeit der Menschen - vor der er übrigens selbstverständlich im Empirischen und nach dem einmal rezipierten Maßstab den Unterschied zwischen der blöden Menge und den großen Menschen nie übersieht - ihre Analogie innerhalb des einzelnen Menschen, in Beziehung auf seine Wesenselemente findet.

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