Liebesgeschichten aus der Provinz

Ihre Cousinen in Vermand waren sehr verwundert, sie gar nicht mehr bei sich zu sehen, doch Madame Bourrat hatte ihre Antwort wohl vorbereitet. Das Pferd, das bisher vor den Wagen gespannt wurde, war alt geworden, man hatte es verkaufen müssen, und ein Ersatz war noch nicht gefunden. Und wirklich war der arme Herr Bourrat jetzt gezwungen, den Leiterwagen des Pächters zu benutzen, wenn er zum Markte fahren wollte und wenn der Pächter seinen Wagen auf den Feldern brauchte, mußte er sogar zu Fuß gehen und war froh, wenn er unterwegs einen Bekannten traf, der ihn aufsitzen ließ.

Anfang Oktober veranstalteten die jungen Bourrat in Vermand ein Weinlesefest. Es sollten Reben gepflückt werden, dann war ein gemeinsames Essen geplant und schließlich wollte man tanzen. Frau Bourrat aus Prévoux nahm für sich und ihre Tochter die Einladung an, doch am vereinbarten Tag ging sie allein nach Vermand.

»Meine Tochter hat heute einen schlechten Tag,« flüsterte sie ihrer Cousine ins Ohr, »sie muß liegen.« Übrigens, gestand sie, daß der Gesundheitszustand ihrer Tochter sie beunruhige. Sie habe öfter so starke neuralgische Schmerzen, daß sie gezwungen wäre im Bett zu bleiben, man werde schließlich doch Doktor Maigret rufen müssen.

Einige Tage später wurde Frau Bourrat, als ihre Tochter eben beim Klavier saß, durch den Besuch ihrer Verwandten aus Vermand überrascht. Trotzdem sie sich angewöhnt hatte, auf jedes noch so leise Geräusch ängstlich zu lauschen, hatte sie diesmal die Ankunft des Wagens überhört. Die Türen des Salons öffneten sich. Die Damen traten ein. Fräulein Bourrat blickte zitternd nach ihrer Mutter: diese blinzelte ihr rasch zu, ihren Platz nicht zu verlassen und stürzte ihrer Schwägerin in die Arme, um sie umständlich zu begrüßen. Während sie sie umarmt hielt, machte sie ihrer Tochter Zeichen, rasch vom Klavier zu ihrer Stickerei zu eilen.

Nicht eher, als bis sie ihre Tochter unter dem Schutz ihres Stickereirahmens geborgen sah, löste sie die Umarmung.

Einige Minuten später legte das jüngste der Mädchen aus Vermand zärtlich ihren Arm um die Hüfte von Fräulein Bourrat. »Nein, wie stark du geworden bist,« meinte sie erstaunt. Diese furchtbaren Worte hörte Frau Bourrat. Wie ein Schleier legte es sich über ihre Augen. Doch rasch überwand ihre Energie den schrecklichen Augenblick und geistesgegenwärtig begann sie mit ihrer Schwägerin ein Gespräch über die Rivalität zwischen den Damen Duret und Lanterle, da sie wußte, daß kein anderer Gegenstand das Interesse der Frau Bourrat aus Vermand in stärkerem Maße zu fesseln vermöchte.

Fräulein Bourrat errötete bis zu den Haarwurzeln, befreite sich hastig von der gefährlichen Umarmung ihrer Cousine und fand gerade noch die Kraft zu ihrer Antwort: »Ja, es ist wahr, hier auf dem Lande werde ich immer dicker!« Glücklicherweise beharrte ihre Cousine nicht weiter bei diesem Thema.

Die Damen waren jedoch nicht bloß gekommen, um einen Besuch zu machen, sie wollten das junge Mädchen in ihrem Wagen zu Nachbarn mitnehmen. Frau Bourrat lehnte bedauernd ab, gerade heute erwarte sie den Arzt wegen der neuralgischen Schmerzen ihrer Tochter. Lebhaft bedauernd nahmen die Damen Abschied. Fräulein Bourrat hatte unglücklicherweise eben ihre Wollmuster auf den Knien ausgebreitet) sie konnte sich nicht erheben.

Nach diesem Tage kam Fräulein Bourrat nur noch morgens in den Salon hinunter; gleich nach dem Mittagessen kehrte sie wieder in ihr Zimmer zurück. Dann, als nur noch drei Monate zu dem gefürchteten Zeitpunkte fehlten, gab Frau Bourrat ihre Tochter endgültig als krank aus; die neuralgischen Schmerzen seien chronisch geworden, das kleinste Geräusch, die geringfügigste Bewegung genüge, um Anfälle hervorzurufen. Doktor Maigret verurteilte Fräulein Bourrat zu vollständiger Ruhe. Sie durfte nur für wenige Stunden des Tages ihr Bett verlassen und unter keinen Umständen Besuche empfangen. Diese Nachricht, die gegen Ende des Jahres nach Valleyres drang, erregte allenthalben das größte Mitleid. Daß diese Unglückliche, die noch so jung war, so viel zu leiden hatte! Die Freidenker des Ortes erblickten darin eine notwendige Folge der verfehlten Erziehung im Kloster, die – ohne rechte Luft – die Gesundheit der jungen Mädchen untergrabe.


Was der Herbst und der Winter für Fräulein Bourrat bedeuteten, kann man erraten. Keine Seele hatte sie, mit der sie sprechen konnte. Ihre Mutter war seit jener schrecklichen Enthüllung kälter und mitleidsloser als vorher. Während der langen Tage, die sie allein mit ihrer Tochter zubrachte, hüllte sie sich in undurchdringliches Schweigen und hielt ihre Lippen zusammengepreßt, als würde jedes Wort, das sie an ihre Tochter richtete, sie selbst beschmutzen. – Immer tiefer, immer verzweifelter ließ Fräulein Bourrat ihren Kopf auf den Stickrahmen sinken! Manchmal, wenn sie ihre Augen zu heben wagte, traf sie der harte, durchdringende Blick ihrer Mutter, und sie fühlte erbebend, wie diese sie aus ganzer Seele verabscheute und erkannte, daß sie erbarmungslos von ihr verleugnet würde, wenn nicht der Ruf des Namens Bourrat auf dem Spiel stände.

Ihr Vater war rascher über die Sache hinweggekommen; sie erriet unschwer das Mitleid, das er mit ihr fühlte. Zwei- oder dreimal wäre er hart daran gewesen, sich von seiner Rührung übermannen zu lassen, aber Frau Bourrat war immer zur rechten Zeit zur Stelle. Sie hatte dann eine Art ihrem Manne Blicke zuzuwerfen, die ihn sofort erstarren ließ.

Des Morgens auf ihrer Gartenbank gab Fräulein Bourrat sich einsamen Tränen hin. Ihr Los war auch zu hart! Gezwungen, sich vor allen zu verbergen, im Halbdunkel leben, eine Krankheit vortäuschen müssen, obwohl sie sich doch nie wohler gefühlt hatte und dabei die Bürde ihrer Schuld in sich wachsen fühlen ...!


Es war im Monat Oktober, als Victoria, die Amme von Fräulein Bourrat, einen Nachmittag in Prévour verbrachte. Frau Bourrat schloß sich mit der Bäuerin in ihrem Zimmer ein. Als diese das Haus verließ, war alles geregelt. Anfang Januar sollte Herr Bourrat eines Tages, wie auf einem zufälligen Spaziergange durch Victorias Dorf kommen, um diese zu benachrichtigen. Sie würde dann gegen elf Uhr nachts allein nach Prévoux kommen. Das Haus wird im tiefsten Schlafe liegen, doch das Tor unversperrt sein und ohne Geräusch müsse sie in den Salon eintreten. – Kurz danach würde sie Herr Bourrat im Wagen bis zu der zwei Meilen entfernten Bahnstation bringen, von wo sie der Nachtzug nach halbstündiger Fahrt in ein anderes Dörfchen führen würde. Hier wird das Kind seine Heimat bei einer Frau finden, mit der alles vereinbart war. Ein Findelkind, dessen Vater und Mutter unbekannt waren, würde hier aufwachsen; die Pflegekosten von fünfhundert Francs würden im voraus bezahlt, obwohl Frau Bourrat wütend, aber vergeblich, gegen diese unerhörte Forderung ankämpfte. Zähneknirschend sah sie ein, daß in diesem Punkte Victoria ihr noch überlegen war. –

Fräulein Bourrat verließ jetzt nicht mehr ihr Zimmer. Das arme Kind war in dieser von Haß umgebenen Einsamkeit, in der man es ließ, schon so verzweifelt, daß es nur noch eine Hoffnung kannte: die schwere Stunde nicht zu überleben. Die Ungewißheit, in der man sie hielt, drückte sie nieder. Die Mutter hatte ihr nur das unbedingt Nötigste gesagt, daß sie ein Kind gebären und daß dieses Kind sogleich verschwinden werde. – Was wollte man mit ihm tun? Was würde aus ihr selbst werden? Sollte sie fortfahren, ein so freudeleeres Leben an der Seite ihrer Mutter zu führen? Nichts erfuhr sie. Auf allen Seiten hingen undurchsichtige Schleier, die sie vom Leben draußen trennten. Sie mühte sich, zu verstehen, zu begreifen, aber gleich einem Vogel, der gegen die Stäbe seines Käfigs anfliegt und erschöpft zurückfällt, gab auch sie es bald auf, den engen, geheimnisvollen Kreis, in den sie eingeschlossen war, zu durchbrechen.

Weihnachten und der Neujahrstag gingen vorbei. Ihre Cousinen hatten sich mit einigen herzlichen Gaben eingestellt, doch die Mutter hatte kein Wort gefunden, ihr die Festtage zu verschönen. Der Vater kam am Neujahrstag in ihr Zimmer und mühte sich, seine Rührung zu verbergen. Als die Mutter für einen Augenblick hinausgerufen wurde und sie sich mit dem Vater allein fand, sank sie schluchzend in seine Arme und der alte, unglückliche Mann weinte mit ihr. Während ihres ganzen Lebens waren sie einander in keinem Augenblicke so nahe gewesen.

Endlich, eines Vormittags gegen elf Uhr, fühlte Fräulein Bourrat, die seit einigen Tagen an Beklemmungen gelitten hatte, heftige Schmerzen. Sie benachrichtigte ihre Mutter, die sich in ihrem Zimmer niederließ. Herr Bourrat ließ anspannen – er hatte kürzlich wieder ein Pferd erstanden – und fuhr in die Stadt. Nach einigen Besorgungen trat er bei Dr. Maigret ein und dann fuhr er wieder davon, doch statt die gleiche Straße einzuschlagen, auf der er gekommen war, machte er einen großen Umweg, um noch Victoria aufzusuchen, bevor er nach Prévoux zurückkehrte. Seine Frau kam zum Mittagessen aus dem Zimmer ihrer Tochter herunter. Herr Bourrat vermochte seine Aufregung nur mit Mühe zu verbergen. Frau Bourrat dagegen war nun, da der gefährliche Augenblick immer näher rückte, vollkommen ruhig und Herrin ihrer selbst.

Seit dem Morgen hatte sie nicht aufgehört, ihre Tochter in Schrecken zu halten, ihr peinlichstes Schweigen zu gebieten, ihr beim geringsten Versuch eines Schmerzenslautes mit den unausbleiblichen Folgen eines furchtbaren Skandals zu drohen. Das unglückliche, geängstigte Mädchen lag nun allein in ihrem Zimmer, zerbiß ihr Taschentuch zwischen den Zähnen und wühlte ihren Kopf in die Kissen, sobald die Wehen einsetzten. Kein Seufzer entfuhr ihren Lippen.

Dem Stubenmädchen, das dem Fräulein wie gewöhnlich die Mahlzeit hinauftragen wollte, erklärte Frau Bourrat, daß ihre Tochter Fieber habe, daß sie tagsüber nichts essen werde und daß ihr die größte Ruhe nötig sei. Jeder Lärm im Hause sei zu vermeiden und niemand dürfe die oberen Stockwerke betreten.

Um drei Uhr langte der Doktor in seinem Wägelchen an, das er selbst kutschierte. Auch dieser Umstand war zwischen ihm und Frau Bourrat sorgfältig vorbestimmt. Dr. Maigret war in der Regel brummig und unwirsch. An diesem Tage aber war seine Stimmung furchterweckend.

Als Fräulein Bourrat ihn eintreten sah, wandte sie den Kopf zur Wand. Sie vermochte den Blick dieses mürrischen Greises nicht zu ertragen.

Trocken und hart befahl er ihr, sich auf den Rücken zu legen, und ohne ihren Protest zu beachten, entblößte er ihren Körper. Dann warf er die Decke auf den entstellten Leib zurück und erklärte, daß man noch warten müsse. Kein einziges Wort fügte er hinzu, stumm verließ er das Zimmer, bestieg seinen Wagen und fuhr in ein Nachbardorf, noch einen Krankenbesuch zu machen. Im Hofe begegnete er Herrn Bourrat, doch ohne ihn eines Wortes zu würdigen, ging er an ihm vorbei.

Qualvoll und eintönig verlief der Nachmittag, von heftigen Schmerzen, die in immer kürzeren Zwischenräumen kamen, unterbrochen. Frau Bourrat saß am Fußende des Bettes und strickte mit bitter zusammengepreßten Lippen. Nur, wenn die Anfälle kamen, wandte sie sich ihrer Tochter zu, als wollte sie sagen: »Schrei' nur nicht!« Und jedesmal, wenn Fräulein Bourrat schon den Schmerzen nachgeben wollte, überwand sie sich wieder.

Nach fünf Uhr kam der Doktor zurück. Neuerlich befühlte er seine Patientin und ungeduldig sprach er: »Noch immer nichts.«

Frau Bourrat, die ihre eigenen Gedanken hatte, nickte befriedigt mit dem Kopf. Warten zu müssen, störte sie durchaus nicht.

»Besser, wenn es erst in der Nacht ist ...« murmelte sie vor sich hin.

Sie begleitete den Doktor die Treppe hinunter und forderte ihn vor dem Stubenmädchen auf, zum Abendessen zu bleiben; sie würden nachher eine Partie Whist spielen. Maigret tat, als wenn er zögerte und nahm schließlich an. Zu wiederholten Malen in den letzten Wochen hatte Frau Bourrat ihren Vetter schon auf gleiche Weise zu einem Spielchen Karten im Hause behalten. Das Mädchen war in keiner Weise überrascht, als er auch diesen Abend blieb. Wie gewöhnlich, nahmen sie nach dem Essen beim Spieltisch Platz, Frau Bourrat läutete, um noch eine Kerze zu verlangen, in Wahrheit aber, damit das Mädchen Zeugin sei, daß sie wirklich beim Spiele saßen. Sobald Josephine gegangen war, schlichen Frau Bourrat und Maigret geräuschlos zu dem Zimmer der Tochter hinauf, während Herr Bourrat allein im Salon blieb.

Das erste, was Frau Bourrat oben tat, war, einen dicken Vorhang aus dem Kasten zu nehmen und ihn mit kleinen Nägeln an dem Rahmen der Türe zu befestigen.

Fräulein Bourrat seufzte erschöpft, der Doktor untersuchte sie abermals und war der Meinung, daß nun die Zeit gekommen sei. Er flüsterte noch einige Augenblicke mit seiner Cousine in der Fensternische, zog dann ein Fläschchen aus seiner Tasche, aus dem er einige Tropfen auf sein Taschentuch fallen ließ und näherte sich dem Bett. Fräulein Bourrat verspürte einen ätzenden Geruch und erschrak. Was hatte er vor? Wollte man vielleicht auch sie beiseite schaffen? Der alte Doktor erschien ihr wie ein düsterer Zauberer, der über gewaltige, geheimnisvolle Kräfte verfügte. Sie versuchte sich aufzusetzen, wollte zu ihrer Mutter sprechen, wies nach dem Schrank, doch niemand achtete auf sie. Die Hand des Doktors legte sich um ihre Stirn und drückte sie auf das Polster nieder, das Taschentuch mit dem ätzenden Geruch kam immer näher. Verzweifelt streckte sie die Hände aus, um es von sich wegzuhalten. Da fühlte sie ihre Arme von den erbarmungslosen Fäusten der Mutter beiseite geschoben und in einem verzweifelten Aufbäumen des ganzen Körpers schlug das arme, furchtgepeinigte Mädchen mit den Beinen die Bettdecke zurück: es gelang ihr eine ihrer Hände freizubekommen und mit aller Kraft stemmte sie die Brust des über sie gebeugten Arztes fort. Doch trotz des Kampfes lag ihr das Taschentuch über Mund und Nase, sie fühlte ein Brennen auf ihrer Haut, sie meinte zu ersticken, alle Kraft verließ sie, der schreckliche Geruch drang immer tiefer in sie ein. Sie schnappte nach Luft und hatte schon das Bewußtsein verloren.


Eine Stunde war vergangen. Der Arzt hatte seinen Rock abgelegt, ein dumpfer Fluch entrang sich dann und wann seinen Lippen. Plötzlich klang ein heiseres Wimmern durch die Stube. Ein neues Wesen meldete sein Recht auf das Leben an. Die Stimme wurde heller und lauter. Es schien, als müßte sie durch alle Wände des Hauses zittern. Doch schon hatte Frau Bourrat das Kind gepackt und war mit ihm ins Innere des mächtigen Schrankes geflohen. Beide Flügeltüren zog sie hinter sich zu, um das Weinen des Kindes zu ersticken, das auch nur ganz schwach noch im Zimmer zu vernehmen war. Alles war hier im Kasten vorgesehen. Eine Kerze, die am Boden stand, zündete sie an, mit Tüchern, die bereit lagen, rieb sie besonnen das kleine Wesen ab, dann hüllte sie es in Decken und in Wäschestücke, aus denen sorgsam jede Marke entfernt war. Als sie ihre Arbeit beendet hatte, war das Kind eingeschlummert, sie trat aus dem Schranke heraus, legte es in einen Fauteuil und stieg, jedes Knarren ihrer Schritte vermeidend, die Treppe hinunter.

Das Haus war schon in tiefes Dunkel getaucht. Ihren Gatten fand sie im Salon. Erregt sprang er auf, als sie die Türe öffnete. Allen seinen Fragen barsch zuvorkommend, befahl sie ihm, seinen Wagen und den des Doktors geräuschlos anzuspannen und mit beiden auf der Landstraße vor der Einfahrt in den Hof zu warten. Dann kehrte sie in das Zimmer der Wöchnerin zurück.

Während der nächsten halben Stunde half sie dem Doktor seine Aufgabe zu vollenden, zusammen mit ihm trug sie Fräulein Bourrat, die immer noch schlief, auf den Diwan, sie überzog das Bett mit bereitgehaltener, frischer Wäsche und legte die Tochter dann wieder hinein. Die Uhr auf dem Kamin zeigte jetzt ein Viertel nach Elf. Victoria mußte schon da sein. Sie nahm das Kind und mit tappenden Schritten ging sie über den unbeleuchteten Gang die finstere Treppe hinunter, ein Wolltuch in der Hand, bereit, den Mund des Säuglings damit zu bedecken, falls er zu weinen beginnen sollte. Hinter ihr schritt Maigret, der vor dem Verlassen der Stube noch das Fenster weit geöffnet und der Schlummernden ein in kaltes Wasser getauchtes Handtuch auf die Stirne gelegt hatte.

Im Salon wartete schon Victoria. Wortlos hielt Frau Bourrat ihr das kleine Bündel entgegen und drückte ihr einen Briefumschlag in die Hand, den sie aus ihrem Korsett hervorgeholt hatte. Der Arzt war schon, ohne von der Bäuerin gesehen zu werden, aus dem Hause geschritten. Die beiden Wagen standen an der vereinbarten Stelle. Herr Bourrat selbst hatte so leise wie möglich die Pferde angeschirrt und die Wagen hinausgeführt. Der Stallknecht, derselbe gebrechliche, halbtaube Mann, der jetzt auch die Gartenarbeit versah, hatte in seinem ersten Schlummer nur ein schwaches Knirschen von Lederzeug vernommen. Er meinte, daß der Doktor nun nach Valleyres zurückkehre und war beruhigt wieder eingeschlafen. Frau Bourrat folgte Victoria bis zur Gartenpforte. Die Nacht war so schwarz und undurchdringlich, wie man es nur wünschen konnte, ein schwerer, feuchtkalter Wind blies vom Westen. Im Schritt verschwanden beide Wagen in der Dunkelheit. Frau Bourrat wandte sich zum Hause zurück, noch viel Arbeit lag vor ihr.


Als Fräulein Bourrat wieder zu sich kam, dauerte es lange, bevor sie sich in die Wirklichkeit zurückfand. Die frische Luft vom Fenster her strich über ihr Gesicht; sie war ganz willenlos, müde und so erschöpft, daß es ihr selbst um den Preis ihres Lebens nicht möglich gewesen wäre, auch nur die Hand zu heben. Und doch fühlte sie es wie eine Erleichterung, als hätte man ein schweres Gewicht, das auf sie niedergedrückt hatte, von ihr genommen. Nur die Haut um Mund und Nase schmerzte wie verbrannt. Dann kam ihr die Erinnerung an einen beißenden Geruch und jetzt verspürte sie ihn wieder rings um sich, aus dem Bett aufsteigen, von den Wänden auf sie eindringen ... Sie vermochte ihm nicht zu entgehen. Ihre Lider klebten schwer auf den Augen ... Was war bloß das Kalte auf ihrer Stirn? Ein Tropfen rann langsam über Schläfe und Hals und versickerte in den Haaren. Mühsam öffnete sie die Augen.

Was sie vor sich sah, vermochte ein Ordnen ihrer Gedanken nicht zu erleichtern. Vor einem großen Waschtrog, nahe beim Fenster, kniete ihre Mutter. Sie hatte sich des Mieders und der Bluse entledigt und mit heftigen Armbewegungen wusch sie Wäsche in dampfendem Wasser. Die Petroleumlampe vom Tische her beleuchtete diese seltsame Szene mit matten Strahlen. Oft, wenn ein Windstoß durchs Fenster drang, zuckte die Flamme auf und war nahe daran zu erlöschen. Doch rastlos fuhr Frau Bourrat in ihrer Arbeit fort. Ihre Tochter sah sie die Wäsche auswinden und über den Fensterrahmen breiten. Was mochte dies zu bedeuten haben? Es schienen Leintücher zu sein.

Fräulein Bourrat schloß wieder die Augen. Als sie nach langer Zeit abermals aufblickte, kniete ihre Mutter nicht mehr, sie stand jetzt aufrecht vor dem Trog und versuchte vergeblich, ihn zu heben. Endlich griff sie nach einer Blechkanne, die beim Waschtisch stand, füllte sie mit dem siedenden Wasser aus dem Trog und verschwand durch die Tür, die sie offenließ. Der Luftzug, der Fräulein Bourrats Gesicht traf, ließ sie erschauern. Die Lampe am Tisch zuckte auf und qualmte dann in winziger Flamme. Frau Bourrat kehrte nach kurzer Zeit zurück, um noch dreimal mit der gefüllten Kanne den gleichen Weg zu gehen. Dann endlich konnte sie den halbgeleerten Waschtrog aufheben, um ihn hinauszutragen, und als sie langsam beim Bett vorüberging, vermochte Fräulein Bourrat hineinzublicken. Was sie sah, war rot, rot wie Blut ... Diesmal blieb ihre Mutter länger draußen und als sie zurückkam, waren ihre Hände leer. Jetzt begann sie mit einem Scheuertuch unermüdlich den Boden zu reiben.

Fräulein Bourrat gab es auf, die Gründe für diese ungewöhnliche Handlungsweise ihrer Mutter zu erforschen, sie war zu müde, um nachzudenken, wie ein Brechreiz lag es in ihrer Kehle, ein Summen erklang ihr in den Ohren. Willenlos schlummerte sie wieder ein. Willenlos erwachte sie später von neuem. Allmählich drangen einige Lichtstrahlen in ihre verworrene Gedankenwelt. Sie sah den alten Doktor wieder über sich gebeugt, wie er ihren Kopf in die Polster preßte ... Ja, sie hatte viel gelitten. Doch sie wußte gar nicht mehr, was es wohl gewesen war, nur dumpfe Schmerzen lagen in allen ihren Gliedern, als wäre sie geprügelt worden. Ihre Gedanken wurden allmählich klarer und plötzlich kam ihr das ganze durchlebte Drama voll zu Bewußtsein. Ein schmerzlicher Seufzer verließ ihre Lippen. Die Mutter, mit einem Glas in der Hand, trat an das Bett. Immer noch hatte sie ihren harten Blick.

»Trink«, befahl sie.

Fräulein Bourrat hob mühevoll den Kopf und schluckte einige Tropfen heißen Grog.

»Ist es vorüber?« frug sie mit matter Stimme.

Ihre Mutter nickte, ohne sie anzublicken.

»Wo ist es?« flüsterte sie noch schwächer als zuvor.

Frau Bourrat zuckte die Schultern.

»Darum bekümmere dich nicht. Niemals mehr soll davon die Rede sein.«

Fräulein Bourrat stöhnte gequält wie ein wundes Tier. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Ihre Mutter aber war schon wieder an die Arbeit zurückgekehrt. Jetzt nahm sie das feuchte Bettzeug vom Fenster und hängte es in den Schrank. Sie brachte noch am Waschtisch alles in die gewohnte Ordnung und ließ ihre Blicke prüfend durch das Zimmer gleiten. Nichts war verändert, alles stand wieder an seinem Platz. Nur ein durchdringender Geruch wollte nicht aus der Stube weichen. Frau Bourrat versuchte, ihn durch Zucker, den sie auf einer Schaufel verbrannte, zu vertreiben. Dann gab sie ihrer Tochter nochmals zu trinken, verließ wortlos die Stube, die sie von außen versperrte und ging in ihr eigenes Zimmer.

Es war drei Uhr morgens geworden, selbst sie war jetzt erschöpft. Ihr Mann mußte jeden Augenblick zurückkehren. Sie dachte an seine Fahrt durch die Nacht; kein Mensch konnte ihn erkannt haben. Um halb zwei mußte er an seinem Ziel angelangt sein, Victoria würde allein den Bahnhof betreten haben, um drei Uhr fuhr der Zug ab, den sie benutzen sollte – von dieser Seile drohte keine Gefahr mehr, alles war, wie sie es vorbestimmt hatte, verlaufen und auch im stillen Hause konnte keines der Mädchen, deren Zimmer in einem entlegenen Flügel im Dachstock lagen, das ungewöhnliche Kommen und Gehen bemerkt haben. Die Geräusche aus dem Zimmer ihrer Tochter waren gewiß nicht durch die sorgfältig verhängte Tür gedrungen. – In diesem Augenblick fuhr sie zusammen: Ein Pferd wieherte im Hofe. Frau Bourrat erzitterte. Das ganze Haus mußte es gehört haben. Der Stallknecht konnte nachsehen kommen. Wie sollte man diese späte Heimkehr ihres Mannes erklären? Eine ganze Geschichte müßte man ersinnen, in der Küche und auf den Feldern würde sie Gesprächsstoff sein, ein Nichts konnte Verdacht wecken. Frau Bourrat wagte nicht, sich zu rühren. Das Pferd war indes schon wieder verstummt. – Der alte Gärtner in seiner Dachstube war wohl erwacht, doch meinte er, das Pferd sei nur im Stall unruhig geworden, er drehte sich, über die Störung fluchend, auf die andere Seite und schlief sogleich wieder ein. Herr Bourrat hatte behutsam ausgespannt, das Pferd sorgsam abgerieben und war dann ins Schlafzimmer hinaufgestiegen. Er beruhigte seine vor Schreck erstarrte Frau, es hätte sich ja niemand im Hause gerührt ...

In ihrem dunklen Zimmer eingesperrt, erschöpft und müde, lag Fräulein Bourrat. Große Tränen rannen unaufhörlich über ihre Wangen und selbst sie zu trocknen fehlte ihr die Kraft. Endlich schlief sie, von Mattigkeit überwältigt, ein.

Als Erste im Hause war Frau Bourrat am nächsten Morgen wieder auf den Beinen. Sie begann damit, das Zimmer ihrer Tochter nochmals zu lüften und auszuräuchern, denn solange noch Spuren jenes verräterischen Geruches zu bemerken waren, konnte man nicht wagen, Josephine eintreten zu lassen. So sagte sie ihr, daß Fräulein Bourrat eine Nervenkrise als Folge ihrer Blutarmut und Schwäche gehabt habe, daß der Arzt ihr eine Morphiuminjektion hätte machen müssen und daß sie, Josephine, die Einzige im Hause sei, die davon erfahre, da man ihrer Verschwiegenheit sicher wäre. Das Stubenmädchen, geschmeichelt von so viel Vertrauen, konnte sich mit Klagen über das bedauernswerte Fräulein nicht genug tun. Es kam ihr übrigens nicht in den Sinn, auch nur im mindesten Verdacht zu schöpfen. Erst am zweiten Tage betrat sie das Zimmer von Fräulein Bourrat, und als sie ihr armes Fräulein, ein wahres Bild des Jammers, bleich, matt und, wie sie meinte, mit fieberentzündeten Lippen, in ihrem Bett liegen sah, begriff sie die übertriebene Vorsicht, mit der man das Fräulein umgab, da sie doch wirklich so sehr krank war.

Dr. Maigret kam während einiger Tage nach seiner Patientin zu sehen. Er war zufrieden, alles ging seinen normalen Lauf. Zwei Wochen später lehnte Fräulein Bourrat schon auf dem Sofa und erhielt den Besuch ihrer Basen. Die Tanten plauderten mit der Mutter, und Frau Bourrat flüsterte ihnen unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit einige Andeutungen ins Ohr. Man hörte die Worte: Blutarmut, Nervosität und schließlich als größtes Geheimnis: Heirat. Und auch Maigret, wenn man mit ihm von der Kranken sprach, zuckte bedeutungsvoll die Achseln. Ja, eines Tages, als Frau Louis Vertot in ihrer Neugier doch Näheres wissen wollte, da brummte er eine jener zynischen Bemerkungen, wie man sie von ihm zu hören gewohnt war, in ihr lüsternes Ohr und sie verfehlte nicht, diese pikante Äußerung brühwarm im ganzen Ort zu verbreiten:

»Fräulein Bourrat ist nicht weniger beisammen als Sie und ich. Was ihr fehlt, ist ein Mann und die Gelegenheit Kinder zu kriegen. Sonst nichts.« –

Traurig war die Genesung von Fräulein Bourrat. Wieviel Stunden verbrachte sie einsam oder in Gesellschaft ihrer Mutter! Frau Bourrat blieb auch jetzt noch stumm und eisig. Ihre ganze Haltung war ein einziger Vorwurf. Ihre düsteren Augen, ihr zusammengepreßter Mund, ihre knochige, gebogene Nase, jede Falte ihres verwitterten Gesichtes erzählten von der Demütigung, die sie durch Schuld ihrer Tochter erlebt hatte, von den beschämenden Arbeiten, die sie ihretwegen hatte verrichten müssen und verkündeten den unverrückbaren Willen, nichts von alledem zu vergessen.

Nur in ihrer Gegenwart fühlte Fräulein Bourrat sich schuldbeladen. Sobald sie allein blieb, wurden ihre Gedanken weniger peinigend. Sie war sich nicht bewußt, dies alles gewollt zu haben. Es war ihr wie Menschen ergangen, von denen sie hatte sprechen hören, die, unter dem Zwang eines Magnetiseurs stehend, obgleich wach, doch Dinge tun, die nicht ihrem freien Willen entspringen und für die sie keine Verantwortung tragen. Eine blinde unwiderstehliche Gewalt hatte sie in die Arme jenes Mannes gestoßen. Wie hätte sie Bedenken haben sollen? Wußte sie doch nicht, wohin sie ging.

Der unversöhnliche Zorn ihrer Mutter blieb ihr unverständlich. Wohl begriff sie, von welcher Wichtigkeit es war, ein solches Erlebnis geheim zu halten und daß es Gebot sei, den Namen Bourrat vor jedem Skandal zu behüten. Ohne zu überlegen, gab sie die Pflichten auferlegende, geachtete Stellung zu, die ihre Eltern genossen. Ja, die Bourrats gehörten wahrlich zu jenen wenigen Familien des Landes, die sich ihren Namen seit Jahrhunderten durch ein untadeliges Leben verdient hatten und dieser Name durfte durch sie nicht geschmäht werden. Alles dies stand fest. Aber der Fehltritt war doch geheim geblieben, niemand würde jemals Verdacht schöpfen. Warum also vermochte ihre Mutter, die doch jetzt beruhigt sein mußte, ihren Zorn nicht zu vergessen? In den ganzen sieben Monaten, die sie in quälendem Alleinsein mit ihr hatte verbringen müssen, war kein anderes Wort von ihr zu hören gewesen, als Befehle oder Ermahnungen.

Darum war auch Fräulein Bourrat glücklich, wenn die Mutter nicht neben ihr faß, wenn sie mit ihren Gedanken allein sein durfte. Dann träumte sie von dem kleinen Wesen, das dagewesen und wieder verschwunden war. Wie seltsam, wie bitter war es doch: sie hatte das Kind, das sie zur Welt gebracht, nicht einmal gesehen! Es war gekommen, während sie schlief und ehe sie noch erwachte, war es wieder fortgegangen. Fortgegangen? Hinter diesem Wort lag ein Schleier, den sie nur zagend betastete. War der gräßliche Maigret nicht auch imstande, so ein wehrloses Wesen am Weiterleben zu verhindern? – Doch nein, sie fühlte, das würde er nicht gewagt haben – nein, gewiß hatte man das arme Kind weit fort von Prévoux in Pflege gegeben. Doch wie dies geschehen war, das vermochte sie nicht zu erraten, sie ahnte nichts von der Rolle, die Victoria dabei gespielt hatte.

Nach Tagen und Nächten ruhelosen Grübelns und Zögerns faßte sie endlich den Mut, ihre Mutter zu fragen. Frau Bourrat verweigerte schroff jede Auskunft. Vergeblich flehte Fräulein Bourrat; die Mutter blieb verschlossen. Denn ihrer Meinung nach war dies die einzige Möglichkeit, ihre Tochter daran zu hindern, später einmal irgendwelche unbedachte Schritte zu tun, die sie alle verderben könnten. Fräulein Bourrat klagte und weinte umsonst. Sie vermochte sich nicht mit dem Gedanken zu befreunden, daß man ihr das Kind für immer genommen habe. Oh, sie hätte gar nicht verlangt es bei sich zu behalten, so weit wagten selbst ihre Wünsche sich nicht, doch sie hätte es in der Nähe haben wollen, um es wenigstens von Zeit zu Zeit zu sehen. – Und wieder fühlte sie, daß überlegene Kräfte in ihr Leben eingriffen, ihr Schicksal bestimmten und daß sie nichts zu tun vermochte, als ergeben den Weg zu gehen, den man ihr wies.


Am ersten Tag, als sie aus dem Bett aufstehen durfte, hoffte sie einige Augenblicke allein bleiben zu können, doch Frau Bourrat verließ sie nicht. So wartete sie bis zum Abend und als sie sicher war, daß selbst die rastlose Mutter endlich schlafe, suchte sie im Dunkel auf dem Tische das einzige Zündholz, das man ihr für die Nacht gelassen hatte. Nachdem sie es mit unendlicher Vorsicht entflammt hatte, zündete sie die Kerze an. Dann entstieg sie ihrem Bett und ging zu dem großen Schrank, dessen Tür sie behutsam öffnete. Sie hob das Papier, das eines der obersten Fächer bedeckte und holte aus dem hintersten Winkel ein flach zusammengedrücktes Päckchen hervor, das sie dort versteckt gehalten hatte. Auf schwankenden Beinen, ermüdet von dem langen Stehen, schlich sie in ihr Bett zurück. Sie entfaltete das Päckchen, es enthielt ein winzigkleines, gestricktes Kinderleibchen. Es war das seltsamste Leibchen, das es wohl jemals gegeben hatte, denn kunterbunt waren Wollreste von allerlei Farben darin verarbeitet. Hätte doch Fräulein Bourrat niemals ohne Wissen ihrer Mutter ein Strähnchen weißer Wolle in der Stadt kaufen können und so war sie gezwungen gewesen, von ihrer Handarbeit unauffällige Restchen abzusparen, um für ihr Kindchen sorgen zu können. Mühsam hatte sie die kleinen Endchen, in denen alle Farben ihrer Arbeit vertreten waren, miteinander verknotet und immer nur, wenn ihre Mutter für einige Augenblicke aus dem Zimmer gegangen war, hatte sie es wagen können, an dem bunten Kleidchen weiterzuarbeiten. Doch niemals war ihr der Gedanke gekommen, wie lächerlich so ein buntgewürfeltes Leibchen voll Knoten aussehen müsse und auch jetzt empfand sie dies nicht. Sie dachte nur an die vielen angstvollen Stunden, die sie daran gearbeitet hatte, gespannt lauschend, immer bereit, beim geringsten Geräusch, das sich näherte, die verbotene Arbeit in ihrer Bluse verschwinden zu lassen. Sie hatte darauf gerechnet, wenn die Stunde nahe sein würde, es ihrer Mutter zu übergeben, damit sie das kleine Wesen darein kleide, um es gegen die Winterkälte zu schützen. Doch immer wieder hatten die drohenden Blicke der Mutter sie zurückgeschreckt und ihr letzter Gedanke, als der böse Doktor mit dem drohenden Taschentuch sich ihr näherte, hatte noch dem Päckchen gegolten, das im Schranke versteckt lag. Sie hatte zu sprechen versucht, es war zu spät ...

An diesem Abend hielt sie das kleine Leibchen ausgebreitet in ihren Händen. Sie preßte es gegen ihre Brust, sie sprach flüsternd zärtliche Worte zu ihm, die ihr selbst ganz neu waren und die sie weinen machten, und dann schlief sie ermattet ein, während ihre Tränen noch weiter flossen und sie die bunte Wolle noch zärtlich umfaßt hielt, als wiege sie das Kind selbst, das man ihr genommen hatte, in den Armen ...

Am nächsten Morgen, als ihre Mutter zum Frühstück hinuntergegangen war, warf sie das Kleidchen in den Kamin, in dem ein helles Feuer brannte.


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