Liebesgeschichten aus der Provinz

Indessen war Fräulein Bourrat bald wieder vollkommen hergestellt. Sie zeigte sich mit ihrer Mutter wieder in Valleyres, begleitete sie bei ihren Besuchen und überall war man von ihrem vortrefflichen Aussehen entzückt.

Zu ihrer größten Verwunderung lud Frau Bourrat während der Osterferien die befreundete Jugend, ihrer Genesung zu Ehren, zum Abendessen. Ihre beiden Cousinen kamen, Marie Vertot, Laura Maigret und Henriette Brière. Von jungen Männern waren, außer ihren beiden Brüdern, ein Vetter Bourrat, der aus Paris für die Ferien nach Vermand gekommen war, Moritz Lanterle, der noch nicht achtzehn Jahre alt war und schließlich Herr Nikolaus Allemand anwesend, dessen Gegenwart bei dem weiblichen Teil der Gesellschaft gewaltiges Aufsehen erregte.

Herr Nikolaus Allemand gehörte nicht zur Bürgerschaft von Valleyres. Erst wenige Jahre war er in dieser kleinen Stadt ansässig. Von wo er kam, wer seine Familie war – man mußte es nicht. Herr Allemand war die Verschwiegenheit selbst. Doch er erfreute sich der besonderen Gunst des Herrn Pfarrers, dem er nach seiner Ankunft einen Besuch abgestattet hatte. Herr Allemand hatte eine kleine aus drei Zimmern bestehende Wohnung genommen und bald sah man einen Möbelmagen vor dem Häuschen halten. Die Einwohner von Valleyres wollten kaum ihren Augen trauen: ein Fremder, der sich in ihrer Stadt niederließ, das war ein seltenes Erlebnis. Und gar ein junger Mann! Wahrlich, das war noch nicht dagewesen. Niemals noch ist ein Mensch sorgsamer beobachtet und belauscht worden, als Herr Nikolaus Allemand in Valleyres. Doch er lieferte der allgemeinen Neugier wenig Nahrung. Er ging niemals ins Kaffeehaus, er ging nicht auf die Jagd, er verbrachte, wie so viele andere Rentner von Valleyres, seine Tage, die zugleich inhaltlos und voll Geschäftigkeit waren. Die Zeit verging mit regelmäßiger Wiederholung der täglich gleichen Nichtigkeiten. Die größte Neigung schien er für geschichtliche Forschungen zu haben, doch fehlte es ihm an Bildung und Verstand. Um acht Uhr früh konnte man ihn täglich bei der Messe finden, dann eilte er nach Hause, wo er zwei Stunden damit verbrachte, in Hefte, die er zu diesem Zweck besonders angelegt hatte, die Geburts- und Todesdaten sämtlicher Könige Frankreichs und aller berühmten Männer ihrer Regierungszeit zu verzeichnen. Nach Tisch machte er den üblichen Spaziergang der Notabeln des Städtchens – die Runde um den Marktplatz – und mit dem Glockenschlage zwei betrat er den Saal der Stadtbibliothek.

Denn Valleyres hatte eine Bibliothek, die den Stolz des Städtchens bildete und die ihm eine gewaltige Überlegenheit über Villeneuve und Chateauvieux gab, zwei Nachbarstädte, die, obgleich größer als Valleyres, doch keine Bibliothek besaßen. Die Bibliothek von Valleyres gehörte zur Hälfte der Stadt, zur Hälfte jenen Familien, die die Nachkommen der seinerzeitigen Stifter waren. So war es auch abwechselnd die Stadt und die Familiengruppe, die den Bibliothekar, dem sein Amt auf Lebensdauer übertragen wurde, wählte. Solange die Majorität des Gemeinderates konservativ gewesen war, ging alles gut. Seit fünfzehn Jahren aber war die Stadt in der Gewalt radikalerer Parteien und als Herr Bärbel, der ehrenwerte Bibliothekar, gestorben war, hatte der Gemeinderat, an dem damals die Reihe war, zu seinem Nachfolger den Ketzer Mailleser bestimmt. Entrüstet mußten die Honoratioren von Valleyres dies mitansehen. Wie, ein Jakobiner sollte jetzt in den Archiven der Stadt wühlen, in denen auf jedem Akt die alteingesessenen Namen der Vertot, der Bourrat, Maigret, Lanterle, Duret und all der anderen verzeichnet waren? Es war nur ein Glück, daß diese Familien wenigstens in dem Ausschuß, der die Neuanschaffungen für die Bibliothek zu genehmigen hatte, noch die Majorität behielten. Die Bibliothek von Valleyres war zu Frommen der rechtgläubigen Bürger bestimmt. Allerdings, dies muß zugegeben werden, fanden sich auch einige Bände aus dem achtzehnten Jahrhundert in ihr, die nicht gerade nach orthodoxem Geschmacke waren. Sie waren ein Geschenk, das seinerzeit einmal ein Maigret gestiftet hatte, der, ein Spötter, ein Zweifler und ein Schürzenjäger gewesen sein soll, für dessen Sünden die Familie aber seither viel Buße getan hatte. Man vermochte diese Bücher nicht verschwinden zu lassen, denn die Wachsamkeit der städtischen Vertreter im Ausschuß vereitelte alle derartigen Versuche, die vom besten Willen erfüllt gewesen waren. Doch wenigstens eine fromme Seele hatte sich gefunden, die einige Jahre ihres irdischen Lebens damit ausgefüllt hatte – und dadurch die Zeit des Fegefeuers um vieles zu verkürzen hoffte – alle unpassenden Stellen in den Bänden des seligen Maigret sorgsam mit Tinte zu überstreichen, um sie unleserlich zu machen. Candide fand sich auf diese Weise auf zwanzig Seiten, die aus unzusammenhängenden Teilen bestanden, verkürzt.

In dieser Bibliothek nun verbrachte Herr Allemand seine Nachmittage. Er liebte den Duft altertümlicher Dinge, jeder Pergamentbogen wurde von ihm ehrfurchtsvoll angefaßt, eine einzige Zeile einer alten Handschrift vermochte ihn durch Stunden zu fesseln; denn seine ganze Natur war langsam und schwerfällig und überdies fehlte ihm jede paläographische Erfahrung. Indessen erwarb er nach und nach – die Zeit spielte ja in Valleyres keine Rolle – eine gewisse Übung. Und es dauerte gar nicht allzu lange, da verstand er seine Kenntnisse in geschickter Weise zu verwenden, um die wohlwollende Achtung der Honoratioren der Stadt zu gewinnen. Wenn er in den alten Schriften über die eine oder andere der angesehenen Familien etwas Bemerkenswertes aufgestöbert hatte, dann teilte er dies dem Herrn Pfarrer mit, der sich beeilte, es in angemessener Form, die den Ruhm Herrn Allemands gebührend unterstrich, den Betreffenden zur Kenntnis zu bringen.

So gelang es Herrn Allemand, nach zweieinhalbjähriger Arbeit mühevollen Forschens einen Akt aus dem Jahre 1584 zu entdecken, der einen Kaufvertrag enthielt, wonach ein gewisser Nikolaus Vertot den herrschaftlichen Besitz von Vouzins erworben hatte. – Besagter Nikolaus Vertot war ein Wucherer, der die Unruhen seiner Zeit und das Aussterben der älteren Linie der Vouzins geschickt ausnützte, um sich zu einem Spottpreis dieser Herrschaft zu bemächtigen. Allerdings war er einige Jahre später, als Béarnais die Ordnung im Königreiche herstellte, genötigt, seine Beute wieder herzugeben. – Immer schon hatten die Vertot behauptet ein Recht dazu zu haben, ihrem Namen das Prädikat »von Vouzins« beizusetzen, doch sie taten, als würde ihnen nichts daran liegen, als hätte ihr altehrwürdiger Name Vertot es nicht nötig, durch ein Prädikat geschmückt zu werden und eine geringschätzige Geste begleitete jedesmal die Erwähnung der Grafen Vouzins-Baufflers, dieser im Vergleich zu ihnen doch so lächerlich jungen Generation, die ihr Vermögen schließlich bloß Hofintriguen verdankte. Man vermag sich die Genugtuung auszumalen, die ihnen die Entdeckung jenes Kaufvertrages aus dem Jahre 1584 bereitete! Doch wie groß auch ihre Freude war, sie verbargen sie sorgfältigst, um nur ja nicht durchblicken zu lassen, daß sie jemals an ihrem guten Rechte hätten zweifeln können. Herrn Allemand aber pflegten sie seit seinem Fund, wenn sie ihm in der Kirche oder auf dem Marktplatz begegneten, zuerst und ein wenig tiefer, als es sonst ihre Gewohnheit war, zu grüßen.

Eine andere Entdeckung des Herrn Allemand betraf die Familie Griolle. Von diesem Geschlecht gab es nur noch eine Überlebende, eine alte Dame, die mit Herrn Franz Maigret, dem Vater von Julius Maigret und von Frau Bourrat aus Prévoux verheiratet gewesen war. Auch die Griolle zählten zu den Familien von Ansehen und Rang. Der Akt, den Herr Allemand, diese Familie betreffend, fand, stammte aus dem Jahre 1498 und übertraf um fünfzig Jahre den ältesten Akt, in dem der Name Duret Erwähnung fand, obwohl sich die Durets bisher immer als die älteste Familie der Stadt betrachtet hatten. Die Maigret fanden sich nicht vor 1602, die Bourrat erst 1615 in den Akten. Allerdings tat Herr Allemand dessen keine Erwähnung, daß er gleichzeitig auch Dokumente gefunden hatte, die sogar aus dem vierzehnten Jahrhundert stammten und die Namen Frappart und Langlois enthielten; denn die Nachkommen dieser Familien gab es nur noch in den niedersten Schichten der städtischen Bevölkerung, und Herr Allemand sah keine Veranlassung, sie darüber aufzuklären, daß in Wahrheit ihnen der ruhmreiche Titel gebührte, den wirklich ältesten Familien der Stadt zu entstammen. Nur das Dokument, das die hochangesehene Familie Griolle betraf, behielt er nicht für sich. So kam es, daß Herr Nikolaus Allemand durch den Pfarrer der Witwe des Familienoberhauptes Maigret vorgestellt wurde, die ihn einlud, acht Tage später den Abend bei ihr zu verbringen. Damit war der findige Herr Allemand in die Gesellschaft von Valleyres aufgenommen und es war ein einzig dastehender Fall, daß ein Fremder nach nur vierjährigem Aufenthalte in der Stadt in den Kreis der Honoratioren Eingang gefunden hatte.

Herr Nikolaus Allemand fuhr in seinen nützlichen, leidenschaftlichen Forschungen geduldig fort und man gewährte ihm, als einem Mann von verläßlichem Charakter, Zutritt in die Familien von Valleyres, bei denen er wohl nicht Anspruch darauf erheben konnte, als gleichberechtigtes Mitglied behandelt zu werden, die ihm aber immerhin aus Rücksicht für seine verdienstliche Arbeit und die Achtung, die er der Vergangenheit zollte, mit geziemendem Wohlwollen gegenüberstanden. Frau Julius Maigret, die in allen gesellschaftlichen Fragen tonangebend war, weil sie, sorgfältig auf alle Umstände Bedacht nehmend, auch in den heikelsten Fällen den richtigen Ausweg zu finden wußte, lud ihn für einen Abend zu einer Whistpartie ein, ohne ihn indes auch zum Abendessen zu bitten, das vielmehr schon vor der Stunde, die für sein Erscheinen festgesetzt wurde, beendet war.

Und bald ward ihm auch ein anderer Lohn für seine Mühe. Herr Mailleser, der Bibliothekar, verschied unerwartet und die Nachkommen der Stifter, auf die diesmal die Neuwahl fiel, beriefen einstimmig Herrn Nikolaus Allemand zu seinem Nachfolger. Auf diese Weise sah Herr Allemand sein Einkommen, das bisher aus fünfzehnhundert und etlichen Francs bescheidener Renten bestanden hatte, durch die Bezüge, die die Stelle des Bibliothekars abwarf, mehr als verdoppelt; doch auch jetzt pflegte man ihn noch nicht anders, als zum schwarzen Kaffee einzuladen.


So traf ihn die Karte der Frau Bourrat, die ihn zum Souper bat, recht überraschend. Wuchs doch das kleinste Ereignis im seichten Provinzleben von Valleyres zu ungeahnter Bedeutung – wie erst diese Einladung, die gewiß nicht zu den kleinen Ereignissen gezählt werden konnte!

Herr Allemand hatte vier Jahre im Orte verbracht, nicht ohne zu bemerken, daß die alteingesessenen Familien, mit deren Stammbaum er sich befaßte, Töchter besaßen, Töchter, die im Städtchen blieben, während Söhne und Neffen in die Fremde zogen, um nicht mehr in die enge Heimat zurückzukehren. Nikolaus Allemand fühlte wohl seine eigene Unwürdigkeit. Was vermochte er den zwei oder drei Jahrhunderten hochangesehenen Bürgertums, das die Vertot, die Bourrat, die Maigret in den Archiven der Stadt nachzuweisen vermochten, gegenüberzustellen? – Nichts leider als seine eigene Person! Denn dieser Mann, wie geschickt er auch sein mochte, um für andere Vorfahren aufzustöbern, vermochte für sich selbst nicht einmal den eigenen Vater ausfindig zu machen. Er war von Mönchen in Lyon bescheiden erzogen worden, hatte Schreibarbeiten und Rechenarbeiten für sie besorgt, bis eines Tages, als er zweiunddreißig Jahre alt war, der Prior ihm eine kleine Summe Geldes mit dem Rat einhändigte, deren Zinsengenuß in einem wohlfeilen Provinzstädtchen in beschaulicher Ruhe zu verzehren. Er hatte ihn an seinen Freund, den Pfarrer von Valleyres, gewiesen und diesem seinen Schützling in einem vertraulichen Schreiben besonders ans Herz gelegt.

Doch andererseits wieder war es Herrn Allemand auch nicht entgangen, wie die Blicke der Mädchen in den Häusern, in denen er verkehrte, an ihm haften blieben. So hatte sich Fräulein Lucie Maigret, die gute fünf- oder sechsundzwanzig Lenze zählte, von ihm die Genealogie ihrer Familie eingehend erklären lassen und Fräulein Helene Vertot, eine pikante Brünette von achtundzwanzig Jahren, mit einem leichten Schnurrbartanflug allerdings, hatte ihn gebeten, sie in der Heraldik zu unterweisen. Die Eltern, beruhigt durch das Äußere Herrn Allemands, das alles eher als einnehmend genannt werden konnte, hatten in all dem nichts Unschickliches gesehen.

Denn Herr Allemand war ungemein häßlich. Er war dick und unbeholfen in jeder seiner Bewegungen: seine allzu kurzen Arme endeten in übergroßen Händen, sein Gesicht war bleich und glänzte fettig, seine gelblichen Haare sträubten sich erfolgreich gegen jeden Versuch, sie in eine Scheitelfrisur zu zwingen und seine Kleider verrieten jedem oberflächlichen Betrachter, daß sie nicht nach Maß gemacht worden seien. – Und doch mußte irgendetwas anziehend an ihm wirken. Waren es seine Augen, die wohl klein waren, aber lebhaft funkelten? War es ein gewisser Eindruck von Kraft, der von diesem schweren Körper ausstrahlte? – Es ist schwer zu entscheiden, doch irgendwo mußte wohl der Grund liegen: denn sonst wäre die Aufmerksamkeit unverständlich gewesen, mit der alle die Mädchen ihm zuhörten. Er sprach übrigens mit achtungsvoller Bescheidenheit zu ihnen. Und seine vorsichtigen Blicke verrieten, wo man ihn erzogen hatte.


Ein wenig vor sieben Uhr erschien er an jenem Abend in Prévoux. Frau Bourrat empfing ihn liebenswürdig, stellte ihn ihrer Tochter vor und lieh dann beide einige Augenblicke allein, um noch die letzten Anordnungen in der Küche zu treffen.

Es war das erste Mal seit ihrer langen Einsamkeit, daß Fräulein Bourrat allein einem Manne gegenüberstand. Das arme Mädchen wußte vor Verlegenheit nicht, wie sie sich benehmen solle. Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich durch ihr Erlebnis etwas an ihr verändert und als mühte dies jeder Mann augenblicklich erkennen. Doch Herr Nikolaus Allemand war vollendet in seiner bescheidenen Zurückhaltung. Seine halblaute Stimme verstand es so geschickt sich in farblosen Gemeinplätzen zu ergehen, daß Fräulein Bourrat ihre zitternde Scheu bald überwand. Sie wagte sogar, einen flüchtigen Blick auf ihn zu werfen und bemerkte erleichtert, daß seine Augen gesenkt blieben. Dafür war sie ihm so dankbar, daß sie sich einbildete, einen gütigen Ausdruck an ihm zu entdecken.

Die anderen Gäste stellten sich ein. Alle, mit Ausnahme Herrn Allemands, waren junge Leute unter zwanzig Jahren, doch trotzdem fand dieser seinen Platz am untersten Ende der Tafel, allerdings neben der Tochter des Hauses. Er sprach zu ihr, ohne den Blick vom Rande seines Tellers zu erheben, mit gleichmäßig milder Stimme von den Reizen, die er der würdigen und befriedigenden Tätigkeit in der Bibliothek abgewann. Es war dies ein Thema, das er, seitdem er beobachtet hatte, wie es älteren Leuten gegenüber verfing, mit Vorliebe ausschmückte. Man konnte, wenn man ihm zuhörte, wahrlich glauben, daß er aus vollem Herzen dafür dankbar sei, daß man ihm gestatte, in dieser gesegneten Provinzstadt sein Leben zu verbringen. Fräulein Bourrat gewann von ihm den Eindruck eines zarten und wohlerzogenen Menschen.

Nach Tisch plauderte er – noch um ein weniges bescheidener – mit Herrn Bourrat und bezeichnete es als seinen langgehegten, sehnlichsten Wunsch, den Stammbaum der Bourrat auszuarbeiten, so wie er jenen der Vertot bereits beendet hatte. Herr Bourrat hörte ihn wohlwollend an. Es traf sich gut, daß er eine ganze Anzahl Familienpapiere in Prévoux verwahrte, sie ständen Herrn Allemand zur Verfügung, wenn er sich wirklich dieser Arbeit unterziehen wolle. Als man in den großen Salon zu den Damen zurückkehrte, wurden von den Mädchen harmlose Gesellschaftsspiele arrangiert. Man unterhielt sich mit Pfänderspielen, mit »Alle Vöglein fliegen« und, unter den wachsamen Augen Frau Bourrats, mit einem dezenten Blinde-Kuh-Spiel. Nur an der Hand durfte man einander erkennen. Fröhliches Lachen begleitete die köstlichen Irrtümer, die sich ergaben. Moritz Lanterle – sollte man es für möglich halten? – hielt die Hand Marie Vertots für jene des jungen Paul Bourrat. Auch Herr Allemand mußte sich die Augen verbinden lassen. Nach einigem Herumtappen griff er nach Fräulein Bourrat und befühlte voll zarter Sorgfalt ihre Hand. Das junge Mädchen vermochte eine gewisse Erregung, die sie bei dieser Berührung empfand, nicht zu leugnen. Endlich gab Herr Allemand seine Meinung ab. Er hatte richtig geraten.

Später, als man vor dem Aufbrechen noch Erfrischungen nahm, faßte Fräulein Bourrat Mut und sie frug Herrn Allemand, wieso er ihre Hand erkannt habe. Herr Allemand senkte den Blick und gestand, daß er sie bei Tisch betrachtet hatte.

Fräulein Bourrat errötete und zog sich zurück.


Der Stammbaum der Bourrats wuchs indes langsam und begann einen Zweig nach dem anderen auszustrecken. Herr Nikolaus Allemand war zu häufigen Besuchen in Prévoux genötigt, manchmal wurde er auch zum Essen dabehalten und eines Sonntags spielte er sogar eine Partie Croquet mit Fräulein Bourrat. Seine Ungeschicklichkeit war wohl groß, doch mangelte es ihm nicht an Kraft und wenn es ihm hie und da gelang eine Kugel wirklich zu treffen, dann verlor sie sich weitab vom Spielfeld in den Büschen.

Als mit dem Monat Mai die warme Jahreszeit begann, wurde die Gesundheit Fräulein Bourrats wieder schwankend. Frühmorgens zeigte sie dieselbe abgespannte Miene wie ein Jahr zuvor, ihr Appetit ließ nach, ihr verlorenes Vorsichhinstarren nahm zu. Frau Bourrat aber war auf ihrer Hut. Ihr Plan stand schon lange fest.

Ende Mai – Herr Allemand arbeitete jetzt jeden zweiten Tag in Prevoux und jedesmal hatte er Gelegenheit, mit Fräulein Bourrat zu sprechen – zog sie aus, um dem Herrn Pfarrer einen Besuch zu machen.

Enttäuscht verließ sie den Pfarrhof. Ihr schöner Plan war zerronnen ...

In der Woche, die nun folgte, wußte sie es so einzurichten, daß Herr Allemand bei seinen Besuchen ihre Tochter nicht mehr zu Gesicht bekam. – Doch das Befinden Fräulein Bourrats verschlechterte sich zusehends. Sie schlief wenig und unruhig und erwachte müder noch als vor dem Einschlafen. Frau Bourrat begann emsig Briefe zu schreiben. Stunden verbrachte sie, in denen sie immer wieder das gleiche, unlösbare Problem in ihrem Kopfe wälzte. Ihre Tochter mußte verheiratet werden! Sie gehörte nicht zu jenen, die ruhig zu warten vermögen, bis sie, wie Lucie Maigret, siebenundzwanzig Jahre – also schon siebenundzwanzig! – oder wie Helene Vertot achtundzwanzig Jahre alt würde. – Doch in Valleyres gab es keine Partie. Und alle Antworten, die sie auf die vielen Briefe bekam, waren entmutigend. Niemand fand sich, niemand – außer Herrn Nikolaus Allemand. Herr Allemand allerdings hatte keine Familie. Doch dies hätte ihr wenig gemacht. Die Bourrat würden es schon zuwege bringen, ihm eine Stellung in der Gesellschaft durchzusetzen. So hatte sie seit dem Frühling ihren Plan verfolgt. Doch was sie dann beim Pfarrer erfahren mußte, das war allzu niederschmetternd!

Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, wenn sie sich ausmalte, wie die Heiratsankündigung auf dem Brett der Kirche aussehen würde! »Herr Nikolaus Allemand, Sohn der verschiedenen Marie Allemand und des ...«! –

Dieser leere Fleck, der nicht zu umgehen war, bildete eine Unmöglichkeit. Ein uneheliches Kind, Vater unbekannt ... ganz Valleyres würde mit den Fingern auf sie zeigen! – Ohne das öffentlich angeschlagene Ausgebot wäre die Sache wohl noch durchführbar gewesen, aber jetzt, seit den lächerlichen Forderungen einer Gesellschaft, deren sich die Freimaurer bemächtigt hatten, war das Aufgebot nicht zu umgehen. Von der Kanzel herab hätte der Pfarrer es wohl mit dem Takt eines Weltmannes verstanden, über diesen heiklen Punkt hinwegzugleiten ... Ach, es war nicht daran zu denken.

Indessen war man schon mitten im Juni und seit vierzehn Tagen war Herr Nikolaus Allemand nicht mehr nach Prévoux gerufen worden. Fräulein Bourrat hatte die gleichen nervösen Zustände wie im vergangenen Frühjahr und während der Messe schweiften ihre Blicke immer wieder nach jener Ecke des Seitenschiffes, in der sie die gelben Haare Herrn Allemands zu sehen vermochte.

Gegen Ende des Monats bemerkte Herr Allemand eines Tages, durch das Fenster der Bibliothek blickend, Frau Bourrat, die allein im Wagen vorbeifuhr. Er folgte ihr, durch die halbgeschlossenen Laden spähend, mit den Augen. Zweifellos fuhr der Wagen nach Vermand. Ohne Zögern steckte er rasch einige Papiere zu sich und schlug den Weg nach Prévoux ein. Kurz vor vier Uhr langte er dort an. Herr Bourrat war nicht zu Hause, doch Herr Allemand drang unbekümmert in dessen Arbeitszimmer ein, wo er, wie er sagte, die Rückkehr Herrn Bourrats erwarten wollte. Das Mädchen, das ihn hier ja oft schon hatte schreiben sehen, gab sich damit zufrieden und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Kaum war Herr Allemand allein geblieben, schlug er mit heftigem Lärm die geschlossenen Läden des Fensters auf, das in den Garten ging und bemerkte, wie er erwartet hatte, auch bald Fräulein Bourrat, die unweit des Hauses auf einer Bank saß, gab sich jedoch den Anschein, als hätte er sie nicht gesehen. Er setzte sich zum Tisch.

Nach wenigen Augenblicken öffnete sich die Tür. Fräulein Bourrat trat ein und versuchte, allerdings wenig geschickt, Überraschung bei seinem Anblicke zu zeigen.

Herr Allemand erhob sich und trat zu ihr. Er nahm ihre Hand, sie errötete. Sie blickte auf ihn, doch jetzt waren seine Augen nicht mehr gesenkt und sie errötete nur noch mehr. Er richtete eine Frage an sie, in maßloser Verwirrung wollte sie entfliehen. Er hielt sie zurück, sie antwortete endlich und lief aus dem Zimmer. – Kurz danach verließ Herr Allemand, ohne weiter auf Herrn Bourrat zu warten, das Haus und ging, die Fahrstraße vermeidend, der Stadt zu.

Am Tage darauf sah man den Herrn Pfarrer, trotz Staub und Sonnenglut, den Weg nach Prévoux hinansteigen. Frau Bourrat führte hinter geschlossenen Türen ein Gespräch mit ihm, das länger als eine Stunde dauerte. Als er fortgegangen war, suchte sie ihren Mann auf, mit dem sie in wesentlich kürzerer Zeit fertig wurde. Dann endlich sprach sie noch eine halbe Stunde mit ihrer Tochter, die, als die Mutter sie verlassen hatte, schluchzend in ihrem Zimmer blieb. Den ganzen Nachmittag ging Fräulein Bourrat mit rotgeweinten Augen im Hause herum und erst abends, in ihrer Einsamkeit, begann die Freude in ihr aufzudämmern, daß sie das Elternhaus nun endlich verlassen werde.

Am zweitnächsten Tage wurde Herr Nikolaus Allemand zum Abendessen gebeten. Wie stets, verließ ihn auch diesmal seine bescheidene Zurückhaltung nicht und mit Demut nahm er das Glück entgegen, das man ihm bestimmt hatte.


Wie ein Blitz fuhr die Neuigkeit von der Verlobung Fräulein Bourrats mit Herrn Allemand auf alle Familien von Valleyres nieder – und es waren nicht wenige –, in denen sich heiratsfähige Töchter befanden. Daß man auch nicht früher an Herrn Nikolaus Allemand gedacht hatte! Jetzt hatte Fräulein Bourrat sich ihn geangelt, die kaum zwanzig Jahre zählte, während so viele Mädchen mit fünfundzwanzig Jahren und darüber in vergeblichem Hoffen zu alten Jungfern wurden! Lucie Maigret erkrankte auf die Nachricht hin.

Frau Bourrat wartete das Aufgebot nicht ab, um die Frage der Herkunft ihres künftigen Schwiegersohnes ein für allemal zu ordnen. Der Herr Pfarrer lieh ihr dazu seinen ganzen, bedeutenden Einfluß. Er flüsterte einigen seiner weiblichen Beichtkinder, die sich in Valleyres besonderen Ansehens erfreuten, selbstverständlich als strengstes Geheimnis, mancherlei vertrauliche Andeutungen zu. Doch das Geheimnis war zu aufregend, um bewahrt zu werden. Es dauerte nicht lange und die Einwohner von Valleyres raunten einander ins Ohr: »Sie wissen schon ...? Herr Allemand ...? Ja und finden Sie nicht auch, daß er ihm ähnlich sieht? – Sicher, es läßt sich nicht leugnen. Schon die Haltung, nicht? – Erinnern Sie sich noch, wie er damals vor dreißig Jahren hier in der Stadt war?« Man beneidete die Bourrat wegen der Verbindung mit einem berühmten Geschlechts, das in der Geschichte des Landes einen Ehrenplatz einnahm, wenn sie auch nur durch einen illegitimen Sprößling zustande kam.

In Wahrheit allerdings war Herr Nikolaus Allemand bloß das uneheliche Kind eines Dienstmädchens und einer stets im tiefsten Dunkel gebliebenen Persönlichkeit, deren Stellung es unmöglich machte Kinder zu haben, geschweige denn sie anzuerkennen. Doch dank der Bemühungen des Herrn Pfarrers, der das Versprechen, das er Frau Bourrat gegeben hatte, getreulich einhielt, verlor sich ganz Valleyres auf einer Spur, die bei weitem romantischer war.

Während der Verlobungszeit erhielt Frau Bourrat einmal den Besuch der alten Victoria. Sie brachte die Nachricht vom Tode eines sechs Monate alten Kindes in einem entfernt liegenden Dorfe ...

Ende August fand die Hochzeit statt. Die ganze Familie Bourrat vergoß dabei heiße Tränen.

Das junge Paar bezog eine freundliche Wohnung und der Pächter von Prévoux fand sich gemäß den Bestimmungen seines Vertrages wöchentlich mit Obst, Gemüse, Eiern, Butter und Milch bei ihnen ein, wozu noch das regelmäßige Sonntagshuhn, vier Schinken im Jahr und zu Weihnachten und Pfingsten ein Fäßchen Wein kam.

Nach angemessener Zeit gebar Frau Nikolaus Allemand ihrem Manne ein Kind und von da ab vermehrte sich die Familie regelmäßig alle zwei Jahre – Herr Nikolaus Allemand hielt in jeder Beziehung auf pünktliche Gewohnheiten – um ein neues Mitglied. Nach dem fünften Kind erkrankte Frau Allemand ernstlich und mußte von da ab auf Mutterfreuden verzichten. Sie war indes dreißig Jahre alt geworden, war stark und schwerfällig wie alle Bourrats, vergötterte ihren Mann und ihre Kinder, die sie übrigens mehr verwöhnte, als für ihre Erziehung gut gewesen wäre. Einer ihrer Brüder war gestorben und auch ihren Vater verlor sie kurz darauf. So sah die Familie Allemand ihren Wohlstand wachsen und Herr Nikolaus Allemand gehört zu den geachtetsten Mitgliedern der Gesellschaft von Valleyres – zweifellos, weil die hervorragendsten Eigenschaften seines illustren Vaters auf ihn vererbt worden waren.

Fräulein Lucie Maigret und Fräulein Helene Vertot sind alte Jungfern geblieben.

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