Liebesgeschichten aus der Provinz

Lange Wochen war der kleine Marthe schwer krank.

Von der ersten Zeit blieben ihm nur dunkle, zusammenhanglose Bilder. Ein großes Bett in einem ruhigen, hellen Zimmer, alles ringsum still ... Unaufhörliche, schmerzende Hustenanfälle ... Ein fader Geschmack auf der Zunge wie von Blut ... Und quälende Fieberphantasien, die wie ein schwerer Druck auf ihm lasteten. Dann kamen lichte Augenblicke. Er erkannte Zora, die neben seinem Bett saß, der junge Doktor Barbeau neigte sich über ihn, horchte ihn ab ...

Nach drei Wochen endlich schien die Krise vorüber. Zora pflegte ihn hingebungsvoll. Aus den Sätzen, die er in seinem Fieber hervorgestoßen hatte, wußte sie nun, daß Marthe ihr nach Maigny gefolgt war und daß er sie am Arme Batailles aus dem Hotel hatte kommen sehen. Und verwundert frug sie sich, wieso er eine Sache, die ihr selbst doch so unwesentlich schien, so tragisch hatte nehmen können. War doch ihr armer Mann schon seit nahezu zehn Jahren kaum mehr als ein Bruder ... Geschah ihm ein Unrecht, wenn sie außer Hause Befriedigung ihrer berechtigten Ansprüche suchte, die er selbst ihr nicht mehr zu geben vermochte? Schließlich war es ganz gut so, jetzt wenigstens blieb das Verhältnis von ihr zu ihm endgültig klargestellt. Die Erkrankung ersparte weitere Auseinandersetzungen ...

Mit den Kräften, die Marthe langsam wiederkehrten, kam auch die Erinnerung. Waren die furchtbaren Stunden vor dem Hotel in Maigny doch kein Traum gewesen? Er mußte wohl mit seiner Frau sprechen! Doch er fühlte sich so entsetzlich müde, von Tag zu Tag schob er es auf. Auch bedrückte ihn die Gegenwart mit nicht minder schweren Sorgen. Woher sollte er Ersatz für die großen Kosten seiner langen Krankheit schaffen? Seit Jahren schon hatte er keine Ersparnisse zurücklegen können, blieb denn überhaupt noch etwas von seinem früheren Besitz? Zora beruhigte ihn. Gab es denn nicht gute Freunde? Bald würde er seine Stunden wieder aufnehmen und alles in den gewohnten Gang kommen. Und sie mühte sich ihm begreiflich zu machen, wie töricht es sei, alles so schwer zu nehmen, die nebensächlichsten Dinge in Tragödien zu verwandeln ...

Marthe hörte ihr schweigend zu. Er war von der Aufopferung, mit der sie ihn pflegte, gerührt. Sie verließ sein Krankenbett nicht, sie setzte ihm seine Lieblingsspeisen vor, sie gab ihm alten Bordeaux zu trinken, der nach Veilchen duftete ... Er suchte sich einzureden, daß seine Frau, ohne daß eine Aussprache nötig war, begriffen habe, was er ihr hatte sagen wollen und daß die Mühe, die sie sich gab, ihrer Reue entsprang. Er suchte sich zu überzeugen, daß sie ihre Beziehungen zu Bataille abgebrochen habe und daß sie wieder die treue Gattin geworden sei, die sie ihm früher immer gewesen war.

An einem Dezembertage wurde Marthe durch das Geräusch von Stimmen aus dem Nebenzimmer aus seinem leisen Mittagsschlummer geweckt. Er glaubte den kräftigen Baß Vertots, des Hausbesitzers, zu erkennen. Was mochte der bloß wollen? Marthe erinnerte sich nicht, ihn jemals in seiner Wohnung gesehen zu haben. Er lauschte angestrengt und hörte deutlich Zoras Stimme: »Nein, nein, heute geht es nicht.« Die Männerstimme übertönte die ihre, ersticktes Kichern folgte, dann ein »Pst!«, das Zufallen einer angelehnt gewesenen Türe und lange Stille. Endlich hörte Marthe, wie die Wohnungstüre geöffnet und wieder geschlossen wurde und einen Augenblick später trat Zora in sein Zimmer, offensichtlich peinlich berührt, ihn wach zu finden und seinen fragenden Blicken zu begegnen.

»War das Herr Vertot?«

»Ja, er kam, um sich nach deinem Befinden zu erkundigen.«

»Ist er auch früher schon hier gewesen?« Marthe atmete nur mühsam.

»Aber natürlich. Er hat sehr viel Teilnahme für deine Krankheit gezeigt.«

»Du sagtest mir nie etwas davon.«

»Ach, das ist doch so belanglos.«

Marthe schwieg. Eingesunken in seine Polster überlegte er. Man sah von seinem Kopf nur die gewölbte Stirn, die schütteren Haare seines Scheitels und die grübelnden, traurigen Augen.

Marthe vermochte seine Stunden wieder aufzunehmen. Keine seiner Schülerinnen hatte ihn verlassen, doch während des ganzen Monates Januar konnte er nur bei sich zu Hause Unterricht erteilen; denn er war zu schwach, um länger als eine Stunde – am Arme seiner Frau – auszugehen.

Bei seinem ersten Spaziergang an einem sonnigen Tage, da er langsamen Schrittes, auf seine Frau gestützt, durch die Hauptstraße ging, war seine einzige Sorge, im Blicke jedes Vorbeikommenden zu lesen, was er wohl von dem Verrat seiner Frau wüßte ... Plötzlich trat Bataille aus einer Seitengasse. Zora fühlte das Zittern, das ihren Mann überlief. Herr Bataille aber zeigte keinerlei Befangenheit. Er beeilte sich, Marthes Hand zu schütteln und seiner Freude Ausdruck zu geben, daß er wieder so weit hergestellt sei. Marthe dankte müde.

»Das ist ein guter Freund,« sprach Zora, als Bataille weitergegangen war, »ihm verdanken wir auch den alten Bordeaux, der dir so wohlgetan hat.« Marthe gab keine Antwort und blieb bis zum Abend grübelnd in sich gekehrt.

Zora, die bis dahin auf dem Diwan geschlafen hatte, überraschte ihren Mann an diesem Tage damit, daß sie wieder das gemeinsame Ehebett bezog. Doch als sie sich an seiner Seite ausstreckte, wich Marthe erschrocken zurück. Er mußte an den anderen denken, der diesen gleichen entkleideten Körper neben sich gefühlt hatte und ein namenloser Ekel überfiel ihn. Er machte sich ganz klein und drückte seine Nase gegen die Wand, als ob er schon schliefe. Zora stieß ihn ein wenig mit dem Ellbogen, um ihn zu wecken. Er rührte sich nicht. Erstaunt beugte sie sich über ihn und sah, daß seine Augen weit offenstanden.

»Ja, was denn,« verwunderte sie sich, während sie ihn streichelte. Marthe rührte sich nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt, quälende Bilder von seiner Frau und Bataille standen vor seinen Augen.

Sie streichelte ihn immerwährend, mütterlich, mit leichtem, freundlichem Klopfen auf seine Schulter. Ihr Duft, jener altgewohnte Duft, der ihm die Erinnerung an die Zeit vor seiner Ehe zurückrief, erreichte ihn. Ja, es war die Zora von damals, wieviel hatte er um sie leiden müssen!

Er bemühte sich seine Fassung zu bewahren, doch seine schmerzlichen Gefühle übermannten ihn und als sie wiederholte: »Ja, was gibt es denn ...?« kehrte er sich zu ihr, verbarg seinen Kopf an ihrer Brust, schmiegte sich an sie und verzweifeltes Schluchzen schüttelte seinen Körper.

Zora bemühte sich, ihn zu beruhigen, den Grund seiner Erregung zu erfahren, doch Marthe vermochte nicht zu sprechen. Endlich schlief sie ein und er weinte noch lange still vor sich hin. – Hatte sie nun begriffen? frug er sich.

Marthe war wieder genesen. Er hüstelte wohl immer noch, doch dies war man ja schon seit Jahren an ihm gewöhnt. Er gab seine Stunden wieder außer Hause und auch seine Frau begann ihr gewohntes Leben wieder aufzunehmen.

Einmal, gegen Ende Januar, reiste sie nach Maigny, um ihre Tochter Athenais, die einen Monat Ferien gehabt hatte, dahin zurückzubegleiten. Diese Fahrt schien so selbstverständlich, daß Marthe es nicht wagte, sich dagegen aufzulehnen. Doch der Tag, an dem er Zora in der Stadt wußte, verlief ihm in qualvoll peinigenden Stunden.

Seitdem er krank gewesen, verursachte ihm der Einbruch der Nacht stets beklemmende Unruhe. Wenn man auf den Straßen die Laternen anzuzünden begann, durchlief ihn ein Schauer. Dann stand er immer, die Stirn an die Scheiben gepreßt, und starrte unbeweglich auf die zuckenden Gasflammen. Zora pflegte ihn, ohne die Erinnerungen zu ahnen, denen er nachhing, sanft vom Fenster wegzuziehen und in seinen Lehnstuhl nahe dem Kamin zu drücken. Und er ließ es demütig, willenlos geschehen.

An jenem Tage, da Zora in Maigny war, hielt er sich vom Fenster fern. Er hatte Furcht vor seinen eigenen Gedanken und wollte die Gasflammen auf der Straße nicht sehen. Er setzte sich ins Schlafzimmer, das auf den Hof ging und nahm ein Buch. Doch schon nach wenigen Minuten legte er es, außerstande ihm Aufmerksamkeit zu schenken, beiseite. Unaufhörlich sah er eine düstere Straße vor sich, durch die der Wind pfiff und drei Stufen im hellen Licht einer darüberhängenden Gaslaterne ... Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Herz hämmerte unruhig. Vor sich, in der Spiegelscheibe des Schrankes seiner Frau, begegnete er dem kummervollen, ruhelosen Blick seiner eigenen Augen. Das bleiche, zuckende Gesicht, das ihm der Spiegel zurückwarf, wurde ihm bald unerträglich. Er erhob sich und öffnete die Türe des Schrankes. Ein leichter Duft stieg daraus auf und erfüllte das Zimmer. Marthe senkte seinen Kopf, um diesen so vertrauten Duft in tiefen Zügen einzuatmen. Als er sich wieder aufrichten wollte, bemerkte er rückwärts in einem der Fächer, halbverborgen unter der Wäsche, die kleine Kassette aus Olivenholz, die seine Frau mit ihren wenigen Habseligkeiten aus Algier mitgebracht hatte. Ihr Anblick beschwor alte Erinnerungen herauf ... an jene ferne Zeit, da Zora als junges, unschuldsvolles Mädchen bei seinen alten Freunden eingezogen war, an die schönen, längst entschwundenen Tage seiner ersten Bekanntschaft mit ihr, an die friedlichen Abende im traulichen Gespräche mit den beiden Fleuriots. Er nahm die Kassette zärtlich in die Hand, um sie näher zu besehen, da fiel der kleine goldene Schlüssel, den Zora stets an einer Kette um den Hals getragen hatte, zu Boden.

Gedankenlos hob er ihn auf, gedankenlos öffnete er die Kassette. Obenauf lag ein kleines verwelktes Sträußchen weißer Blumen von einer Art, wie man sie nur in fernen Ländern kennt. Darunter fanden sich, mit einem rosa Band zusammengehalten, ein paar Briefe. Marthe begann zu lesen. Es waren Liebesbriefe, von plumper Hand unorthographisch geschrieben. Alle begannen sie mit der Anrede: »Mein kleines Weib!« Sie erzählten von den unvergeßlichen Freuden durchküßter Nächte, sie erinnerten an die getauschten Liebesschwüre, sie trösteten über eine unvermeidliche Trennung, die nur wenige Monate dauern sollte und sie versprachen eine baldige Rückkehr zur vereinbarten gemeinsamen Flucht nach Oran ... Jeder dieser Briefe war kurz, eintönig, ohne großen Wortreichtum und mehr herrisch, als verliebt. Marthe las sie mit wachsendem Staunen. An wen mochten sie gerichtet gewesen sein? Wie waren sie in Zoras Besitz gelangt? Warum wohl hatte Zora sie aufbewahrt? Als Unterschrift fand sich auf allen Briefen: »Dein Paolo.« Marthe suchte nach einem Datum. Es stand auf einem der letzten Briefe: er war im Frühjahr jenes Jahres geschrieben, in dessen Herbst das junge Mädchen nach Valleyres gekommen war. Erregt forschte Marthe weiter. Und plötzlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. Am Ende des vierten Briefes stand als letzter Satz: »Meiner kleinen, in Ewigkeit angebeteten Zora die innigsten Küsse von ihrem Paolo.« –

Als Zora abends nach Hause kam, erzählte sie ihm angeregt von ihrer Reise, von Athenais, die fröhlich ihre Freundinnen begrüßt, von der Buchhändlerin, die sie in der Stadt getroffen hatte und mit der sie die ganze Zeit beisammen gewesen war ... Marthe hörte kaum hin ... Wozu auch? Wußte er denn nicht, daß sie log? Daß sie immer schon gelogen hatte?


Seit seiner Genesung war Marthe immer stiller und schweigsamer geworden. Als schien er von Gedanken bedrückt, die allzuschwer waren, um sich in Worte fassen zu lassen. Scheu wich er allen Menschen aus, seine Augen waren stets zu Boden gerichtet, er wählte nur enge Seitengassen, in denen wenig Passanten zu treffen waren, und wenn er außerhalb der Stadt Stunden zu geben hatte, vermied er die Landstraße und suchte Pfade quer durch das Land, auf denen er der einzige Wanderer blieb.

Eines Tages, als er von den Barbeaus kommend durch die Weingärten der Stadt zuschritt, kam er an das Ufer der Ourche. Er blieb einen Augenblick stehen. Der Fluß zog zwischen den kahlen Ufern der Winterlandschaft lautlos dahin. Wie leblos ragten die dürren Zweige der Bäume in den grauen Himmel, die schmucklosen Äste spiegelten sich in den Fluten. Tiefe, wohltuende Ruhe lag über der glanzlosen, trüben Landschaft. Marthe ging bis hart an das Ufer des Flusses und sah auf das Wasser, das in gleichmäßigem, fast unsichtbarem Lauf vorbeizog. Wie feierlich und erhebend war seine Stille!

Plötzlich schreckte Marthe zusammen, er wich zwei Schritte zurück und bedeckte seine Augen mit der Hand, als wollte er sie verhindern, noch länger dort hinabzusehen, als wollte er eine allzu deutliche Vision, die vor ihm erstanden war, verscheuchen, eine Vision Sorgen enthebender Ruhe, deren unwiderstehliche Kraft er auf sich eindringen fühlte. So rasch es ihm sein mühsamer Atem erlaubte, eilte er der Stadt zu, und erst als er die Häuser von Valleyres erreicht hatte, atmete er befreit auf.

An jenem Abend fand er lange keinen Schlaf.

Am nächsten Morgen ging er zum Herrn Pfarrer, der ihn immer mit seiner Freundschaft beehrt hatte, um zu beichten. Als er die Kirche verließ, fühlte er sich ein wenig ruhiger.

Doch in Zoras Gegenwart erwachten immer wieder die Gedanken in ihm, denen zu entfliehen er sich mühte. Sie war milde, ja zärtlich, doch jede Berührung erweckte in ihm eine unüberwindliche Auflehnung. In der Nähe ihres Körpers, an dem andere Männer ihre Lust gestillt hatten, fühlte er einen Ekel, den er nicht zu bekämpfen vermochte.

Am nächsten Dienstag kündete Zora ihren gewohnten Besuch bei ihrer Tochter an; Marthe erwiderte nichts.

Erst abends, als sie schon zur Ruhe gegangen waren, verfiel Marthe in einen so heftigen nervösen Weinkrampf und flehte seine Frau so angstvoll an, ihre Reise aufzugeben, daß sie, um ihn zu beruhigen, seinem Wunsche entsprach. Indessen überlegte sie, daß dieser Zustand doch auf die Dauer unmöglich sei und sann über Mittel, die es ihr ermöglichen sollten, nach Maigny zu gelangen. – Einige Tage später langte ein Brief von Athenais an, in dem sie mitteilte, daß sie sich gar nicht wohl fühle und den ausgebliebenen Besuch ihrer Mutter forderte. Marthe las den Brief mit verstörter Miene und machte keinerlei Bemerkung dazu.

Lange betete er an diesem Tage in der Kirche, am nächsten Morgen reiste Zora in die Stadt.

Mechanisch erledigte Marthe seine Stunden. Als er um dreiviertel fünf das Haus seiner letzten Schülerin verließ, begann es zu dunkeln. Marthe schlug den Kragen seines Mantels in die Höhe und schritt, auf seinen Schirm gestützt, in tiefe Gedanken versunken, dahin. Als er sich atemschöpfend im Park umwandte, sah er in der Ferne Lichter im abendlichen Dunkel aufblitzen. »Jetzt zündet man die Gaslaternen in Maigny an,« murmelte er vor sich hin und während er seinen Weg fortsetzte, wiederholte er immer wieder gedankenlos die gleichen Worte.

Mit gesenktem Kopf schritt er immer weiter. Da wuchs zwischen der Straße und ihm plötzlich ein düsteres Bild. Er sah ein dürftiges Hotelzimmer, ein breites Bett, in dem ein Mann lag, von dem man im Halbdunkel nur die funkelnden Augen und den starken Schnurrbart unterschied. Vor dem Kamin, in dem ein Helles Feuer brannte, entkleidete sich ein Weib. Ihr Gesicht hielt sie abgewandt, Marthe konnte es nicht erkennen. Langsam fiel eine Hülle nach der anderen von ihrem üppigen Körper, nur das Hemd hatte sie noch an. Im Hintergrund leuchteten die Augen des Mannes, wie die Lichter eines gierigen Raubtieres. Als das Weib sich umwandte, um dem Bett zuzuschreiten, zeigte sie ihr Antlitz. Marthe erkannte Zora. Auch ihre Augen glühten jetzt in teuflischem Feuer.

Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, er blieb stehen und ließ mit müder Geste seine Hand über die Augen streichen. – Die Vision entschwand, und zu sich gekommen fand er sich, umherblickend, an den Ufern der Ourche.

Es war fast Nacht. Das Wasser strömte schimmernd, lautlos unter den gespenstisch in die Luft ragenden Ästen dahin. Wieder fühlte Marthe, wie vor zwei Wochen, die feierliche Ruhe, mit der ihn der Fluß anzog. Hier, zwischen den düsteren, verlassenen Ufern gab es einen Frieden, der ihn den Fieberträumen seines Lebens entriß ...

Liebevoll empfing der stille Fluß den kleinen Marthe. Er umspülte seine Beine, seinen Körper, er stieg bis an seinen Hals und beim nächsten Schritt küßte sein Wasser Marthes bleiche Lippen. Marthe ging immer weiter. Plötzlich schwand der Boden unter seinen Füßen, er reckte die Arme gegen den Himmel, er versank, tauchte noch für einen Augenblick an die Oberfläche, stieß einen gellenden Schrei aus und verschwand.

Gott aber wollte nicht, daß der kleine Marthe mit einer Todsünde beladen vor ihm erscheine.

Justin Frappard, der Fährmann, befand sich eben auf dem Wege in die Stadt, als Marthes Schrei die nächtliche Stille zerriß, Er sah in der Nähe des Ufers einen dunklen Fleck unter der Wasseroberfläche, fluchte, und sprang ohne zu überlegen in den Fluß. Er brachte den schmächtigen Körper des Klavierlehrers ans Land und begann ihn, trotzdem Marthe ganz einer Leiche glich, abzureiben. Auf einem zufällig vorüberfahrenden Bauernwagen brachten sie den Geretteten eiligst in die Stadt.

Doktor Barbeau, der junge Arzt, erkannte die wundervolle Möglichkeit, sich durch Wiederbelebung dieses Toten einen Namen zu machen. Lange blieb seine Mühe vergeblich, kein Pulsschlag war in Marthe zu erwecken, als widersetzte sich der Arme seiner Rückkehr zu neuer Qual. Doch der Arzt gab seine Hoffnung nicht auf. Und endlich, nach zwei Stunden aufreibendster Arbeit, konnte er mit Genugtuung das Leben in den Unglücklichen zurückkehren sehen, der es von sich werfen wollte. Doktor Barbeau war am Ende seiner Kräfte, doch er hatte gesiegt. Valleyres enttäuschte ihn nicht in seinen Erwartungen, man pries seinen Erfolg wie ein Wunder und von diesem Tage ab begann der Stern des alten Doktor Maigret zu verblassen.

Marthe lebte, wenn man sein Dasein, fiebergepeinigt, von Kummer und Reue unterwühlt, Leben nennen konnte. Erst im April durfte er sein Bett verlassen. Doch man konnte ihn nicht bestimmen auszugehen.

Seine Frau hatte wieder ihr gewohntes Leben begonnen, Marthe war gegen alles gleichgültig und teilnahmslos. Eines Abends, als sie ausgegangen war, stand er noch nach Sonnenuntergang am offenen Fenster. Die feuchte Abendkühle durchdrang ihn, er verfiel einem neuen Leiden. Nur eine halbe Lunge blieb ihm nach dieser Krise, die die letzte war. Selbst Doktor Barbeau war nicht mehr imstande, in diesem armseligen, verfallenen Leib das Leben zurückzuhalten.

Man rief den Herrn Pfarrer, der in Begleitung eines Chorknaben erschien, um die heiligen Sterbesakramente zu spenden. Marthe entschlief auf immer. –


Ein Jahr später wurde Frau Marthe, dank des Einflusses von Herrn Bataille, eine Trafik in Maigny verliehen. Da sie nicht mehr zu den Jüngsten zählte, stand ihre Tochter Athenais ihr zur Seite, die es, von der Mutter beraten, verstand, zahlreiche ausgewählte Kunden heranzuziehen.

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