Achtzehn Monate später holten sie ihr Töchterchen nach Valleyres zurück. Marthe hätte es gern in ihr gemeinsames Zimmer genommen, doch Zora wollte nichts davon hören. Sie erklärte, da die Wohnung zu klein sei, müsse man in die größere Straßenwohnung übersiedeln, die im Hause über den Zimmern der Vertots zufällig frei stand. »Daran kann doch nicht gedacht werden,« meinte Marthe, »die Wohnung wäre ja viel zu teuer.« Doch Zora war davon überzeugt, daß sie mit dem Hausherrn bloß reden müsse, um einen mäßigen Zins von ihm zu erreichen.
Herr Anton Vertot, der Hausherr, war ein Fünfziger, sechs Fuß groß, dürr wie eine Latte, halb Bauer, halb Edelmann, von scheinheiliger Frömmigkeit, mit allem befreundet und verschwägert, was in Valleyres einen Namen hatte. Mit seiner Frau und seinen drei Töchtern lebte er fast das ganze Jahr auf dem Lande.
Er galt als Schürzenjäger. Schmunzelnd erzählte man sich allerlei Abenteuer von ihm; man bezeichnete den Sohn des Tischlers Terminet, der ihm auch wirklich auffallend ähnelte, als sein Kind. –
Als Zora Herrn Vertot aufsuchen wollte, war er nicht daheim. Am Tage des nächsten Wochenmarktes stellte er sich bei ihr ein. Er fand sie in einem rosa Négligé, das sie sehr vorteilhaft kleidete. Sie machte nicht viel Umschweife und erklärte ihm gleich einleitend, daß sie gezwungen sei, die Wohnung in seinem Hause zu verlassen. Herr Vertot erwiderte sehr galant, daß er sich von einer solchen Mieterin unmöglich trennen könne und daß er, um sie zu behalten, zu jedem Opfer bereit sei. Eine Unterhaltung, die mit solchen Liebenswürdigkeiten einsetzte, konnte – so schien es Zora – nur zu einem guten Ende führen. Sie machte eine Anspielung auf die große, freistehende Wohnung an der Straßenseite und frug nach dem Zins. Herr Vertot nannte eine Zahl. Zora verzog in reizender Weise ihr Mündchen und erklärte, dieser Betrag übersteige weit ihre Verhältnisse und sie müßte nun doch das Haus verlassen. Herr Vertot bat um die Erlaubnis, die Sache zu überlegen und an einem Tage, der der entzückenden Frau Marthe passen würde, nochmals vorzusprechen. Man einigte sich auf den zweitnächsten Nachmittag. An diesem Tage hatte Marthe in Vermand zwei Stunden abzuhalten. Herr Vertot stellte sich pünktlich ein und verließ nicht sobald wieder die Wohnung Marthes. Als er endlich Abschied nahm, war die Angelegenheit ganz nach Zoras Wünschen geregelt.
Höchst befriedigt und sehr überrascht zeigte sich Marthe, als er abends den Erfolg seiner Frau erfuhr.
In Valleyres erregte es nicht wenig Befremden, als man den Klavierlehrer in eine Wohnung übersiedeln sah, die bis dahin nur von Leuten der vornehmen Welt bewohnt worden war. Noch größeres Aufsehen aber machte es, daß die Jalousien im ersten Stock, im Zimmer des Herrn Vertot, jetzt mit einem Male öfters geöffnet waren und daß, wie man erfuhr, Herr Vertot plötzlich jede Woche in der Stadt zu sehen war. Die bösen Zungen konnten eine solche Gelegenheit, sich zu betätigen, nicht vorbeigehen lassen. Zora hatte den würdigen Frauen der Stadt ja immer schon Mißtrauen eingeflößt. Konnte man denn mit einer solchen Haarfarbe anständig sein?
Marthe indes erfuhr von all den Gerüchten nichts.
Eifersucht wurde in ihm nicht wach. Es war ja nur zu begreiflich, daß die Männer sich um sie, die so anziehend war, bemühten. Bei den Festen löste ein Tänzer den anderen ab. Doch nach Hause zurückgekommen, machte sie sich mit ihrem Mann über alle lustig, die sich um sie gedrängt hatten und gewöhnlich endete sie die Unterhaltungen mit dem Satze: »Du kannst wahrlich zufrieden sein, daß du eine anständige Frau geheiratet hast ...« Und der kleine Klavierlehrer, für den jede Frau, die ihren Mann betrog, ein verabscheuenswertes Monstrum bedeutete, das den Gluten der Hölle nicht entgehen würde, war auch wirklich zufrieden und fühlte sich durch diese freimütige Bemerkung Zoras aller Zweifel enthoben. Trotz seines Alters wußte der emsige Klavierlehrer ja kaum etwas vom Leben, durch das er zwar mit offenen Augen, aber ohne zu sehen, ging ...
An einem Winterabend, um fünf Uhr im Hause Duret, irrte er sich in den Türen und trat in das Boudoir der schönen Hausfrau ein. Im Halbdunkel bemerkte er Frau Duret und den Advokat Lorety, auf einem Diwan, sehr nahe nebeneinandersitzend. Lorety entfaltete hastig eine Zeitung auf seinen Knien. Und doch war es finster im Zimmer, und man vermochte nicht zu lesen. Marthe aber verfiel nicht einmal auf diese einfache Betrachtung; er entschuldigte sich, so gut er vermochte, stürzte fort und dachte gar nicht mehr daran.
Nein, Schlechtigkeiten gab es für seine Augen keine. Seine Frau mochte faul sein und in ihrer Sprache die üble Gesellschaft erkennen lassen, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, doch sie war sein durch göttliches Gesetz, nach dem die Frau dem Manne angehört. Ehebruch war ja, trotz aller Romane, die das Volk vergifteten, unendlich selten und hatte in diesem und in jenem Leben so furchtbare Folgen, daß, bloß daran zu denken, einen schon erzittern ließ ...
Zora hatte wenig Freundinnen. Sie besuchte Frau Lebel, die Gattin des Steuereinnehmers, die in großen Städten gelebt hatte und mancherlei wußte. Auch zu Frau Labitte, der Buchhändlerin, ging sie, die einen Lesesaal unterhielt.
Die kleinen Geschichtchen dieser Häuser bildeten an den Abenden, die sie allein mit ihrem Manne verbrachte, ihren Gesprächsstoff. Marthe aber hörte nur zerstreut zu. Diese Leute waren neu in seinem Leben, niemals würden sie darin die Lücke ausfüllen, die für immer der kurz nacheinander erfolgte Tod von Herrn und Frau Fleuriot hinterlassen hatte. Nur der große Fauteuil seines alten Freundes, den Jules Fleuriot ihm gegeben hatte, war Marthe von ihnen geblieben.
Marthes Gesundheit wurde indessen nicht besser. Im Herbst befiel ihn eine neuerliche Erkältung, die den ganzen Winter nicht weichen wollte. Er hüstelte und spuckte. Abends war er so müde, daß er augenblicklich einschlief. Daß Zora ihn sorglich pflegte, machte ihn glücklich. Sie schaute darauf, daß er starke Stiefel trug, wenn er zu seinen Stunden ausging und bereitete ihm zu Weihnachten das überraschende Geschenk eines weiten, flauschigen Mantels, den sie von ihren Ersparnissen gekauft hatte. Abends, wenn er heimkam, fand er ein gutes Feuer im Kamin. Sie waren jetzt zehn Jahre verheiratet.–
Bataille, der Weinhändler, durch den Tod Frau Tourettes vereinsamt, wurde häufiger Gast bei den Marthe. Tagsüber wagte er sich nicht in die Wohnung des Klavierlehrers, denn die Augen der ganzen Stadt waren stets auf alles gerichtet, was mit Frau Marthe zusammenhing. Jedesmal, wenn die Fensterladen im Zimmer des Herrn Vertot, der, trotzdem er schon in die Sechzig ging, doch noch ein-, zweimal in der Woche nach der Stadt kam, offen standen, sprach ganz Valleyres davon. Bataille kam nur abends, wenn Marthe zu Hause war. Louis Marthe wäre lieber mit seiner Frau allein geblieben, doch wagte er dies nicht zu äußern. Herr Bataille war ja wirklich überaus liebenswürdig und schien nur allzu glücklich, wenn sein Freund Marthe ihm Günstiges über sein Fortkommen zu berichten vermochte. Ja, einmal beteiligte er ihn sogar an einem vorteilhaften Weineinkauf und verschaffte ihm dadurch einen Gewinn von dreihundert Francs, der dem Haushalte des Klavierlehrers sehr zustatten kam. Die Ausgaben wurden ja immer größer. An dem kleinen Töchterchen, das Marthe abgöttisch liebte, und das zum vollkommenen Ebenbild seiner Mutter heranzuwachsen schien, durfte doch nichts gespart werden! Und Zora selbst war keine gute Wirtin und auch nicht bedürfnislos. Athenais sollte in die Provinzhauptstadt in ein Pensionat gegeben werden, auch diese monatliche Ausgabe von fünfzig Francs war eine schwere Last. Oft ging Marthe sorgenvoll umher. Und dabei begann die Zahl seiner Stunden abzunehmen. Ein, zwei Familien, die zum Bekanntenkreise der Vertots gehörten, ließen ihre Kinder nicht mehr bei ihm unterrichten. Er wußte nicht warum.
Zora warf plötzlich die Frage auf, warum ihr Mann eigentlich nicht an der städtischen Schule Musikunterricht erteile? Das würde doch immerhin ihre Einkünfte nicht unbeträchtlich erhöhen. Sie sprach davon zu Herrn Bataille, der doch in allen Kreisen Einfluß hatte, machte selbst bei den maßgebendsten Herren Besuche und setzte es richtig durch, daß Marthe zum Musikprofessor bestellt wurde.
Bataille wollte auf den Lohn für seine Bemühungen nicht verzichten. Die Schwierigkeiten, die stets zwischen ihm und Zora standen, hatten sein Verlangen zu wilder Glut gesteigert. Oft ließ er alle Vorsicht außer acht und beging Streiche, wie ein dummer Junge. Marthe mußte nur für einen Augenblick das Zimmer verlassen und schon stürzte er zu Zora, um sie in seine Arme zu pressen und wie ein Irrsinniger zu küssen. Unzählige Male hatte es nur ein glücklicher Zufall verhindert, daß sie von Marthe nicht in peinlichster Weise überrascht wurden. Schließlich hatte sich Zora, die von seiner Zügellosigkeit alles befürchten konnte, entschlossen, seinen Wünschen nachzugeben. Als seine Frau einmal verreist war, schlich sie in der Dämmerung in seine Wohnung. Doch ein solcher Schritt in der kleinen, argwöhnischen Stadt schien beiden doch ein zu großes Wagnis. Zora fand einen anderen Ausweg. Sie machte es sich zur Gewohnheit, einmal in der Woche ihre Tochter in Maigny zu besuchen und hier traf sie mit Bataille zusammen, den seine Geschäfte ja häufig in die Provinzhauptstadt führten, ohne daß dies irgendwie auffallend gewesen wäre. Marthe, der diese kostspieligen Reisen nicht gerne sah, brachte es doch nicht übers Herz, sie seiner Frau zu untersagen. Mußte er ihr nicht im Gegenteil dafür dankbar sein, daß sie jede Woche die Unbequemlichkeiten einer Eisenbahnfahrt auf sich nahm, nur, um ihr geliebtes Kind umarmen zu können?
Marthe übrigens fuhr fort, seine Frau anzubeten. Seit sie die Dreißig überschritten hatte, war sie stärker geworden, ihr Gesicht aufgedunsen. Marthe dagegen schien mit dem Alter einzutrocknen; er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Vor Athenais hatte er sich angewöhnt, seine Frau Mama zu nennen, er behielt dies auch für sich selbst bei. Abends schmiegte er sich wie ein Kind an ihre breite Brust. Gleichmütig ließ ihn Zora gewähren. Ihr Urteil über Marthe stand seit langem fest; sie schätzte seinen sanften Charakter, doch er war schwach, immer müde, erschöpft. Als Mann war er angenehmer als so viele andere, die ihre Frauen mit Stockschlägen traktierten, fremden Schürzen nachspürten, tranken und das Geld, das im Hause nötig war, außerhalb vergeudeten. Sie betrog ihn, ja, es war so, aber geschah ihm dadurch irgendwie Abbruch? Sie gebrauchte alle Vorsicht, um ihr Leben geheim zu halten, nicht vielleicht, weil er, der Unschuldige, selbst etwas hätte entdecken können: sogar, wenn er sie im Bett von Herrn Vertot gefunden hätte, würde er sie nicht für schuldig gehalten haben. Doch vor den Leuten in Valleyres mußte man auf der Hut sein. Darum beging Zora auch keine Unvorsichtigkeit. Flüstern konnte man, aber Beweise hatte man keine gegen sie! So verlief ihr Leben in der gewohnten Bahn. Marthe erfreute sich seiner ungestörten Ruhe.
Bis sie plötzlich in der alltäglichsten und furchtbarsten Weise zerstört wurde.
Die Ahnungslosigkeit Marthes, die Sicherheit, die Zora und Bataille in Maigny genossen, verführten sie zu leichtfertiger Außerachtlassung der mindesten Vorsicht. Es war im vierten Jahr der wöchentlichen Besuche Zoras bei ihrer Tochter, als Frau Poiret, die Gemüsehändlerin, die bei der Bank einiges zu erledigen gehabt hatte, um halb sechs Uhr nachmittags Zora Marthe, gefolgt von dem Weinhändler, aus dem Hotel »Goldener Löwe« in Maigny treten sah. Sie behielt diese wundervolle Entdeckung keineswegs für sich und schon eine Woche später erhielt Marthe einen anonymen Brief, der ihn benachrichtigte, daß er allerlei Interessantes erfahren könne, wenn er das nächste Mal, da seine Frau nach Maigny reisen würde, Herrn Bataille daselbst im Hotel »Goldener Löwe« aufsuchen wolle.
Ein unglücklicher Zufall hatte es noch gefügt, daß der Postbote, der diesen Brief zustellte, gerade an jenem Tage verspätet kam. Wäre er zur gewohnten Stunde gekommen, dann hätte Zora, die vorsichtshalber alle Briefe in Empfang nahm, dieses verhängnisvolle Schreiben vernichtet. Doch Marthe begegnete dem Boten vor dem Hause und übernahm selbst den Brief. Er öffnete und las ihn im Weiterschreiten, verstand nicht recht, was er mit diesen geheimnisvollen Andeutungen anfangen solle und steckte ihn in die Tasche. Ihm schien es ein abgeschmackter Scherz irgendjemandes, den Zora sich zum Feinde gemacht haben mochte. Bevor er bei Frau Allemand, wo er seine nächste Stunde zu geben hatte, eintrat, überlas er den Brief indes noch einmal. Sein Inhalt erschien ihm jetzt doch recht deutlich. Er zuckte mißmutig die Schulter. Zora würde wohl nicht mit fünfunddreißig Jahren aufhören eine ehrsame Gattin zu sein! Er beschloß, ihr mittags den Brief zu zeigen, sie würden beide darüber lachen.
Seiner Schülerin Nicolette fiel es diesmal auf, daß der Herr Professor recht zerstreut war.
Als er nach beendeter Stunde das Haus der Allemands verließ, stand es plötzlich wie eine Vision vor ihm: er sah Zora in den Armen Batailles, er sah ihre fiebernden, halbgeschlossenen Augen und er, der andere lag über sie gelehnt. – Das Bild war so deutlich, daß er hätte aufschreien mögen. Ein heftiger Blutandrang in sein Gehirn verdunkelte seinen Blick, in diesem Augenblicke wäre er zu einem Mord fähig gewesen ... Doch das Bild verschwamm, er ernüchterte und tadelte sich wegen seines Mangels an Kaltblütigkeit. Und alles nur wegen einer anonymen Gemeinheit!
Mittags, als er nach Hause kam, zeigte er den Brief indes doch nicht seiner Frau. Unzählige Male an diesem Tage und an den folgenden Tagen versuchte er sich aufzuraffen und Zora das Schreiben vorzulegen. Doch je länger er zögerte, desto unmöglicher schien es ihm, dies zu tun. Wie hätte er ihr erklären können, warum er so lange geschwiegen hatte? Mußte dies nicht seine Zweifel deutlich erraten lassen? – Besser war es, dieses erbärmliche Papier zu vernichten.
Der Tag kam, an dem Zora, wie gewöhnlich, ihre Reise nach Maigny für den kommenden Morgen beschloß. Marthe begleitete sie zwischen zwei Stunden, die er zu geben hatte, zur Bahn und war vollkommen ruhig. Doch während er zu Hause allein sein Mittagsmahl verzehrte, traten neue Bilder erschreckend deutlich vor seine Augen. Er fühlte, daß es ihm unmöglich wäre, an diesem Tage in Valleyres zu bleiben. Hastig sandte er an die Schüler, die er erwartete, ein Wort der Entschuldigung und um vier Uhr nachmittags saß er im Zug, der ihn nach Maigny führte. Vierzig Minuten später war er am Ziel. Er frug nach dem Hotel »Goldener Löwe« und mit angstbeklemmtem Herzen schritt er in der angegebenen Richtung.
Es war ein trüber Herbsttag, feucht und warm, der einen Regen erwarten ließ. Mit einiger Mühe fand Marthe das Haus, das er suchte. Es war ein kleines Hotel, vier Fenster Front, in einer engen Straße, die auf einen Platz mündete. Er blieb davor stehen. Warum war er hierher gekommen? Jetzt erst wurde es ihm klar, daß er niemals den Mut aufbringen würde, die Glastüre dort drüben zu öffnen, um vom Portier eine Auskunft zu verlangen, die man ihm ja zweifellos verweigern würde. Was also sollte er tun? – Warten. Und er wartete.
Abenddämmern sank vom wolkenbedeckten Himmel nieder. Die Türe des Hotels öffnete sich und ein Junge entzündete die Gaslampe über den drei Stufen, die zum Eingang emporführten. Der Wind, der sich erhoben hatte, ließ die Flamme wild aufzucken und heulte kläglich über Dächer und Schornsteine. Langsam schritt Marthe den engen Fußsteig auf und ab. Regentropfen begannen auf ihn niederzufallen. Er suchte im Winkel eines vorspringenden Hauses, fast gegenüber dem Hotel, Schutz. Windstöße peitschten durch die Straße, immer heftigere Regenmassen durchnäßten seine Kleider. Kalte Feuchtigkeit drang bis an seinen Körper. Fröstelnde Schauer überliefen ihn. Doch er beachtete das Wetter kaum, mit zusammengepreßten Zähnen starrte er auf die leblos vor ihm stehende Fassade des Hotels. Kein einziges Fenster war beleuchtet – doch, jetzt brach plötzlich im dritten Stock ein Lichtschimmer aus zugezogenen Vorhängen. Marthes Züge spannten sich hart. Er zweifelte nicht mehr, daß sie dort oben sei, er fühlte sie dort hinter jenem Fenster in der reifen Üppigkeit ihres Körpers, als sähe er sie mit Augen. Wie hatte er sich nur einbilden können, daß ihre Schönheit ihm allein gehöre? Ihm, dem armseligen Schwächling, der kaum etwas zu geben hatte, den es nur nach ihrer Zärtlichkeit und Liebe verlangte! Sie stellte andere Anforderungen, sie war dazu berechtigt ... Nicht lange aber hielten solche Gedanken bei ihm an. Allzu heftiger Schmerz beengte sein Herz. An die Reinheit der Frauen hatte er geglaubt, niemals hätte er an Zora gezweifelt! War denn wirklich er es, der gleiche Marthe, der so vertrauensselig gewesen, der sich jetzt hier in einen dunklen Winkel drückte, um nach einem Hotelfenster zu starren, hinter dem seine Frau sich den Zärtlichkeiten eines fremden Mannes überließ? Welcher Wahnsinn hatte ihn hierhergeführt? Was erwartete er?
Einen Augenblick dachte er daran, nach Hause zurückzukehren. Vielleicht saß seine verleumdete Frau ruhig im Kloster und unterhielt sich mit Athenais. – Und doch, die genauen Angaben des Briefes ... So quälte er sich mit Zweifeln und Hoffnungen und schließlich kam er zu der Überzeugung, daß alles besser sei, als solche Ungewißheit. Er wollte bleiben, um die Wahrheit zu erfahren.
Die Uhr eines nahen Kirchturmes verkündete in gemächlichem Schlage halb sechs. Wenn Zora da war, dann mußte sie jetzt das Haus verlassen, um ihren Zug zu erreichen. »Wenn sie in einer Minute nicht erscheint,« sprach Marthe zu sich, »dann waren meine Zweifel grundlos, dann ist sie niemals hier gewesen.« Die Minute verfloß. Und Marthe gab eine zweite zu. Bei jeder weiteren Minute, die er noch wartete, wuchs die Hoffnung in seinem Herzen. Jetzt schlug es dreiviertel sechs. Eben wollte Marthe erleichtert und frohgemut seinen Posten verlassen, um den Weg nach der Bahn einzuschlagen, als das Licht im dritten Stock erlosch. Marthe bemerkte es, und das Blut, das angstvoll durch seine Pulse jagte, brachte ihn einer Ohnmacht nahe. Doch er nahm sich zusammen und drückte sich noch tiefer in seine Ecke. Eine Minute verging, von der jede Sekunde wie ein glühender Pfeil sein Herz durchbohrte, dann öffnete sich das Tor des Hotels und hellbeleuchtet von der Gaslaterne erschien Zora. Hinter ihr kam eilig Bataille. Arm in Arm gingen sie die Straße hinunter, auf der ihr roter Hut im Abenddunkel entschwand.
Unbeweglich blickte Marthe ihnen nach, bis er sich plötzlich dessen bewußt wurde, daß seine Zähne aufeinanderschlugen. Gedankenlos, ziellos begann er durch die Straßen zu irren. Schließlich fand er sich auf einem hellerleuchteten Platz und in der Spiegelscheibe eines Kaffeehauses erblickte er die fahle Blässe seines Gesichtes. Seine Augen glühten im Fieber, ein unaufhörliches Zittern ging durch seinen Körper. Er trat ein und ließ sich einen Glühwein geben. Der ungewohnte Alkohol stieg ihm sofort zu Kopfe. Bilder und Gedanken, die er nicht festzuhalten vermochte, jagten in tollem Wirbel durch seinen Geist.
Ein feuchter, fauliger Geruch stieg aus seinen durchnäßten Kleidern auf. Marthe fühlte einen Schüttelfrost, er trank einen zweiten Glühwein, sein Kopf fiel vornüber auf die Tischplatte und er schlief ein. »Er ist vollständig betrunken,« meinte der Kellner, der ihn beobachtete, zur Kassiererin. Um acht Uhr ging er zu dem sonderbaren Gast, um ihn aufzurütteln. Marthe erhob mühsam und verwirrt den Kopf, wie ein Pfeifen drang ihm der Atem aus der Brust, rote Flecke standen auf seinen Wangen, mit verstörten Blicken betrachtete er den Kellner, er zahlte verwirrt den Betrag, den dieser nannte, und ging davon.
Es regnete immer noch. Marthe beachtete dies nicht. Er war keines Gedankens fähig. Nach zwanzig Minuten kam er endlich todmüde zum Bahnhof und schlief sofort ein, nachdem er den Zug bestiegen hatte. Ein Fleischer aus Valleyres, der im gleichen Abteil saß, weckte ihn, als es Zeit zum Aussteigen war. Wie im Traume schleppte Marthe sich seiner Wohnung zu. Der eisige Wind zwang ihn öfters, stehenzubleiben. Einmal mußte er sich sogar an einen Laternenpfahl stützen. Der einzige Gedanke, der ihn vorwärtstrieb, war der Wunsch, sich so rasch als möglich in seinem Bette ausstrecken zu können, um dieses schmerzende, stechende Pochen des Blutes in seiner Brust zum Schweigen zu bringen. Endlich war er vor seinem Hause, angeklammert an das Geländer schleppte er sich keuchend von Stufe zu Stufe hinauf, seine zitternde Hand öffnete die Wohnungstüre, er durchquerte das Vorzimmer und betrat den Salon.
Zora, die auf dem Diwan eingeschlummert war, fuhr auf. Ihr Mann stand in der Tür, sein verstörter Blick starrte nach ihr, dampfende Nässe troff aus seinen Kleidern, bis zu den Knien war er mit Kot bespritzt ... Erschreckende Blässe lag auf seinen Zügen, nur grelle, rote Flecke glühten auf seinen hervorstehenden Backenknochen. Von wo konnte er in solchem Zustande, zu so später Stunde heimkommen? Was wußte er? – Um sich besser verteidigen zu können, begann sie, ihm Vorwürfe zu machen. Doch schon die ersten Worte erstarben auf ihren Lippen. Marthes Augen verließen sie nicht, aber ihr Blick, im Fieber glühend, war der eines Irren.
»Was ist mit dir, Louis?«
Marthe, der sich an der Lehne eines Fauteuils gehalten hatte, wollte auf seine Frau zugehen. Er ließ die Stütze los, doch er hatte seine Kräfte überschätzt. Er verlor das Gleichgewicht, er schwankte, stürzte ohnmächtig zu Boden.