Eine Herausforderung an Herz und Hirn

Zitate Leben & Werk
Sprichwort

Zitate, Aphorismen und Sprichwörter haben seit der Einführung des Internets neue Hochkonjunktur. Las man früher einmal hier und da eines jener Bonmots im Kalender, schrieb es ins kindliche Poesiealbum oder empfing es auf Glückwunschkarten zu den besonderen Festen des Lebens, so ist heute geradezu eine Flut von Sprichwörtern tagtäglich zu verarbeiten. Es gibt kaum eine Homepage, die sich nicht mit Weisheiten eines anderen Menschen ziert, Impulse und Denkanstöße vermitteln möchte, wenn nur das geneigte Auge bereit ist, den Sinn ans Hirn zu transportieren oder den Gehalt zu erfühlen.

Sprichwörter stellen oftmals Lebenserfahrungen dar oder beruhen auf scharfsichtigen Beobachtungen des menschlichen Alltags. Die Essenz daraus fassen sie in knapper Form zusammen. Zumeist eine Art Ein-Satz-Fazit, die das Wesentliche verdichtet. Sprichwörter kommen auch gerne als Warnung oder Ratschlag daher, zum Beispiel mit Hinweisen, wie man das Leben besser meistern kann. Miguel de Cervantes brachte es auf den Punkt und sagte einst: "Ein Sprichwort ist ein kurzer Satz, der sich auf lange Erfahrung gründet."

Viele der heute gängigen Sprichwörter stammen aus der Bibel oder der Literatur. So manche davon wurden über die Jahrhunderte auch leicht verändert oder den aktuellen Erfahrungen und Lebensbedingungen der Menschen nach und nach angepasst. Kennt man Sprichwörter gut, verwendet man sie oft blitzschnell und unbewusst, wenn es die Situation gerade hergibt. Aber sie werden auch gezielt dort eingesetzt, wo sie den Nimbus von Bildung, Wissen oder Weisheit repräsentieren können. Geistreiche Sprichwörter taugen also auch zur Eitelkeit oder zum Entertainment in einer Unterhaltung.

So manch ein Sprichwort hat jedoch in nicht wenigen Fällen auch Schwächen. Und zwar dann, wenn es Verallgemeinerungen zum Besten gibt, die für den individuellen Fall völlig untauglich sind und überhaupt nicht zum Empfänger passen. Ebenso wenig steht der Wahrheitsgehalt sämtlicher Sprichwörter etwa nur deshalb schon außer Frage, weil es der Volksmund gern übernommen hat. Insofern ist ein unkritisches Verwenden, nur "weil es alle sagen", keineswegs angezeigt. Auch beim Gebrauch von Sprichwörtern ist man gut beraten, den eigenen Verstand nicht auszuschalten, weil den Aussagen nicht immer blind zu vertrauen ist. Der Grund dafür liegt in der Individualität des Menschen, die nun einmal so geartet ist, dass für den einen der eine Ratschlag optimal sein kann, während für den anderen das Gleiche unwirksam ist oder sogar zerstörerisch wirken kann. Die menschliche Erfahrungspalette, was die Ausnahme von der Regel betrifft, ist eben um ein Vielfaches reicher, als Sprichwörter uns glauben machen wollen.

Die Sache mit Hänschen und Hans

Ein geradezu klassisches Beispiel ist die Behauptung: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr!" Wie viele Generationen von Kindern sind mit dieser Warnung groß geworden! Sie sollte motivierend wirken … und hemmte später ein Unzahl von Menschen im Erwachsenenalter, weil sie diese Behauptung tief in sich als wirksamen Glaubenssatz gespeichert hatten. Mit der Folge, dass sie davon überzeugt waren, gute Lernerfolge seien ernstlich ans kindliche oder jugendliche Alter gebunden. Alles, was man spät zu lernen hatte, hätte bei einem erwachsenen "Hans" keine Chance mehr. Stimmt dies etwa? Was ist mit dem pädagogischen Wert einer solchen Aussage, was mit seinem Wahrheitsgehalt? In manchen Fällen mag es vielleicht ja so sein. Vermutlich aber stammt sein Ursprung aus einer Zeit, wo es weder notwendig noch üblich war, dass man als Durchschnittsmensch nach seiner Ausbildung ständig weiter zu lernen hatte und auch Pädagogik lieber mit Warnungen spickte, statt mit positiver Motivation.

Gerade in unserer heutigen Zeit hat "Hans", das heißt der Erwachsene, lebenslang zu lernen. Und wehe, er drückt sich davor! Technischer Fortschritt und Beruf fordern es auf der einen Seite und die Beziehungen unter den Menschen auf der anderen Seite. Kognitives und emotionales Wachstum sind heute ein Muss in jeder zwischenmenschlichen oder beruflichen Beziehung. Ohne ständiges Weiterlernen von "Hans" sähe selbst "Hänschen" heute dumm aus der Wäsche. Einem Kind wiederholt zu sagen, dass es nur als Kind allein Chancen zum Lernen hat, ist gefährlich nach unserem heutigen Wissensstand, der uns zeigt, dass die Lernfähigkeit bis zum Tode nicht aufhört.

Trotzdem bleibt aber ein Kern dieser Sprichwort-Wahrheit in dieser Aussage dahingehend bestehen, dass das Lernen im Kindesalter in manchem Fall äußerst effektiv geschieht und dies auch dann sinnvoll zu nutzen ist. Denn zu keiner Zeit des Lebens lernt der Mensch mehr und schneller als im Kindesalter. Aber wehe, er lernt das Falsche zum falschen Zeitpunkt! Dann nämlich gerät man in die Falle der "Verfrühung" und aus dem cleveren, lernbegierigen Hänschen kann schnell auch ein Verweigerer werden. Oder aber ein so einseitig fehlgeleiteter Erwachsener, der in manchen Bereichen viel wissen mag und dennoch eine völlig instabile Persönlichkeit dabei entwickelte, weil gewisse Entwicklungsschritte nicht zur rechten Zeit vollzogen werden konnten.

Heute weiß man, dass es vor allem die Liebe zum Wissen, die innere Haltung zu den eigenen Fähigkeiten und die natürliche Neugierde und Freude an individuellen Themenbereichen mitsamt der Hingabe ans Tun ist, die neben dem Intellekt und den Talenten entscheidend sind, ob und in welchem Alter Hänschen oder Hans vortrefflich lernen kann. Und das dann auch ziemlich ohne Mühe oder sogar viel Freude, wenn es pädagogisch stimmig dargebracht wird. Trotz dieses Wissens um diese Zusammenhänge wird es aber als ein mächtiges Sprichwort bis zum heutigen Tag weitergegeben.

Fazit: Ein Sprichwort ist nicht automatisch mit Weisheit getränkt, nur weil es viele ständig verwenden.

Währt ehrlich wirklich am längsten?

Oder nehme man beispielsweise das Sprichwort: "Ehrlich währt am längsten." Ist das tatsächlich so? Ist das die Erfahrung, die die meisten machen? Auch die der Finanzämter?, um einmal ein klassisches Beispiel anzuführen. Leider verrät uns das Sprichwort nicht, wie lang die Zeitdauer kalkuliert ist, bis sich die Wahrheit dieses gutgemeinten Sprichwortes tatsächlich auch allen als wahr erschließt. Vielleicht bis zum Ende der Menschheit? Trennen sich dann einmal die Ehrlichen von den Unehrlichen, die bis dahin ebenfalls überlebt haben? So wie der Spreu vom Weizen? Vielleicht geht es bei einem solchen Sprichwort aber auch nicht so sehr um den Wahrheitsgehalt, sondern eher um eine Motivation, die als Behauptung daher kommt? Sprichwörter auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen, kann eine spannende Sache werden.

Kennt man den Autor eines klugen Satzes, nennt man es ein Zitat. Zitate bedeutender Gedanken werden übrigens gerne "gestohlen". Dann nennt man es Plagiat. Es kommt aber nicht nur bei Zitaten oder Sprichwörtern vor, sondern bei Aufsätzen aller Art, auch bei Musik, Ideen oder Patenten. Im Internet sind speziell Plagiate von Sprichwörtern millionenfach anzutreffen. Viele Menschen wissen beim Verwenden von Zitaten einfach immer noch nicht, dass auch der Autor eines Zitates zum Zitat zitiert gehört, da es sein geistiges Eigentum ist. Sprichwörtlich werden Zitate erst dann, wenn sie sich als allgemein bekannt durchsetzen.

Schon im Mittelalter schätzte man übrigens schon das Sprichwort als starkes Ausdrucksmittel. Man empfahl es als Stilmittel in der Lehre der Rhetorik. Es sieht das Allgemeine, Universelle als das Einzige oder wirklich Beweiskräftige an, was aber dennoch dem Individuellen durchaus entgegenlaufen kann. Den Unterschied zur Redewendung kennt das Sprichwort in seiner festen und unveränderlichen Formulierung. Es kann auch als Stabreim oder Binnenreim Verwendung finden. Das Generalisierende des Sprichwortes äußert sich häufig in den Redewendungen von "Man soll…", "Man muss…" oder "Man darf…." und wirkt damit wie ein fast schon kategorischer Imperativ.

Besonders interessant sind auch jene Sprichwörter, die sich (scheinbar) widersprechen, wie: "Gleich und gleich gesellt sich gern." Und "Gegensätze ziehen sich an". Aber dieser Widerspruch ist keiner, sondern es ist jeweils die andere Seite der Medaille einer gemeinsamen Wahrheit. Denn beides stimmt. So wird die Wesensgleichheit mit anderen Menschen im Allgemeinen als durchaus sympathisch empfunden. Man fühlt sich mit jenem anderen Menschen in seiner "Gleichheit", die in der Regel eine "Ähnlichkeit" meint, sehr wohl. Umgekehrt ebenfalls. Dort, wo man durch einen anderen Menschen auf angenehme Weise ergänzt wird, wird man belebt, fühlt sich bereichert und kann spannende Erfahrungen verbuchen. Und beide haben zugleich auch wieder ihre doppelten Gegensätze insofern, als sich sehr ähnliche oder "gleiche" Wesenstypen durchaus genau deswegen auch schnell aneinander langweilen können oder aber die ganz gegensätzlichen Typen sich oft nicht ertragen, weil sie nicht ihre Ergänzung im Sinn haben, sondern die Kluft oder die Entzweiung präferieren, die sich durch die Gegensätze ergibt. So stimmt alles nach beiden Seiten oder auch nicht. Man muss es nur tief genug durchdenken.

Man sei also vorsichtig mit dem vorschnellen Urteil über Widersprüche innerhalb der Sprichwörter, die am Ende gar keine sind, sondern sich nur so lesen. Oder auch dennoch welche sein können.

Hintersinniges bei Sprichwörtern

Manch ein Sprichwort ist auch als Sozialkritik oder Religionskritik zu sehen, andere als Haushaltsregel. Kommt ein Sprichwort als Vorurteil daher, ist die Zeit zu hinterfragen, aus der es stammt. Zumeist ist das nicht die Gegenwart, sonst hätte es sich kaum als Sprichwort durchgesetzt.

In der oftmals dichten Essenz der Aussage eines kurzen Sprichwortes können oftmals vielschichtige Gedankengänge liegen, die sich nicht immer auf den ersten Blick erschließen. Beispielsweise in dem Zitat: "Wer in den Vordergrund seiner Gegenwart treten will, sollte nie vergessen, dass der Hintergrund seiner Vergangenheit in seinem Schatten gespeichert bleibt." (Christa Schyboll) Ein einzelner Satz, der im Sinne der Aussage gleich mehrfache Ebenen birgt, die sich ein interessierter Mensch nun erschließen könnte, so er Muße und Lust dazu hat.

Das geht beispielsweise über die Frage: Bin ich denn nicht immer automatisch in meiner eigenen Gegenwart? Ich z.B. würde sagen: Nein. Die Regel bei den Menschen ist, dass sie mit ihren Gedanken fast immer in der Vergangenheit oder in der Zukunft weilen. Entweder sie denken an das, was gleich zu tun ist oder morgen oder an das, was vergessen wurde, an was man sich noch zu erinnern oder gleich alles noch zu erledigen hat. Sie planen, terminieren und "vergessen" dabei die fast unmerkliche Gegenwart. Wer sich selbst oder andere nur genau genug beobachtet, wird feststellen, dass die meisten Menschen in der überwiegenden Zeit, die sie scheinbar in der Gegenwart verbringen, tatsächlich aber gedanklich oder mit ihren Gefühlen aber in der Vergangenheit oder Zukunft verweilen. Man nennt es "psychologische Zeit", die mit unserer Uhrzeit überhaupt nichts zu tun hat. Jedoch viel mit unserer Lebensqualität. Nur der Körper selbst ist in aller Regel ständig in der Gegenwart und lebt überwiegend durch sein autonomes, wunderbar eingerichtetes System. Solche Gedanken oder ähnliche beträfen dann den ersten Teil dieses kurzen Zitates.

Der zweite Teil wäre die Frage, was es denn überhaupt bedeutet, dass der Hintergrund der eigenen Vergangenheit im eigenen Schatten gespeichert bleibt. Welcher Schatten ist hier gemeint? Wer oder was speichert warum etwas ab? Bedeutet das Abspeichern, dass eine alte Erfahrung am Ende noch nicht ganz verarbeitet wurde und deshalb nicht integriert werden konnte? Warum nicht? Was hinderte uns denn daran? Und was hat der erste Teil des Satzes mit dem zweiten Teil zu tun? Steht die Gegenwart dazwischen oder steht sie darüber? Wann ist man gegenwärtig? Die Fragen zu diesem Zitat wären noch viel tiefer zu treiben. Die Antworten sind individuell verschieden möglich. Aber die Aussage selbst brauchte nur wenige Worte.

Das zeigt beispielhaft auf, dass kurze essentielle Sätze, Zitate, Sprichwörter eine Flut spannender Überlegungen auslösen können, wenn man sie nicht nur zitiert, sondern lebendig in sich selbst bewegt, mit ihnen spielt und daraus den Nektar einer gedanklichen Süße saugt.

Christa Schyboll

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