Viertes Kapitel.

Andere Thätigkeiten und Händel 1535–39. Erzbischof Albrecht und Schönitz. Agricola.

Während diese großen allgemeinen Angelegenheiten der Kirche für Luther immer neue Arbeit und Sorgen mit sich brachten, die er trotz aller körperlichen Leiden mit seiner alten Energie auf sich nahm, reichten, wie wir schon in den vorangegangenen Jahren hinsichtlich des Predigens bemerkten, seine Kräfte für seine nächste regelmäßige Berufsthätigkeit doch nicht mehr wie früher aus. In dem Amte, das er an der Universität bekleidete, wollte der Fürst selbst, so sehr es diesem um Förderung der Hochschule zu thun war, ihn möglichst geschont haben. Derselbe ordnete i. J. 1536 eine reichliche Dotation für sie an. In der hierauf bezüglichen Urkunde sprach er feierlich aus: »Der barmherzige Gott hat sein heiliges, heilwerthes Wort durch die Lehr des ehrwürdigen und hochgelehrten, unseres lieben andächtigen Herrn Martin Luthers, der heiligen Geschrift Doctor in diesen letzten Zeiten der Welt mit rechtem wahrhaftigen christlichen Verstand allen Menschen zu Trost und Heil, dafür wir ihm in Ewigkeit Lob und Dank sagen, reichlich und gnädiglich erscheinen lassen und neben anderen Künsten insonderheit auch die Sprachen lateinisch, griechisch und hebräisch durch sonderliche fürtreffliche Geschicklichkeit und Fleiß des hochgelehrten Herrn Philippi Melanchthons zur Förderung des rechten und christlichen Verstands der heiligen Geschrift.« Diesen beiden Männern gab er jetzt je 100 Gulden Zulage zu ihrem Professorengehalt; für Luther hatte dieser bisher 200 Gulden betragen. Zugleich jedoch entband er Luther von der Pflicht, Vorlesungen zu halten und von allen andern Dienstleistungen bei der Universität.

Luther begann doch in diesem Jahr eine neue große Vorlesung, nämlich die Auslegung des 1. Buchs Mose, an die er in seiner Weise wieder reichhaltige und gewichtige Auseinandersetzungen über Hauptfragen der christlichen Lehre und des christlichen Lebens knüpfte. Sie schritt indessen nur langsam und mit vielen Unterbrechungen voran; mitunter breitete sie sich im Lauf eines ganzen Jahres nur über einige Kapitel aus; erst i. J. 1545 kam sie zu Ende, sie wurde seine letzte Vorlesung.

In dem Predigtamt, das er fortwährend freiwillig und unentgeldlich versah, übernahm er, als er aus Schmalkalden zurückgekehrt und nach jener schweren Krankheit zu neuen Kräften und wenigstens zeitweise zu anhaltendem Wohlbefinden gelangt war, sogar wieder außerordentliche und sehr vermehrte Arbeit. Er trat da nämlich wieder an Bugenhagens Stelle, der jetzt bis 1539 nach Dänemark beurlaubt war, um auch dort, unter dem neuen König Christian III., das neue evangelische Kirchenthum zu organisiren. Auch regelmäßige Predigten an Wochentagen hielt er da wieder, neben denen des Sonntags; dort predigte er wieder fortlaufend, wie es Bugenhagen zu thun pflegte, über das Matthäus- und das Johannesevangelium, freilich auch nur mit mannigfachen Unterbrechungen. Kanzler Brück berichtete darüber dem Kurfürsten am 27. August 1537 von Wittenberg aus also: »Es prediget Doctor Martinus jetzund in der Pfarre die Woche drei mal; thut solche gewaltige treffliche Predigten, daß mich dünkt, so sagt es Jedermann, daß er hievor so gar gewaltiglich nicht gepredigt hat, zeigt sonderlich an die Irrthume des Papstthums, und ist ein groß Volk, das ihn höret; bittet zu Ende der Predigt wider den Papst, seine Cardinäle und Bischöfe und für unsern Herrn Kaiser, daß ihm Gott Sieg geben und ihn vom Papstthum abziehen wolle.«

Unter seinen schriftstellerischen Arbeiten nahm er die in ihrer Art wichtigste seines Lebens, nämlich seine deutsche Bibelübersetzung, seit 1539 mit großem, anhaltendem Fleiß aufs Neue in die Hand, um sie gründlich für eine neue Auflage zu revidiren, welche zwei Jahre nachher im Druck erschien. Dazu versammelte er einen Kreis gelehrter Collegen um sich, deren Hilfe er sich erbat und mit denen er regelmäßige gemeinsame Berathungen hielt. Es waren Melanchthon, Jonas, Bugenhagen, Cruziger (Kreutziger), Matthäus Aurogallus, Lehrer des Hebräischen, ferner der Caplan Rörer, der die Correcturen besorgte; auch Auswärtige kamen zu den Sitzungen, wie der im Hebräischen Gelehrte Leipziger Theologe Ziegler. Luthers jüngerer Freund Mathesius, der i. J. 1540 Luthers Tischgenosse wurde, erzählt davon: Doctor Luther kam (in die Sitzungen) mit seiner alten lateinischen und neuen deutschen Bibel, dabei er auch stets den hebräischen Text hatte, Herr Philippus brachte mit sich den griechischen Text, Doctor Kreutziger neben dem hebräischen die chaldäische Bibel (d. h. die schon von den alten Juden gebrauchte Uebersetzung oder Paraphrase); die Professoren hatten bei sich ihre Rabbinen (nämlich rabbinische Schriften zum alten Testament); zuvor hat sich ein jeder auf den Text gerüstet, griechische und lateinische neben den jüdischen Auslegern übersehen; darauf proponirt dieser Präsident einen Text und ließ die Stimmen herumgehen; – wunderschöne und wahrhaftige Reden sollen bei dieser Arbeit gefallen sein.

Im Uebrigen bezog sich Luthers schriftstellerische Thätigkeit hauptsächlich auf die großen Fragen, um welche es bei einem Conzil sich handelte. Auf seine Schmalkalder Artikel, die er 1538 herausgab, folgte im nächsten Jahr eine größere Schrift »Von den Conziliis und Kirchen«, eine der gehaltvollsten Schriften des Reformators überhaupt, wichtig für uns auch namentlich dadurch, daß sie zeigt, wie seine Idee der christlichen Kirche als Gemeinde der Gläubigen auch unter allen praktischen Schwierigkeiten, welche die wirklichen Zustände bereiteten, stets fest und getrost von ihm behauptet worden ist. Er beklagt, daß für den Namen der Gemeinde oder des versammelten Volkes, was das griechische neutestamentliche Wort für Kirche (ecclesia) bedeute, dieses blinde, undeutliche Wort Kirche im Deutschen und schon im Kinderglauben oder Katechismus üblich geworden sei. Darunter sei viel Jammer eingerissen, indem man dann die Kirche im Papst; den Bischöfen, Pfaffen, Mönchen u.s.w. gesehen habe. Die christliche Kirche sei vielmehr das christliche heilige Volk, das da glaube an Christum und habe den heiligen Geist, der es täglich heilige durch Vergebung der Sünden und durch Abthun und Ausfegen derselben.

Indem diese Schriften Luthers und namentlich seine fortgesetzte Arbeit an der Bibelübersetzung uns an seine Liebe zur deutschen Muttersprache und seine Verdienste um sie erinnern, gedenken wir hier auch eines Gesuches, das er im März 1535 nach Nürnberg an seinen Freund Wenzeslaus Link gerichtet hat. Er springt dort aus dem Latein, welches noch die übliche Sprache für die Correspondenz der theologischen Freunde mit einander war, auf einmal in die Worte über: »Ich will deutsch reden, mein gnädiger Herr Wenzel«; dann bittet er, ihm durch einen Knaben alle neuerdings in Nürnberg erschienenen deutschen Bilder, Reime, Lieder, Bücher und Meistergesänge sammeln zu lassen. Denn er wollte daran noch weiter sich im echten volksthümlichen Deutsch üben. – Auch eine stattliche Sammlung deutscher Sprichwörter legte er sich an. Sie hat sich nachher in seiner Handschrift bei einer deutschen Familie vererbt, ist aber leider vor etwa zwanzig Jahren nach England verkauft worden. – Ferner erschien 1537 in Wittenberg anonym ein wohl von Luther verfaßtes, lateinisch geschriebenes, also für Gelehrte bestimmtes Büchlein über deutsche Namen, zwar manche wunderliche Fehlgriffe enthaltend, aber ein Beweis des Interesses, das für ihn solche Studien hatten, und auch für uns noch ein interessanter Erstlingsversuch auf diesem Felde nationaler Wissenschaft.

In der regelmäßigen Verwaltung und Rechtspflege seiner Landeskirche nahm er keine amtliche Stellung ein. Als 1539 zuerst in Wittenberg für den Kurkreis und zwar zunächst für Ehe und Disziplinarangelegenheiten ein Consistorium errichtet wurde, trat er nicht als Mitglied ein; sicher war er auch innerlich nicht für den Geschäftsbetrieb einer solchen Behörde berufen und geeignet. Aber auch dies geschah unter seinem Beirath, und in schwierigen Fällen sollte sich auch diese Behörde an ihn wenden. Die öffentlichen kirchlichen Angelegenheiten blieben ohnedies alle Gegenstand seines freien, gewichtigen Wortes. Und auch die sittlichen Uebelstände auf den weltlichen, bürgerlichen und sozialen Lebensgebieten, auf welche Luther in den Anfängen der Reformation sein reformatorisches Wort wenigstens als einen umfassenden Weckruf und Mahnruf ausdehnen zu wollen und welche er nachher vielmehr als etwas seinem Berufe Fremdes oft völlig bei Seite zu setzen schien, haben doch seinem Gesichtskreis und eigenen Streben sich nie ganz entzogen. Er schrieb 1539 wieder ähnlich wie schon in jenen reformatorischen Anfängen gegen den Wucher, worüber er dann freilich gegen Freunde bemerkte: kleinen Wucherern werde sein Buch das Gewissen rühren, aber die großen Landschinder werden über ihn in die Faust lachen. Und bei der Herausgabe seiner Schmalkalder Artikel erinnerte er in der Vorrede wenigstens kurz auch wieder an die »unzähligen großen Stücke«, welche ein echt christliches Conzil auch im weltlichen Stand zu bessern hätte: Uneinigkeit der Fürsten und Stände, Wucher und Geiz, die wie eine Sündfluth eingerissen und Recht worden seien, Unzucht, Fressen, Spielen, Uebermuth mit Kleidern, Ungehorsam der Unterthanen, des Gesindes und der Arbeiter, »aller Handwerke, auch der Bauern Uebersetzung« u.s.w. Zugleich war er bereit, für Einzelne, die Noth und Unrecht erlitten, mit bescheidener Fürsprache beim Landesherrn oder auch mit dem schneidigen Schwerte seines Strafwortes einzutreten.

Luthers Entrüstung und Eifer in einer solchen Angelegenheit war es, wodurch er jetzt mit Erzbischof Cardinal Albrecht vollends unversöhnlich entzweit und zu den rücksichtslosesten Ausfällen auf ihn fortgerissen wurde, nachdem dieser bis dahin immer noch ein gewisses anständiges Verhältniß zu ihm zu erhalten bedacht gewesen und Luther wenigstens von den äußersten Schritten gegen denselben noch zurückgehalten worden war. Es handelte sich um einen Justizmord, begangen an Hans Schöniz (auch Schanz genannt), aus Halle an der Saale. Dieser hatte jahrelang dem Erzbischof als sein vertrauter Diener die öffentlichen und noch mehr geheimen Geldgeschäfte besorgt, die sein Herr für Prachtbauten, Luxus und feinen und groben, erlaubten und unerlaubten Sinnengenuß nöthig hatte, auch selbst große Summen ihm geliehen. Die Stände des Erzstiftes klagten über die Geldforderungen, die an sie gerichtet, und argwöhnten mit Recht, daß die bewilligten Gelder in unbefugter und trügerischer Weise verwendet würden. Dem Schöniz wurde ihnen gegenüber wegen der heimlichen »Praktiken«, die er für seinen Herrn betrieb, bange. Dieser versicherte ihn seines treuen Schutzes. Als aber die Stände nichts Neues an Steuern mehr bewilligen wollten, ehe ihnen ordentliche Rechenschaft abgelegt worden sei, gab er, um sich aus der Verlegenheit zu ziehen, den Diener preis. Er ließ ihn wegen Betrügereien, welche dieser gegen ihn selbst verübt haben sollte, im September 1534 auf der Burg Giebichenstein gefangen setzen. Vergebens forderte Schöniz ein öffentliches Verhör vor unparteiischen Richtern, vergebens erließ das Reichskammergericht eine Verfügung zu seinen Gunsten. Eine zweite Verfügung desselben beantwortete Albrecht damit, daß er den Gefangenen, Bürger von Halle und Glied einer ansehnlichen Pfännerfamilie, am 21. Juni 1535 in Giebichenstein vor ein Bauerngericht stellte, das schnell aus den umliegenden Ortschaften zusammenberufen war und von welchem in Halle die Nachricht verbreitet wurde, es habe nur einen Pferdedieb zu richten. Dem peinlich Angeklagten wurde keine ordentliche Verantwortung, kein Advokat gestattet. Mit der Folter wurde ihm ein Ja abgepreßt und sofort das Todesurtheil gesprochen. Noch durfte er zum umstehenden Volke sagen, daß er sich vor Gott als Sünder bekenne, dies aber nicht verdient habe. Dann wurde er schnell an den Galgen hinaufgezogen, wo sein Leichnam hängen blieb, bis der Wind ihn im Februar 1537 abschüttelte. Seine Güter zog Albrecht ein. So verfuhr der höchst gestellte katholische Kirchenfürst Deutschlands, der zugleich den modernen Mäcenas für Kunst und Wissenschaft spielte.

Während nun die Schöppen der Stadt Halle gegen die Behandlung ihres Mitbürgers einen Protest erhoben, auf welchen Albrecht nicht hörte und der Bruder des Getödteten Anton ohne Erfolg um die Ehre desselben und die Rechte der Familie sich bemühte, wurde Luther in den Handel zunächst dadurch hineingezogen, daß ein Tischgenosse von ihm, Ludwig Rabe, wegen Aeußerungen, die er bald nach der That sich erlaubte, von Albrecht bedroht wurde. Luther schrieb hierauf wiederholt selbst an diesen und erklärte ihm offen, daß er ein Mörder sei und daß er durch Verschwendung kirchlicher Güter selbst einen Galgen zehn Mal höher als der Giebichenstein verdient habe. Noch wurde er von weiteren öffentlichen Schritten durch den Brandenburger Kurfürsten und andere hohe Verwandte Albrechts zurückgehalten, welche deshalb an Johann Friedrich sich wandten, während Albrecht einen billigen Ausgleich mit der Familie des Gemordeten suchte oder wenigstens so sich anstellte.

Als aber ein junger humanistischer Dichterling in Wittenberg, Namens Lemnius, eigentlich Lemchen, den Erzbischof gar durch Verse verherrlichte oder einen »Heiligen aus dem Teufel machte« und zugleich einzelne Wittenberger Frauen und Männer durch Verse verletzte, verlas Luther 1538 von der Kanzel eine kurze in den gröbsten Ausdrücken abgefaßte Erklärung gegen den Schandpoetaster wie gegen den von ihm verherrlichten Bischof, die dann auch im Druck ausging. Und jetzt ließ er sich's auch nicht mehr wehren, in einer größeren Schrift für Schöniz einzutreten. Da der Herzog von Preußen wegen der Ehre des Hauses Brandenburg ihn noch einmal freundlich abmahnen wollte, erwiderte er: Auch aus dem edeln Stamme Davids seien ja arge Buben gekommen; und Fürsten sollten sich nicht selbst schänden mit unfürstlichen Lastern. Im Eingang seiner Schrift erklärte er dann, es habe ihn ein Stein auf dem Herzen gedrückt, der also heiße: »Errette die, so man tödten will und entzeuch dich nicht von denen, die man würgen will«, Sprichw. Sal. 24, 11. 12. Er geht in ihr der Rechtsversagung und Rechtsverläugnung nach, deren sich der Cardinal Erzbischof schuldig gemacht habe, und deckt zugleich ungescheut die Zwecke der geheimen Ausgaben auf, welche der Herr mit seinem Diener gemacht und worüber dieser freilich nicht habe Rechenschaft ablegen können, namentlich die für die wohlbekannten Fleischessünden des Cardinals, das Buhlhaus auf seiner Morizburg in Halle u.s.w. Er selbst, sagte er, richte hier nicht, sondern trage nur des hohen himmlischen Richters Urtheil vor. Denen, welche sich etwa dies nicht von ihm gefallen lassen wollen, erbietet er sich: »Ich sitze hie zu Wittenberg und bitte meinen gnädigsten Herrn, den Kurfürsten, um keinen andern Schutz noch Gnade, denn um den gemeinen Schutz.« Albrecht fand es gerathener, ihm gegenüber zu schweigen.

Am tiefsten aber wurde Luther immer, und besonders vollends in diesem letzten Abschnitte seines Lebens durch Erfahrungen erregt und bekümmert, welche er in seiner eigenen religiösen Gemeinschaft, ja inmitten der nächsten Genossen und Freunde machen mußte.

Der Weg des Lebens, nämlich jener Weg des seligmachenden Glaubens, war jetzt neu gefunden und klar an's Licht gestellt; von dort her, sagte Luther, müsse auch ein wahrhaft sittliches Leben fließen. Und man bemühte sich, jenen auch recht klar und scharf in der Lehre auszuprägen und gegen neue Irrthümer und Verkehrungen zu wahren. Jetzt aber brachen hierüber auch unter denen, welche treulich zur Feststellung des Bekenntnisses zusammengewirkt hatten, Differenzen aus: ein Anfang der Lehrstreitigkeiten, die nach Luthers Hingang so verhängnißvoll für seine Kirche geworden sind. Und schmerzlich beklagte Luther fort und fort die sittlichen Schäden und Aergernisse, welche bewiesen, daß der Glaube keineswegs so, wie er im Bekenntniß jetzt über weite deutsche Gebiete hin sich verbreitete, auch lauter und kräftig in den Herzen lebte und Früchte trug. Nur wurde die eigene Ueberzeugung, der eigene Glaube ihm dadurch nie wankend: mußte doch nach des Herrn eigenem Wort Aergerniß kommen, hatten doch schon bei der alten apostolischen Predigt sich Rotten (1. Corinth. 11, 19) bilden und Irrlehrer und Verführer auftauchen müssen.


Abb. 49: Agricola nach einem Miniaturporträt Cranachs im Wittenberger Universitätsalbum v. J. 1531.

Wir haben oben gehört, wie freundlich Luther den bis dahin in Eisleben angestellten Agricola wieder in Wittenberg aufnahm. Er verschaffte ihm dort 1537 beim Kurfürsten einen ansehnlichen Gehalt, damit er nun die längst von ihm ersehnte Lehrthätigkeit bei der Universität übe und zugleich predige. Da wurde kund, daß Agricola immer noch auf derjenigen Lehre von der Buße bestehe, vermöge deren er bei der ersten kursächsischen Kirchenvisitation den Melanchthon angegriffen hatte. Er wurde deshalb von Eisleben aus verklagt; Graf Albrecht von Mansfeld, dessen Dienst er dort in Unfrieden und grob verlassen hatte, verschrie ihn überhaupt als einen unruhigen und gefährlichen Kopf. Und jetzt ließ er auch in Wittenberg ein paar Predigten drucken und setzte schriftliche Thesen in Umlauf, worin seine eigenthümliche Lehre enthalten war. Luther selbst hielt es für seine Pflicht, diese abzuweisen und that es auch auf der Kanzel, übrigens ohne den Urheber zu nennen.

Die Verkündigung des göttlichen Gesetzes, so lehrte jetzt Agricola, gehöre nicht mehr in's Christenthum als solches oder zu dem von Christus gebahnten und offenbarten Heilsweg. Nur das Evangelium vom Gottessohn, unserem Heiland, solle hier verkündigt werden und wirken, die Herzen rühren und ihnen ihre Sünde nun eben als Versündigung an diesem Gottessohn aufdecken. So wollte er den Grundsatz der Evangelischen, daß allein Gottes Gnade durch die frohe Botschaft von Christus selig mache, erst zu seiner vollen Geltung bringen. Wie jedoch eine Hauptschwäche dieses begabten, geistig gewandten, auch mit guter Redegabe ausgestatteten Mannes eine beträchtliche Eitelkeit war, die unter der geringen ihr in Eisleben gewordenen Befriedigung noch wuchs, so zeigte dies sich bei ihm auch in der Art, wie er mit seiner dogmatischen Eigenthümlichkeit sich benahm. Dabei war er doch in seinen Grundbegriffen nicht klar, wollte ferner doch im Behaupten seiner Sätze nicht zu viel für sich selbst auf's Spiel setzen und andererseits wieder nicht wirklich von ihnen abstehen.

Er verständigte sich zuerst mit Luther in Aeußerungen, welche diesem genügten, und nahm dann doch in eine neue Publication wieder seine eigenthümlichen Sätze auf. Jetzt gab Luther eine scharfe Entgegnung heraus gegen jene Thesen Agricola's und zugleich gegen Andere, welche viel weiter gingen, und deren Ursprung uns nicht bekannt ist. Er vermißte bei Agricola eine ernste sittliche Würdigung des Gesetzes oder der sittlichen Forderungen Gottes an uns, durch welche das Herz des Sünders, wie er es am eigenen Herzen erlebt hatte, erst erschüttert und gebeugt werden müsse, um dem Worte der Gnade sich zu öffnen, während es dann freilich erst durch dieses wahrhaft erneuert, belebt und beseligt werden könne. Aber mit Agricola's Sätzen stellte er dann die Anderer, welche auch dem Inhalt jener Forderungen oder unserer Verpflichtung gegenüber Leichtfertigkeit zeigten, als Erzeugnisse Einer Richtung und Eines Charakters zusammen, während ja nach Agricola's Meinung das von Gott gewollte Gute dann doch als Frucht seines Gnadenwortes bei den Christen sich verwirklichen sollte. Es ging ihm hier, wie wir auch sonst beobachteten, so, daß bei seinem Gegner diejenige Richtung, die er bei ihm vertreten fand, schon in ihrem ganzen Umfang und den äußersten, erschreckendsten Consequenzen vor sein Auge trat und seinen rücksichtslosen Eifer herausforderte. Dabei machte ihm indessen der Streit mit dem bisherigen Freunde schwere innere persönliche Noth: »Gott,« sagte er, »weiß, was für Anfechtungen mir dieser Handel bereitet hat; ich wäre schier vor Angst gestorben, ehe ich meine Sätze gegen ihn (Agricola) an's Licht gebracht habe.«

Noch kam auf Betreiben des Kurfürsten, der den Agricola schätzte, eine wiederholte Versöhnung zu Stande. Agricola demüthigte sich. Er ermächtigte sogar seinen großen Gegner, selbst einen Widerruf in seinem Namen zu verfassen, was dieser dann auf eine für ihn verletzende Weise in einem Sendschreiben an seinen früheren Collegen und Gegner in Eisleben, Kaspar Güttel, gethan hat. Dem Agricola wurde darauf eine Stelle im neu errichteten Consistorium anvertraut. Aber er konnte auch dann nicht lassen von neuen Aeußerungen, welche den alten Sinn zeigten. Luthers Vertrauen auf ihn war für immer dahin: er sprach mit Unwille, Schmerz und Spott von »Grikel (Agricola), dem falschen Manne«. Agricola selbst erhob endlich eine Anklage gegen Luther, der ihn ungerecht beleidigt habe, beim Kurfürsten. Dieser bezeugte ihm darüber sein Mißfallen; Luther gab gegen die Anklage eine scharfe Entgegnung; der Fürst leitete weitere Untersuchungen über die Sache des Klägers ein. Da ergriff dieser schließlich einen Ausweg, welcher durch einen Ruf nach Berlin sich ihm eröffnete: dorthin nämlich berief ihn als angesehenen Prediger der zur Reformation übergetretene Kurfürst Joachim II. Im August 1540 verließ er Wittenberg. Aus Berlin schickte er hieher, um seine Stellung dort haltbar zu machen, dann doch noch einen ganz genügenden Widerruf. Luthers Freundschaft mit ihm aber war für immer zerrissen.

Von anderer Seite her war damals sogar schon dem Melanchthon vorgeworfen worden, daß er vom Weg der rechten Lehre in gewissen Aussagen abweiche.

Wir wissen von früher her, wie ihn seine Aengstlichkeit über die Gefahren, welche die Losreißung vom großen katholischen Kirchenthum mit sich brachte, zu bedenklichen Conzessionen an dieses fortzureißen schien, wie aber gerade der ganz anders geartete Luther es war, der dennoch am Vertrauen zu ihm, dem Freund und Mitarbeiter, namentlich während des Augsburger Reichstages, festhielt. Und auch in den späteren Verhandlungen bemerkte man bei ihm wohl jene Neigung.

Jetzt machten sich auch in Melanchthons selbständigem wissenschaftlichen und praktischen Denken Eigenthümlichkeiten geltend, welche seine Lehrweise von der Luthers unterschieden. Er, der die evangelische Grundwahrheit vom rechtfertigenden und seligmachenden Glauben wie in dem Augsburger Bekenntniß und der Apologie desselben, so auch in der von ihm zuerst verfaßten evangelischen Lehrwissenschaft, seinen sogenannten Loci, fort und fort aus voller lebendiger Ueberzeugung vortrug, wollte doch mehr, als manche strenge Bekenner jener Lehre zugleich die ganze sittliche Besserung und die sittlichen Früchte, in denen der Glaube sich bewähren müsse, gewürdigt haben. Zugleich mit dem Gnadenwillen und Wirken Gottes ferner, wodurch allein für den Sünder die innere Umwandlung und das Glauben möglich werde, wollte er den Menschen auch auf seine eigene Willensentscheidung verwiesen haben, damit es nicht scheine, es sei Gottes Schuld, wenn der Ruf zum Heil bei einem erfolglos bleibe, und damit nicht hiedurch Manche in Leichtfertigkeit, Manche in Verzweiflung hineingerathen. Dazu kam eine unverkennbare Abweichung bei ihm auch in der Abendmahlslehre. Während nämlich gerade er in Augsburg 1530 die Zwinglianer scharf abgewiesen hatte, machte nun doch die geschichtliche Erkenntniß Eindruck auf ihn, daß wirklich, wie jene behaupteten, unter den Alten sogar ein Augustin noch nicht die reale Gegenwart des Leibes Christi in der Weise Luthers oder gar des Katholizismus gelehrt habe; und sein eigenes theologisches Denken führte ihn wenigstens dahin, sich mit unbestimmteren Sätzen über die Gemeinschaft des für uns gestorbenen Heilandes mit den Abendmahlsgästen ohne bestimmte Aussagen über das Stoffliche des Leibes zu begnügen: so in seinen Loci, obgleich er in jener Formel der Wittenberger Concordie 1536 mit Luther weiter ging.

Wegen jenes ersten Punktes nun hatte schon i. J. 1536 ein Pfarrer Cordatus, ein strenger Anhänger Luthers, Beschwerde gegen ihn erhoben. Am meisten fürchtete er selbst, und nicht ohne Grund, in diesen Beziehungen vom Theologen Amsdorf, der, wie er im alten vertrauten Verhältniß zu Luther stand, so auch besonders streng schon damals und vollends später nach Luthers Tod über lutherische Rechtgläubigkeit wachte. Aber Luther selbst wollte auch hiedurch zwischen sich und seinem Philippus keine Spaltung, ja keinen Mißklang aufkommen lassen. Hier bemühte er sich zu versöhnen und wußte auch zu schweigen, so wenig er vom strengen eigenen Standpunkt wich, oder die Eigenthümlichkeit des Freundes, wie sie auch schon in den neuen Ausgaben jenes Buches sich bemerklich machten, übersehen konnte.

Wir erinnern uns übrigens, wie Luther schon bei seiner Krankheit in Schmalkalden 1537 die Befürchtung über einen Zwiespalt nicht zurückgehalten hat, der nach seinem Tod in Wittenberg ausbrechen möchte.

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