Betrachtungen über die Liebe

Literatur und Liebe

Die Literatur lebt von der Liebe.

Und leider ist es eine betrübliche Tatsache, daß die Liebe allzu oft nach Romanen lebt. Die Literatur zwingt uns ihre Schablonen auf, liefert uns fertige Gedanken, wie Schnittmuster. Statt frei unseren Weg zu suchen, sind wir gezwungen, vorgezeichneten Bahnen zu folgen. Schon vor dem eigenen Erleben wissen wir genau, welche Gefühle diese oder jene Lage auslösen muß. Und unweigerlich rufen die Erlebnisse die mit ihnen verknüpften Gefühle hervor; ein betrogener Mann kann nur lächerlich sein – was durchaus töricht ist; eine Frau, die ihren ersten Geliebten erhört, schuldet der literarischen Tradition den Aufschrei, daß sie verloren sei, und das Beklagen des Loses ihrer Kinder.

Viele Jahre sind nötig, ehe wir zu uns selbst zurückfinden. Während langer Jahre sind wir bloß die Doppelgänger unserer Romanbrüder, die in uns handeln und sprechen. Wir unterscheiden kaum mehr, was wir selbst sind, und was von ihnen stammt.

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Die Literatur ergreift von uns Besitz, wenn wir noch ganz jung sind. Lange, ehe wir die Liebe kennen lernen, haben wir über sie gelesen und nachgedacht.

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Vielleicht ist der Einfluß der Romanhelden umso größer, je mehr sie der Phantasie des Autors verdanken und je weniger sie mit dem wahren Leben gemein haben.

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Als Zwanzigjähriger betrachtet man die Liebe mit den Augen eines Balzac. Ihr zauberhaften Heldinnen des Herrn und Königs der Romanliteratur, wir haben euch im Leben leidenschaftlich gesucht, und unsere Phantasie war so mächtig erregt, daß wir euch – oh Wunder! – manchmal auch wirklich fanden!

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Wir wehren uns gegen die Wahrheit.

An einer wahren Geschichte, die man uns erzählt, verletzt die Natürlichkeit der Einzelheiten unser Empfinden; wir möchten sie weglassen – und wir tun es auch wirklich, wenn wir diese Geschichte niederzuschreiben haben.

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In der Literatur wie im Leben ist die Vereinigung der Geschlechter der höchste Endzweck. Haben Mann und Frau einmal dieses Ziel erreicht, dann verlangt der Schöpfer nichts weiter von ihnen, und so wie er, betrachtet auch der Mann der Feder sein Werk, findet es gut und ruhet aus.

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In allzu viel Büchern ist das Wesen der Liebe bloß Schüchternheit, Furcht und Zweifel oder Vorwurf und Angst. Man muß daraus folgern, daß die Liebe bei den Verfassern solcher Bücher nur im Denken wurzelt. Doch die wahre Liebe lebt in Haut und Muskeln, in den Nerven; sie ist von Fleisch und fordert oft Blut.

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Wenn eine Frau geliebt wird, errät sie es in der Regel lange bevor man es ihr gesteht. Das einfachste Weib besitzt auf diesem Gebiete eine Art unfehlbarer Fühlhörner. Rascher und besser als der klügste Mann erkennt sie den Stand der Dinge.

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